Verfolgung und Widerstand von Sinti und Roma

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Romani Rose

Verfolgung und Widerstand von Sinti und Roma

Festvortrag des Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, am 19. Juli 2012 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich bei Ihnen beiden, lieber Prof. Steinbach und lieber Prof. Tuchel, sehr herzlich bedanken: nicht nur für die ehrenvolle Einladung, heute hier zu sprechen, sondern auch für fast zwanzig Jahre vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstands war und ist für uns ein ebenso wichtiger wie verlässlicher Partner.

Bevor ich gleich zum eigentlichen Thema meines heutigen Vortrags komme, erlauben Sie mir noch einige grundsätzliche Vorbemerkungen. Die historische Erfahrung des Holocaust, dem 500.000 Sinti und Roma zum Opfer fielen, hat die Identität unserer Minderheit nachhaltig geprägt. Innerhalb weniger Jahre wurden unsere Familien fast vollständig ausgelöscht. Es bedurfte eines jahrzehntelangen Kampfes, bis die deutsche Gesellschaft dieses Verbrechen wahrgenommen und offiziell anerkannt hat.

Mit dem nationalen Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, das in wenigen Monaten feierlich eröffnet wird, bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland nachdrücklich zu ihrer besonderen historischen Verantwortung für unsere Minderheit. Ich bin sicher, dass dieser von Dani Karavan geschaffene Erinnerungsort, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum Reichstagsgebäude gelegen ist, seine symbolische Kraft weit über die Grenzen Deutschlands hinaus entfalten wird.

Ziel unserer historischen Aufklärungsarbeit kann ganz gewiss nicht sein, den Enkeln und Urenkeln der Generation, aus der die Täter stammen, Schuld anzulasten oder Schuld zu übertragen. Es geht vielmehr um Wahrhaftigkeit und um die demokratischen Werte, die wir Deutsche uns nach 1945 in der oft schmerzlichen Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte erarbeitet haben.

Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere heutige freiheitliche Demokratie – auf die wir wahrlich stolz sein können – durch das Ringen mit unserer Geschichte und durch das Bewusstsein um ihre Abgründe gefestigt wird. Unser Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrrors – und die Erinnerung an die wenigen, die sich ihm aktiv widersetzen –, ist keineswegs rückwärts gewandt. Es ist auch ein Beitrag für unsere heutige Gesellschaft, in der Feigheit und Menschenverachtung keinen Platz mehr haben dürfen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerne bin ich dem Wunsch gefolgt, heute den Widerstand von Sinti und Roma im Nationalsozialismus in den Mittelpunkt meines Vortrags zu rücken – handelt es sich doch um ein bislang kaum beachtetes Kapitel in der Geschichte der NS-Diktatur.

Die unterschiedlichen Aspekte des Widerstands unserer Minderheit gegen den Nationalsozialismus sind untrennbar verbunden mit der Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma in den Jahren 1933 bis 1945. „Widerstand“ ist zunächst einmal zu begreifen als Reaktion der betroffenen Menschen auf die „Rassenpolitik“ der Nationalsozialisten, die den Sinti und Roma zunächst die bürgerlichen Rechte und schließlich das bloße Existenzrecht absprachen. Daher leiten sich auch die verschiedenen Formen des Widerstands von Sinti und Roma vom jeweiligen Charakter der Verfolgung ab. Den Anfang bildeten jene Formen der Verweigerung und des Protestes, mit denen sich Sinti und Roma gegen ihre systematische Ausgrenzung und Entrechtung wie auch gegen ihre „rassische“ Erfassung zur Wehr setzten.

Flucht und Untertauchen waren die wohl häufigsten Formen des Widerstands von Sinti und Roma angesichts ihrer drohenden Deportation in die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager.

In diesen Zusammenhang gehören auch die überlieferten Fälle geleisteter Fluchthilfe und die Unterstützung durch jene Menschen, die nicht tatenlos zusehen wollten, als man ihre Nachbarn verschleppte.

Selbst innerhalb der Konzentrations- und Vernichtungslager hat es vielfältigen Widerstand von Sinti und Roma gegeben. Höhepunkt war sicherlich der Aufstand im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944, der im Bewusstsein der Überlebenden einen wichtigen Stellenwert einnimmt.

Das verzweifelte Aufbäumen von Sinti und Roma gegen Vernichtungsaktionen ist auch im Zusammenhang mit den systematischen Massenerschießungen bezeugt.

Schließlich ist die Zusammenarbeit von Sinti und Roma mit den Befreiungsbewegungen in den nationalsozialistisch besetzten Staaten Europas ein bislang kaum bekanntes Kapitel des Widerstands.

„Widerstand“ war für viele unserer Menschen zunächst einmal gleichbedeutend mit dem Versuch des bloßen Überlebens. Darüber hinaus zielte er auf die Bewahrung jener Würde, die den Sinti und Roma von selbst ernannten Herrenmenschen abgesprochen worden war.

Den Großteil unseres heutigen Wissens zum Widerstand von Sinti und Roma verdanken wir der mündlich überlieferten Geschichte, den Aussagen der Überlebenden und den Erinnerungsberichten jener Menschen, die selbst aktiv am Widerstand beteiligt waren. Gerade ihre Zeugnisse machen bewusst, dass die Geschichte des Widerstands im Nationalsozialismus nicht zuletzt eine Geschichte persönlichen Mutes vieler einzelner Menschen ist.

Von Anfang an haben Sinti und Roma versucht, sich gegen ihre Entrechtung und Ausgrenzung zur Wehr zu setzen. Sie waren seit Generationen deutsche Staatsangehörige, viele hatten im Ersten Weltkrieg in der Kaiserlichen Armee gedient und hohe Auszeichnungen erhalten. Sie konnten nicht begreifen, dass sie von den Bürgerrechten ausgeschlossen sein sollten, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren. Manche versuchten auf offiziellem Wege, Protest gegen diskriminierende Bestimmungen einzulegen, teilweise sogar mit Hilfe von Rechtsanwälten. Dies hatte freilich nur in den ersten Jahren des Regimes Aussicht auf Erfolg, bis die Reste von Rechtsstaatlichkeit vollends ausgehöhlt waren.

Ein Beispiel für diesen Prozess zunehmender Entrechtung ist mein Großvater Anton Rose, der mit seinen Söhnen in Darmstadt ein Lichtspieltheater betrieb.

