Ein Flug in die Vergangenheit
Adolf Reichwein ging Anfang der 30er Jahre in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und wurde 1940 Mitglied des „Kreisauer Kreises“. Seine Tochter Sabine erinnert sich an den begeisterten Sportpiloten und träumt von einem