Bereits im August 1934 versuchte die Gaustelle Hessen-Nassau bei der Reichsfilmkammer den Ausschluss von Anton Rose zu erwirken, was einem Berufsverbot gleichgekommen wäre. Mein Großvater legte daraufhin Beschwerde ein und erhielt zunächst Recht. In dem Antwortschreiben des Präsidenten der Reichsfilmkammer an meinen Großvater heißt es: „Es ist nichts dafür beigebracht, dass er sein Gewerbe nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Das Einzige, was bisher zu seinem Nachteil vorgetragen worden ist, ist, dass er wie ein Zigeuner aussehe. Ein unvorteilhaftes Äußeres eines Volksgenossen kann nicht Veranlassung geben, ihm seinen Broterwerb zu entziehen.“ Der Erfolg des Protests von Anton Rose gegen das Berufsverbot war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits 1937 erfolgte die endgültige zwangsweise Einstellung des Familienunternehmens.

Eine wichtige Voraussetzung für die späteren Deportationen war die vollständige Erfassung der im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma durch Mitarbeiter der so genannten „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, die unter Leitung von Dr. Robert Ritter 1936 in Berlin eingerichtet wurde. Im Auftrag Himmlers erstellte Ritters Institut auf der Basis umfangreicher Genealogien nahezu 24.000 „Rassegutachten“ von Sinti und Roma, die als Planungsgrundlage für den Völkermord dienten. Kinder wurden ebenso wie Erwachsene von Kopf bis Fuß vermessen, sogar Blutproben wurden Ihnen abgenommen.

Vor allem jedoch wurden Sinti und Roma gezwungen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse preiszugeben. Selbst so genannte „Achtelzigeuner“ sollten auf diese Weise aufgespürt werden. Die Kirchen stellten bereitwillig alte Unterlagen wie Taufverzeichnisse oder Kirchenbücher zur Verfügung.

Trotz vielfältiger Drohungen durch die „Rasseforscher“, die auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckten, hat es Versuche gegeben, sich der „rassischen“ Erfassung zu verweigern. Ein Beispiel hierfür ist Anton Guttenberger, der mit seiner Familie in Schorndorf bei Stuttgart lebte. Die Familie Guttenberger hatte nicht nur ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn, sondern war auch in der evangelischen Landeskirche und in einer pietistischen Gemeinde aktiv. Am 2. April 1938 erschien in Schorndorf Dr. Adolf Würth, ein Mitarbeiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, der mit der Erfassung der Sinti und Roma in Süddeutschland betraut war. Wie ein Nazidokument belegt, wehrte sich Anton Guttenberger entschieden gegen die „rassische“ Erfassung seiner Familie. In einem Schreiben an den Schorndorfer Bürgermeister heißt es: „Guttenberger weigert sich, sich untersuchen zu lassen mit folgender Begründung: 'Er und seine Familie seien keine Zigeuner, auch wenn sie Zigeuner wären, ließen sie sich nicht rassenkundlich untersuchen, da es hierfür kein Gesetz gebe'. Guttenberger und seine Familie werden hier als Zigeuner angesehen.

Dr. Würth erklärt, dass seine weiteren Untersuchungen in Württemberg durch die Weigerung des Guttenberger in Frage gestellt seien, da auch andere Zigeuner in anderen Orten sich auf das Beispiel des Guttenberger berufen werden und sich nicht zur Untersuchung stellen werden.“

Die mutige Verweigerung Anton Guttenbergers war kein Einzelfall, er konnte die Deportation der Familie aber letztlich nicht verhindern. Als so genannte „Zigeunermischlinge“ klassifiziert, wurden Anton Guttenberger, seine Frau und seine Kinder nach Auschwitz deportiert, wo der Großteil der Familie umkam. Sein Vermögen und sein Wohnhaus wurden als „reichsfeindlich“ beschlagnahmt und zu Gunsten des Reiches eingezogen.

Einen wichtigen Einschnitt der gegen Sinti und Roma gerichteten „Rassenpolitik“ stellen die Nürnberger Gesetze dar. Ebenso wie jüdischen Menschen, so wurde auch den Sinti und Roma die Heirat mit „Ariern“ durch das so genannte „Blutschutzgesetz“ untersagt. Dass die betroffenen Menschen versuchten, diese diskriminierenden Bestimmungen zu umgehen, zeigt das Schicksal der Sintezza Christine Lehmann, die 1920 in Duisburg geboren wurde.

Im Mai 1940 deportierte man ihre Eltern und ihre sechs Geschwister in das besetzte Polen. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem mit einem Mann zusammen, der in der Naziterminologie als „deutschblütig“ galt. Die Eheschließung war ihnen auf Grund der „Nürnberger Rassengesetze“ untersagt worden. Dennoch wollten sie sich nicht trennen.

Am 1. Januar 1939 kam ihr erstes Kind Egon zur Welt. Ende 1941 wurden die Eltern erstmals vorgeladen. Man eröffnete ihnen, dass ihre Beziehung aus rassischen Gründen nicht mehr geduldet werde und drohte ihnen die KZ-Haft an. In der Folge wurden beide kontinuierlich überwacht, vor allem nachdem Christine Lehmann im März 1942 ein zweites Kind zur Welt gebracht hatte.

Am 20. Januar 1943 beantragte die Kriminalpolizei Duisburg in einem Schreiben an die Kriminalpolizeistelle Essen, die so genannte „polizeiliche Vorbeugungshaft“ gegen Christine Lehmann anzuordnen. Zur Begründung hieß es: „Nur so ist es möglich, die eheähnliche Gemeinschaft der benannten Personen zu unterbinden und die Reinerhaltung des deutschen Blutes zu gewährleisten.“ Um der Deportation zu entgehen, tauchte Christine Lehmann unter, wurde jedoch Anfang April 1943 entdeckt und später nach Auschwitz deportiert, wo sie dem Völkermord zum Opfer fiel.

Besonders tragisch ist das Schicksal ihrer beiden Kinder. Der fünfjährige Egon sowie der erst zweijährige Robert wurden am 7. März 1944 ebenfalls nach Auschwitz deportiert. Vergebens versuchte die so genannte „arische“ Großmutter in einem Schreiben an die Lagerleitung vom 28. April 1944 die Freilassung ihrer beiden Enkelkinder zu erreichen.

Der zuständige Beamte notierte: „Ich bitte, die Witwe mündlich zu verständigen, dass Einweisungen von zigeunerischen Personen in das Zigeunerlager Auschwitz auf Grund des Befehls des Reichsführers SS und Reichsministers des Innern erfolgten. Eine Zuführung der Zigeunerkinder Egon und Robert Lehmann aus dem Zigeunerlager zur Mutter des deutschblütigen Erzeugers wird vom Reichskriminalpolizeiamt abgelehnt. Entlassungen von zigeunerischen Personen aus dem Zigeunerlager Auschwitz erfolgen grundsätzlich nicht.“ Beide Kinder überlebten das Vernichtungslager nicht.

Neben Christine Lehmann und ihrem Partner sind viele Fälle von Beziehungen zwischen Angehörigen der Minderheit und der Mehrheit dokumentiert, die trotz der menschenverachtenden „Nürnberger Gesetze“ an ihrer Liebe festhielten und deshalb in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Weitere Formen der Verweigerung und des Protestes von Sinti und Roma gegen ihre Entrechtung sind in den überlieferten Akten erhalten. In diesen Zeugnissen spiegelt sich die systematische Ausgrenzung unserer Minderheit aus nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wider. Dazu gehörte auch ein allgemeines Schulverbot für Sinti- und Roma-Kinder.

Als die Schulverwaltung Hamburg im Januar 1939 den Ausschluss von Sinti-Kindern aus der Volksschule anordnete, nahmen dies ihre Eltern nicht so ohne Weiteres hin. In einer Aktennotiz der Behörde heißt es: „Es erscheint Herr D. und beantragt, seine Kinder wieder in die Schule aufzunehmen. Er erklärt, dass seine Kinder stets regelmäßig die Schule besuchten und sauber gehalten werden. Er muss es als unbillige Härte betrachten, wenn seine Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen werden.“

Auch in diesem Fall hatte der Protest nur kurzfristig Erfolg. Im Mai 1942 wurden die Hamburger Sinti-Kinder endgültig vom Unterricht ausgeschlossen. Man zwang die Eltern sogar, ein Dokument zu unterschreiben, in dem es heißt: „Die Eltern der nachgenannten Zigeunerkinder haben bei der Schulverwaltung beantragt, ihre Kinder aus der Schule zu entlassen, weil sie den Juden gleichgestellt und hier nicht mehr schulpflichtig seien.

Die Schulverwaltung beabsichtigt nunmehr, die Zigeunerkinder auszuschulen, weil sie für die Schule nicht mehr tragbar sind und deutschblütige Kinder in Gefahr bringen.“ Wenige Monate später erfolgte die familienweise Deportation der Hamburger Sinti und Roma nach Auschwitz.

Bei den Massenverhaftungen der Jahre 1938 und 1939 wurden auch Hunderte von Sinti und Roma gemeinsam mit jüdischen Menschen in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert, wo sie für die neu gegründeten Unternehmen der SS Zwangsarbeit leisten mussten. Unter den verschleppten Sinti und Roma befanden sich auch zahlreiche Kinder und Jugendliche. Oftmals versuchten Sinti und Roma, durch Eingaben oder persönliche Intervention die Freilassung deportierter Familienangehöriger zu erreichen. So sah sich das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin veranlasst, Ende Juni 1938 per Fernschreiben allen Leitstellen mitzuteilen: „Es hat sich herausgestellt, dass infolge der Festnahmen männlicher Zigeuner deren Frauen und Anhang sich nach Berlin begeben haben. Ich bitte zu veranlassen, dass der Zuzug nach Berlin unterbleibt, widrigenfalls ich mich genötigt sehe, ebenfalls gegen diese Personen vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen.“

Grundlegend für den weiteren Verfolgungsprozess war der Erlass Himmlers vom 8. Dezember 1938. Darin ist explizit von der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede. Diese sei „aus dem Wesen der Rasse heraus in Angriff zu nehmen“.

Bereits im September 1939, also unmittelbar nach der Entfesslung des Zweiten Weltkriegs, beschloss eine Konferenz der SS-Führung unter Vorsitz von Heydrich, alle Sinti und Roma aus dem Reichsgebiet gemeinsam mit den Juden in das besetzte Polen zu deportieren.

Der Vorbereitung der geplanten Deportationen diente auch Himmlers Erlass vom Oktober 1939, der allen Sinti und Roma unter Androhung von KZ-Haft verbot, ihren Wohnort zu verlassen. Dennoch haben Sinti und Roma immer wieder gegen diese Auflage verstoßen, etwa um kranke Verwandte an anderen Orten zu besuchen oder an der Beerdigung verstorbener Familienangehöriger teilzunehmen. Viele wurden daraufhin in Konzentrationslager verschleppt.

Die erste familienweise Deportation von etwa 2.500 Sinti und Roma in das neu geschaffene „Generalgouvernement Polen“ fand im Mai 1940 statt. Einige Sinti und Roma aus Süddeutschland konnten der Deportation durch die Flucht nach Frankreich entgehen.

Die ins besetzte Polen verschleppten Männer, Frauen und Kinder mussten in Lagern und Ghettos Zwangsarbeit leisten. Die meisten erlagen den unmenschlichen Lebensbedingungen, dem Hunger und der Kälte, oder sie wurden erschossen. Manchen gelang es, zu fliehen und jahrelang im Verborgenen zu leben.

Die zurückgebliebenen Familienmitglieder versuchten häufig, Nachforschungen über die ins besetzte Polen deportierten Familienangehörigen anzustellen und riskierten sogar, unmittelbar beim Reichskriminalpolizeiamt in Berlin vorzusprechen, in der Hoffnung, dort etwas für die deportierten Verwandten zu erreichen.

Aus diesem Grund verabschiedete der Chef der Sicherheitspolizei und des SD am 1. April 1942 einen Erlass, in dem es heißt: „In letzter Zeit häufen sich die Fälle, dass zigeunerische Personen bei den Polizeibehörden ihres Aufenthaltsortes die Ausfertigung von Urlaubsscheinen erwirken, um in Berlin beim Reichskriminalpolizeiamt und bei anderen Stellen Gesuche persönlich zu vertreten und die Abänderung von Entscheidungen zu erreichen.“ Wie es weiter heißt, seien Sinti und Roma Reisen nach Berlin daher unter Androhung von KZ-Haft ausnahmslos zu verbieten.

Anfangs wandten sich Sinti und Roma sogar mit Briefen direkt an die Kommandanten der Konzentrationslager oder gar an Himmler persönlich, um sich für deportierte Familienangehörige einzusetzen. Oftmals sind diese Briefe erschütternde Zeugnisse der Hilflosigkeit angesichts des übermächtigen Vernichtungsapparats.

So heißt es in einem Brief, der an Himmler persönlich gerichtet war: „Ich bin ein blinder Mann und sie haben mir 1940 drei Töchter und zwei Söhne nach Polen gebracht und ich weiß bis heute noch keinen Grund. Die ältere Tochter Leopoldine hat einen Mann, der im Felde steht und zwei Kinder. Sie war im Jahr 1940 schwanger und ist in Polen fortgelaufen und hat in Duisburg das Kind entbunden. Heute am 22. haben sie das Mädchen verhaftet, sie soll in ein Konzentrationslager gebracht werden. Sie ist sehr schwach und hat ein Kind an der Brust. Ich stehe ganz allein als blinder Mann, geben sie bitte die Tochter frei. Auch haben sie mir ein Kind fort getan, von 14 Jahren, auch möchte ich gerne dieses Kind bei mir haben. Es ist doch schwer, fünf Kinder zu verlieren. Ich soll angeblich Zigeunermischling sein, aber ich habe bis zu meinem Urgroßvater die Papiere als deutscher Mann. Ich möchte bitten, mir doch meinen einzigen Wunsch zu erfüllen, und meine Tochter Leopoldine, die sich in Duisburg in Haft befindet, freizugeben, da sie nichts begangen hat und nur von Polen fortgelaufen ist zu ihrem blinden Vater.“

Ein besonders beeindruckendes Zeugnis des Protestes stammt aus dem österreichischen Burgenland. Nach dem so genannten Anschluss Österreichs waren die dort lebenden Sinti und Roma den gleichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wie im so genannten „Altreich“.

Eine der treibenden Kräfte der gegen Sinti und Roma gerichteten „Rassenpolitik“ war der Landeshauptmann und erste Gauleiter des Burgenlandes Tobias Portschy.

Franz Horvath und andere Sinti und Roma aus Redlschlag, einem Ort im Bezirk Unterwarth, verfassten am 12. Mai 1938 einen Beschwerdebrief an die Reichsregierung. Darin heißt es: „Viele unserer Männer waren im Weltkrieg und kämpften für das Vaterland so gut wie andere. Doch das hat Dr. Portschy nicht beachtet. Dr. Portschy hat gegen uns sämtliche bürgerliche Rechte eingestellt. Wir sind römisch-katholischer Abstammung von jeher gewesen und so habe ich mich gezwungen gesehen, für uns alle bei der hohen Reichsregierung Beschwerde zu erstatten.“

Wenige Wochen später wurde der 63-jährige Franz Horvath als so genannter „Beschwerdeführer“ verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Den anderen Unterzeichnern des Briefes gelang es, rechtzeitig zu fliehen.

Damit möchte ich überleiten zum nächsten Themenkomplex, der unter der Überschrift „Flucht und Untertauchen“ steht. Vielfach ist dokumentiert, dass Sinti und Roma untertauchten und sich versteckt hielten, um der drohenden Deportation zu entgehen.

Nicht selten wurden sie dabei von Nachbarn, Freunden oder Verwandten, die nicht der Minderheit angehörten, unterstützt. Bekannt geworden ist die Geschichte des Sinto-Jungen „Muscha“, der bei Pflegeeltern in Berlin aufgewachsen war. Im November 1944 holte die Gestapo den Zwölfjährigen während des Unterrichtes ab, um ihn zur Zwangssterilisation ins Krankenhaus zu bringen. Nach der Operation holten befreundete Berliner Sozialdemokraten den Jungen heimlich aus der Klinik, weil sie befürchteten, er werde noch kurz vor Kriegsende deportiert. Sie versteckten „Muscha“ in einer Gartenlaube, wo er bis zur Befreiung durch die Amerikaner fast fünf Monate untergetaucht lebte.

Wie dieses Beispiel zeigt, wäre das Überleben vieler Sinti und Roma nicht möglich gewesen, ohne das mutige Eintreten von Menschen, die sich weigerten, die Augen zu verschließen vor dem, was ihren Mitbürgern widerfuhr.

Ein besonderes Zeugnis der Solidarität ist für das besetzte Polen dokumentiert. Dort versteckte eine Angehörige der polnischen Roma-Minderheit, die ihre Identität vor den deutschen Besatzern verbergen konnte, mehrere polnische Juden und konnte sie so vor der Vernichtung retten. Vor einigen Jahren wurde diese mutige Frau mit einem der höchsten polnischen Orden ausgezeichnet.

Erinnern möchte ich an dieser Stelle auch an die wenigen Beamten, die die Ausführung der Deportationsbefehle aus Berlin bewusst verzögerten bzw. umgingen oder die betroffenen Sinti- und Roma-Familien rechtzeitig warnten, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.

Paul Kreber, der während des Krieges bei der Kriminalpolizei Wuppertal arbeitete, strich eine befreundete Sinti-Familie nicht nur heimlich von der Deportationsliste, sondern versteckte sie später sogar unter Einsatz seines Lebens in seinem Haus. 1988, ein Jahr vor seinem Tod, wurde Paul Kreber auf Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma von dem nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor für seinen mutigen Einsatz mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

Ein weiteres Beispiel persönlichen Mutes ist Gotthilf Fritz, der in der Nähe von Schorndorf ein Heim für jugendliche Mädchen leitete. Darunter war auch ein 16-jähriges Sinti-Mädchen namens Berta Georges, deren Eltern und neun Geschwister bereits zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert worden waren. Als die nationalsozialistischen Behörden auch Berta Georges aus dem Heim abholen wollten, konnte Gotthilf Fritz, ein überzeugter Christ, dies durch seinen furchtlosen Einsatz verhindern. Ein weiteres Sinti-Mädchen namens Thea Reinhard sowie ein jüdisches Mädchen überlebten den Krieg im Heim mit falscher Identität.

Dem mutigen Eintreten einzelner Amtsträger steht das moralische Versagen der Kirchen als Ganzes gegenüber.

Wie Dokumente belegen, hatten insbesondere die katholischen Bischöfe detaillierte Kenntnisse über die systematische Deportation der Sinti- und Roma-Familien nach Auschwitz-Birkenau. Verzweifelte Sinti sandten sogar anonyme Bittgesuche an Kardinal Bertram, den damaligen Sprecher der katholischen Bischofskonferenz, und an weitere Bischöfe, in denen sie ihre Kirche um Schutz und Beistand angesichts der drohenden Vernichtung anflehten.

Eine ganz unmittelbare Verantwortung hatte die katholische Kirche für die Sinti-Kinder, die sich in katholischen Heimen befanden. Sie waren dorthin eingewiesen worden, nachdem man ihre Eltern verhaftet hatte. Nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber wurden auch die in Fürsorgeeinrichtungen untergebrachten Sinti-Kinder als „Fremdrassige“ zentral erfasst und im Frühjahr 1943 zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert.

Den Bischöfen blieb der Abtransport der Heimkinder aus ihren Diözesen nicht verborgen. Am 6. März 1943 schrieb der Hildesheimer Bischof Joseph Machens an Kardinal Bertram:

„In den letzten Tagen sind an vier Stellen meiner Diözese – es können mehr sein – katholische Zigeunerkinder aus Heimen und Pflegestellen abgeholt worden durch die Polizei. Man befürchtet, dass ihr Leben in Gefahr ist. Ich frage mich seit Tagen beklommenen Herzens, was kann geschehen, um unsere Glaubensbrüder zu schützen und zugleich vor unseren Gläubigen deutlich genug herauszustellen, dass wir von solchen Maßnahmen abrücken, die nicht nur Gottes- und Menschenrechte missachten, sondern das moralische Bewusstsein im Volke untergraben und Deutschlands Namen schänden.“

Die Regierung, so Bischof Machens weiter, „muss wissen, dass die Bischöfe genötigt sind, laut zu ihren Gläubigen zu sprechen, wenn die Maßnahmen fortgesetzt werden, weil sie diese Belehrung ihrer Herde schuldig sind und von Gott zu Schützern der Bedrängten bestellt sind.“

Doch trotz einzelner mutiger Stimme wie jener von Bischof Machens konnte sich die Kirchenführung nicht zu einem öffentlichen Protest angesichts der gegen Sinti und Roma gerichteten Vernichtungsmaßnahmen durchringen. Der verzweifelte Ruf unserer Menschen nach Schutz und Beistand ihrer Kirche angesichts einer Barbarei von ungeheuerem Ausmaß blieb unerhört.

Ein soweit wir wissen einmaliger Vorgang ereignete sich hingegen bei der Deportation der Sinti und Roma aus Hamm. Am frühen Morgen des 9. März 1943 umstellten Beamte mit Maschinengewehren und Hunden das dortige Sammellager, in dem Sinti und Roma bereits seit Ende 1941 inhaftiert worden waren. Durch den Lärm aufgeweckt, begannen die Nachbarn der zur Deportation bestimmten Sinti und Roma eine heftige Auseinandersetzung mit den Beamten; es kam nach Augenzeugenberichten sogar zu einem Handgemenge.

Natürlich konnten die protestierenden Menschen die Deportation ihrer Freunde letztlich nicht verhindern. Sie nahmen jedoch Abschied von den Sinti-Familien auf den Lastwagen und brachten so ihre Verbundenheit zum Ausdruck.

Neben vielfältiger Unterstützung für die verfolgten Sinti und Roma hat es jedoch auch zahlreiche Fälle von Denunziation gegeben. Eines der Opfer war die Karlsruher Sintezza Mathilde Kling. Ihre persönliche Geschichte ist wie kaum eine andere eine Geschichte des Widerstandes, eines verzweifelten Aufbegehrens gegen die übermächtige Maschinerie der Vernichtung.

Mathilde Kling arbeitete bei der Reichspost. Ihre Eltern und ihre Schwester gehörten zu jenen Sinti und Roma, die bereits im Mai 1940 in das besetzte Polen deportiert wurden, nachdem man ihren Vater, einen hoch angesehenen Musiker, schon zuvor aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen hatte. In Polen gelang den Eltern und der Schwester von Mathilde Kling zunächst die Flucht aus einem Ghetto, doch schließlich wurden sie verhaftet. Der Vater kam nach Dachau, die Mutter und die Tochter Johanna nach Ravensbrück.

Mathilde Kling versuchte mit allen Mitteln, ihre Eltern und ihre Schwester aus dem KZ freizukämpfen. Sie nahm sich einen Anwalt und fuhr sogar nach Berlin zum Reichskriminalpolizeiamt, um persönlich zu intervenieren, natürlich ohne jeden Erfolg. Ihre Proteste hatten jedoch zur Folge, dass sie als „Zigeunermischling“ aus dem Postdienst entlassen wurde.

Kurz darauf musste sie erfahren, dass ihre Eltern in Konzentrationslagern ermordet worden waren. Nach ihrer zwangsweisen Entlassung aus dem Postdienst fand sie zunächst eine Arbeit als Bürogehilfin. Um ihre minderjährigen Geschwister zu versorgen, half sie außerdem zwei Frauen im Haushalt.

Von einer dieser Frauen wurde sie schließlich denunziert: Mathilde Kling habe sich nicht nur abwertend über Nazi-Größen geäußert, sondern darüber hinaus damit gedroht, den Polizisten, der die Deportation ihrer Eltern zu verantworten habe, nach dem Krieg zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Fall wurde an die Geheime Staatspolizei weitergegeben, es kam zu einer Anklage beim Sondergericht Mannheim. In dem Schlussbericht der Gestapo an den Oberstaatsanwalt des Sondergerichts heißt es über Mathilde Kling: „Von der Reichspost wird ihr ein gutes Zeugnis ausgestellt. Sie wurde allein auf Grund ihrer Abstammung entlassen.“

In dem Verfahren räumte Mathilde Kling unumwunden ein, dass Sie auf den Polizeibeamten, der die Deportation ihrer Eltern veranlasst habe, sehr zornig gewesen sei und daher geäußert habe, sie werde sich nach dem Krieg an ihm rächen. Außerdem wurde Mathilde Kling vorgeworfen, sie habe „in fortgesetzter Tat gehässige, hetzerische und von niedriger Gesinnung zeugende, böswillige Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP gemacht, die geeignet waren, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben.“

Trotz des mutigen Eintretens ihres Verteidigers verurteilte das Mannheimer Sondergericht Mathilde Kling wegen eines so genannten „Heimtückevergehens“ zu einem Jahr Gefängnis. Am 27. März 1943 wurde sie auf Drängen jenes Polizeibeamten, dem ihr Protest gegolten hatte, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie ein halbes Jahr später ermordet wurde. Auch ihre in Auschwitz zur Welt gebrachte Tochter überlebte das Vernichtungslager nur drei Monate. Der verantwortliche Beamte in Karlsruhe wurde für seine Beteiligung am Völkermord niemals zur Rechenschaft gezogen.

Damit komme ich zum nächsten Abschnitt, der sich um das Thema Flucht dreht. Einen besonderen Stellenwert nehmen die Fälle ein, in denen es Sinti und Roma gelang, aus einem der streng bewachten Konzentrationslager bzw. Ghettos zu entkommen. Bezeugt ist etwa die Flucht einer Gruppe von Roma aus dem Warschauer Getto im Jahr 1942, nachdem sie ihre Bewacher entwaffnen konnten.

Selbst aus dem Lagerabschnitt B II e in Auschwitz-Birkenau, von der SS „Zigeunerlager“ genannt, gab es trotz der grausamen Strafen immer wieder Fluchtversuche.

Das „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau war das Zentrum des bürokratisch organisierten Völkermords an unserer Minderheit im nationalsozialistisch besetzten Europa.

Nahezu 23.000 Sinti und Roma aus elf Ländern wurden nach dem Himmler-Befehl vom 16. Dezember 1942 hierher deportiert und größtenteils ermordet. Angesichts strengster Bewachung durch die SS erschienen Fluchtversuche so gut wie aussichtslos. Ergriffene Häftlinge, die einen Fluchtversuch gewagt hatten, wurden vor den Augen aller misshandelt und hingerichtet. Überlebende berichten außerdem, dass die Leichen derjenigen Häftlinge, die während der Flucht erschossen wurden, während des Appells herumgetragen oder regelrecht ausgestellt wurden.

Trotz dieser bewussten Abschreckung sind 42 flüchtige Sinti und Roma in Auschwitz nachgewiesen. Die Jüngsten waren gerade 14 und 15 Jahre alt. 35 von ihnen wurden auf der Flucht oder nachträglich erschossen, nur von zwei Fluchtversuchen wissen wir, dass sie erfolgreich waren.

Aus den Konzentrationslagern im Reichsgebiet sind nur wenige Fluchtversuche von Sinti und Roma bekannt. So berichtet der ehemalige Buchenwald-Häftling Eugen Kogon von einem gescheiterten Fluchtversuch eines Sinto im Jahr 1938, der nach schweren Folterungen durch eine Giftinjektion ermordet wurde. Auch für Mauthausen und Dachau sind Fluchtversuche von Sinti und Roma überliefert.

Ich möchte im Folgenden eine erfolgreiche Flucht aus dem Konzentrationslager Neckarelz – einem Außenlager des KZ Natzweiler – näher darstellen, die insofern eine Besonderheit darstellt, als sie von außen sorgfältig geplant und vorbereitet wurde. Es handelt sich um meinen Vater Oskar Rose und seinen Bruder Vinzenz Rose.

Von einem befreundeten Rechtsanwalt rechtzeitig gewarnt, konnten sich die Brüder Rose und ihre Familien durch Flucht der Deportation entziehen. Auf ihrer Flucht vor den Nazis durchquerten sie halb Europa.

Mit Hilfe gefälschter Papiere gelang es ihnen zunächst, unerkannt zu bleiben. Nach vielen Monaten der Flucht wurden die meisten Familienangehörigen in der Nähe von Schwerin verhaftet und nach Auschwitz deportiert.

Vinzenz Rose kam vor der „Auflösung“ des „Zigeunerlagers“ Auschwitz-Birkenau auf einen Transport in das KZ Natzweiler, von dort in das Außenkommando Neckarelz im Neckartal, wo in unterirdischen Anlagen Rüstungsgüter produziert wurden.

Seinem Bruder Oskar Rose war es als einem der wenigen Familienmitglieder gelungen, der Verhaftung zu entgehen. Er kehrte zurück nach Heidelberg, wo er sich zeitweilig bei Bekannten in einem Försterhaus hinter einer Schrankwand versteckt hielt. Schon zuvor hatte er versucht, mit Hilfe seiner falschen Papiere Lebensmittelmarken zu bekommen, um deportierte Familienangehörige mit Paketen zu versorgen. Als er erfuhr, dass sein Bruder in Neckarelz inhaftiert war, brachte er einen zwangsverpflichteten französischen Fahrer, der mit seinem Lastwagen Kriegsmaterial in den Stollen transportierte, dazu, Vinzenz Rose zur Flucht zu verhelfen. Im Inneren des Stollens versteckte dieser sich unter dem Fahrersitz und konnte so aus dem streng bewachten Lager unbemerkt entkommen.

In Heidelberg hatte Oskar Rose alles zur weiteren Flucht vorbereitet. Mit Hilfe ihrer falschen Papiere gelangten sie bis nach Bayern. In einem kleinen Dorf konnten sie bis zur Befreiung durch die amerikanischen Truppen ihre falsche Identität aufrechterhalten.

Ich komme nun zu einem weiteren Themenkomplex: dem Widerstand von Sinti und Roma innerhalb der Konzentrationslager und ihrem Aufbegehren bei Vernichtungsaktionen.

Formen des Widerstandes und der Selbstbehauptung von Seiten der Häftlingsgemeinschaft sind in der Erinnerungsliteratur überlebender Häftlinge vielfach beschrieben worden. Dies betrifft insbesondere die vielfältigen Formen der Solidarität und der Selbsthilfe unter den Häftlingen – ungeachtet der tiefen Gräben innerhalb der Häftlingshierarchie, die die SS bewusst für ihre Zwecke ausnutzte. So genannte Funktionshäftlinge wie Blockälteste konnten kranke oder geschwächte Häftlinge notfalls schützen und mit zusätzlichem Essen versorgen. So berichtet etwa die Auschwitz-Überlebende Else Schmidt, die als achtjähriges Kind ganz allein in das „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, dass sie nur überleben konnte, weil sich eine Blockälteste ihrer angenommen hatte.

Von vielen weiteren überlebenden Sinti und Roma wissen wir, wie wichtig gerade der Familienzusammenhalt in Auschwitz-Birkenau war. Häftlinge gaben einen Teil ihrer Ration, die ohnehin kaum zum Überleben reichte, an kranke Familienangehörige weiter, da jeder wusste, dass Arbeitsunfähigkeit den sicheren Tod bedeutete.

Es gab jedoch innerhalb der Konzentrationslager auch Formen der offenen Auflehnung. Eine aus politischen Gründen im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftierte Französin, Germaine Tillion, berichtet in ihren Erinnerungen, dass sie einmal zu einer Lagerstrafe von 25 Schlägen verurteilt wurde. Die Sinti-Frauen, die von der SS bestimmt wurden, diese Strafe an ihr auszuführen, weigerten sich jedoch, dies zu tun. Zweifellos bedurfte es in solch einer Situation einer großen inneren Stärke, um sich der grenzenlosen Willkür der SS zu verweigern.

Höhepunkt des Widerstands von Sinti und Roma gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik war der Aufstand in Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944, als die SS erstmals versuchte, das so genannte „Zigeunerlager“ zu „liquidieren“, d. h. alle Insassen in den Gaskammern zu ermorden.

Träger dieser Widerstandsaktion waren die ehemaligen Wehrmachtssoldaten aus den Reihen unserer Minderheit, die zum Teil mehrjährige Fronterfahrung hatten.

Willi Ernst, der an der Aktion beteiligt war, hat neben anderen Augenzeugen die Vorgänge vom 16. Mai später geschildert: „Unser Blockältester hat uns im Mai 1944 gewarnt, dass wir vergast werden sollten. Daraufhin haben sich alle, so gut es irgend ging, bewaffnet. Ich selbst besaß ein Messer, andere hatten Werkzeuge, Knüppel. Wir wollten nicht kampflos in die Gaskammer gehen. Als die Blocksperre kam, haben wir uns verbarrikadiert. Die SS hat offenbar bemerkt, dass wir entschlossen waren, Widerstand zu leisten und so hat sie die ursprünglich geplante Vernichtungsaktion aufgegeben.“

Bestätigt werden diese Aussagen der unmittelbar Beteiligten von dem polnischen Auschwitz-Häftling Tadeusz Joachimowski, einem politischen Gefangenen, der als Funktionshäftling auf der so genannten Schreibstube die Vorgänge von außen genau beobachten konnte.

Joachimowski war es auch, der nach dem Krieg als Erster auf diese Widerstandsaktion aufmerksam gemacht hat. Sein Bericht wurde auch in das bekannte „Kalendarium von Auschwitz“ aufgenommen. Darin heißt es:

„Als der Tag der Vergasung kam, setzten sich die Zigeuner zur Wehr, indem sie sagten, dass sie sich so ohne Weiteres nicht aus den Blocks heraustreiben lassen werden, sie werden sich wehren, und bei dieser Gelegenheit werden auch verschiedene von den SS-Männern daran glauben müssen.“

Die SS, so Joachimowski weiter, traf der Widerstand der Sinti und Roma so unvorbereitet, dass sie die Vernichtungsaktion schließlich abbrach. Natürlich wäre es der SS möglich gewesen, den Widerstand mit Waffengewalt zu brechen, aber laut Joachimowski befürchte die SS, eigene Verluste zu erleiden – schließlich wusste man, dass sich unter den Sinti und Roma zahlreiche ehemaligen Soldaten befanden. Vielleicht spielte dabei auch der späte Zeitpunkt eine Rolle und die Befürchtung, dass der Funke des Widerstands auf andere Lagerabschnitte überspringen könnte.

In der Folgezeit begann die Lagerleitung damit, alle „arbeitsfähigen“ Menschen aus dem „Zigeunerlager“ zu selektieren, um sie zur „Vernichtung durch Arbeit“ in die Konzentrationslager im Reichsgebiet zu deportieren.

Übrig blieben etwa 2.900 Sinti und Roma – vor allem alte und kranke Menschen sowie Kinder – die bei der endgültigen Auflösung des „Zigeunerlagers“ in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die Gaskammern getrieben wurden.

Obgleich diesmal jeder Widerstand aussichtslos war, leisteten die Menschen erneut verzweifelte Gegenwehr. Ein jüdischer Augenzeuge mit Namen Diamanski sagte im Auschwitz-Prozeß: „Die Zigeuner schrien die ganze Nacht... Sie haben bis zuletzt um ihr Leben gekämpft.“

Selbst der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss, erwähnt in seinen schriftlichen Aufzeichnungen den verzweifelten Widerstand der Sinti und Roma in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944. Er schreibt: „Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen. Ich selbst habe es nicht gesehen, doch Schwarzhuber sagte mir, dass keine Judenvernichtung bisher so schwierig gewesen sei.“

Neben dem industriellen Morden in den Vernichtungslagern wurden Abertausende Sinti und Roma von speziellen Mordkommandos erschossen. So durchkämmten die so genannten Einsatzgruppen der SS die rückwärtigen Gebiete der besetzten Sowjetunion systematisch nach Juden oder Sinti und Roma, die man an Ort und Stelle erschoss.

Ganze Viertel oder Kolchosen, in den Roma lebten, wurden auf diese Weise ausgelöscht. Die Opfer wurden in namenlosen Massengräbern verscharrt.

Ein wichtiger Zeuge dieser systematischen Vernichtungspolitik im Rücken der Front ist Philipp Freiherr von Boeselager, der im Widerstand des 20. Juli eine wichtige Rolle spielte. Ich habe mit Freiherr von Boeselager etwa ein Jahr vor seinem Tod ein längeres Gespräch geführt, das filmisch aufgezeichnet wurde.

Boeselager schildert darin ein Treffen von Feldmarschall von Kluge, dessen persönlicher Ordonnanzoffizier er damals war, und dem höheren SS- und Polizeiführer Russland-Mitte, Bach-Zelewski, einem der Hauptverantwortlichen der Verbrechen an der Zivilbevölkerung.

Kluge fragte Bach-Zelewski nach einer Meldung, in der es hieß, „Zigeuner“ seien sonderbehandelt worden. Darauf entgegnete Bach-Zelewski: „Alle Juden und Zigeuner, die wir packen können, erschießen wir“. Wie Boeselager sich erinnert, kam es darauf hin zu einem heftigen Disput, an dessen Ende Bach-Zelewski den Feldmarschall regelrecht bedrohte.

Der Protest von Kluges gegen die Vernichtungspraxis in der besetzten Sowjetunion hatte keinerlei Wirkung.

Die jüngst erfolgte Auswertung der russischen Originalquellen offenbart das ganze Ausmaß des Mordens gegenüber den sowjetischen Roma: Männer, Frauen und Kinder wurden ausnahmslos erschossen. Bis heute werden neue Massengräber entdeckt.

Auch bei solchen Vernichtungsaktionen haben sich Sinti und Roma im Angesicht des Todes ihren Peinigern widersetzt. Vom verzweifelten Widerstand im Rahmen einer Erschießungsaktion berichtet ein Überlebender des Vernichtungslagers Treblinka, der ein Massaker an Sinti und Roma als Augenzeuge miterlebt hat.

Er schildert zunächst, wie die SS die Frauen und Kinder von den Männern trennte, dann die Männer mit Maschinenpistolen in einer Grube erschoss, um anschließend auch die Frauen und Kinder bestialisch zu ermorden. In seiner Zeugenaussage heißt es weiter: „In Gegenwart ihrer Mütter ergriffen die SS-Männer die Säuglinge und töteten sie, indem sie sie mit dem Kopf gegen einen Baum schlugen. Mit Peitschen und Stöcken prügelten sie auf die Frauen ein, die wie rasend waren von dem Anblick. Sie warfen sich auf die Soldaten, zerrten an ihnen, um ihnen die Säuglinge zu entreißen, die man ihnen fortgenommen hatte. Erst die dichten Schusssalven der SS und der Soldaten, die die Menge umzingelten, setzen diesen Szenen ein Ende. Die Leichen der Frauen und Kinder räumten herbeigeschaffte Häftlinge weg, die sie in die zuvor längst vorbereiteten Gruben im Wald trugen.“

Nach diesem erschütternden Zeugnis komme ich zum letzten Punkt: der Zusammenarbeit von Sinti und Roma mit den Befreiungsbewegungen im nationalsozialistisch besetzten Europa. Auch hier gilt, dass unser Wissen noch immer bruchstückhaft ist. Die wenigen Quellen, die Zeugnis ablegen von der Beteiligung von Sinti und Roma am bewaffneten Widerstand, stammen zumeist aus Berichten ehemaliger Widerstandskämpfer.

Vor allem für Frankreich und Südosteuropa ist die Zusammenarbeit mit Widerstandsgruppen und Untergrundorganisationen dokumentiert. So kooperierten Sinti und Roma in Frankreich eng mit der Resistance.

Unter anderem halfen sie abgeschossenen Piloten oder geflohenen Kriegsgefangenen nach England zu entkommen und bauten hierfür ein regelrechtes Fluchtwegenetz auf. Zeitweilig lebten Sinti und Roma mit bewaffneten Widerstandsgruppen in den Wäldern; viele wurden von der Gestapo verhaftet und ermordet.

Auch einige Offiziere der französischen Widerstandsbewegung waren Angehörige unserer Minderheit. Sie führten während der Landung der Alliierten in der Normandie flankierende Partisanenangriffe auf die deutschen Besatzungstruppen durch und wurden dafür später mit hohen Auszeichnungen versehen.

Ein Zentrum des bewaffneten Widerstands von Sinti und Roma war das ehemalige Jugoslawien und seine angrenzenden Gebiete. Angesichts der systematischen Vernichtungspolitik gegenüber Sinti und Roma im besetzten Serbien schlossen sich viele Sinti und Roma der „Nationalen Befreiungsfront“ unter Tito an. Dort spielten sie eine wichtige Rolle bei der Befreiung ihres Landes, wie auch viele Auszeichnungen an Roma nach Kriegsende bezeugen.

In Polen, wo Hunderte polnischer Roma sich den Partisanen in den Wäldern anschlossen, und in der Sowjetunion waren Sinti und Roma ebenso am Widerstand gegen die deutsche Besatzung und ihre mörderische Ausrottungspolitik beteiligt.

Daneben dienten viele Roma als reguläre Soldaten in der Roten Armee, darunter hohe Offiziere. Auch Tausende englischer Roma beteiligten sich freiwillig an der Zivilverteidigung ihres Landes oder dienten als Soldaten in der britischen Armee.

In den Reihen der alliierten Truppen, die Europa unter großen Opfern von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft befreit haben, kämpften und starben auch zahlreiche Sinti und Roma.

Meine sehr geehrten Damen und Herrn, ich habe in meinem Vortrag versucht, die Bandbreite des Widerstands von Sinti und Roma unter der Nazi-Dikatur deutlich zu machen – ein Widerstand, der von Verweigerung und Selbstbehauptung bis zur bewaffneten Auflehnung reichte. Es war die Auflehnung gegen ein mörderisches Schicksal, das selbst ernannte Herrenmenschen unserer Minderheit als Ganzes zugedacht hatten.

Selbst in ausweglosen Situationen haben Sinti und Roma versucht, ihren Mördern zu trotzen. Sie gingen nicht „wie die Schafe zur Schlachtbank“, um den bekannten Buchtitel von Hermann Langbein zu zitieren. Was Widerstand für den Einzelnen jedoch tatsächlich bedeutete, das lassen die überlieferten Zeugnisse allenfalls erahnen.

Uns bleibt die Aufgabe, an den Mut dieser Menschen, ihre Hoffnung und ihre Verzweiflung, immer wieder zu erinnern, um ihr Vermächtnis zu bewahren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige abschließende Bemerkungen. Die besondere Verantwortung, die uns Deutschen aus der Erfahrung des Zivilisationsbruchs zuwächst, ist inzwischen zu einem Fundament unserer politischen Kultur und unseres nationalen wie europäischen Selbstverständnisses geworden.

27 Jahre nach der historischen Weizsäcker-Rede hat sich endgültig die Erkenntnis durchgesetzt, dass der 8. Mai 1945 für uns Deutsche ein Tag der Befreiung war: die Befreiung von einer menschenverachtenden Ideologie, die ganz Europa in den Abgrund gerissen hat.

Für die Zukunft wird entscheidend sein, die Herzen und Köpfe der jungen Generation für demokratische Werte und Menschenrechte zu gewinnen.

Um junge Menschen zur Zivilcourage zu erziehen, brauchen wir Beispiele aus der Geschichte, die als Vorbilder dienen: mutige Männer und Frauen, die trotz der Gefahren für sich und ihre Familien nicht die Augen verschlossen, sondern sich dem Unrecht aktiv widersetzten.

Auch die Männer und Frauen des 20. Juli, an die wir morgen erinnern, gehören zu diesen Menschen mit aufrechtem Gang, die uns gezeigt haben, was Mut und Gewissen für eine menschenwürdige Welt bedeuten. Für den Aufbau und die Identität eines demokratischen Deutschlands waren und sind sie unverzichtbare Vorbilder.

Dass Phänomene wie Antisemitismus und Antiziganismus mit dem Jahr 1945 nicht ihr Ende gefunden haben, sondern unvermindert eine Gefahr für unsere Gesellschaft und für unsere freiheitlich-demokratische Kultur darstellen, hat uns zuletzt die Mordserie der rechtsextremen so genannten Zwickauer Terrorzelle auf entsetzliche Weise vor Augen geführt.

Historisches Erinnern meint daher auch Erziehung zu Mut und Menschlichkeit. Was wir brauchen, sind mündige und selbstbewusste Menschen, die gesellschaftliche Verantwortung nicht delegieren oder anderen überlassen, sondern die es als ihre ureigenste Aufgabe begreifen, für die Werte dieser freiheitlichen Gesellschaft einzustehen.

Demokratie lebt vom Engagement eines jeden Einzelnen. Vor allem auf den Mut und auf die Entschlossenheit der jungen Generation wird es ankommen, dass Menschenverachtung und Rassismus in unserer Gesellschaft künftig keine Chance mehr haben.

Ich danke Ihnen.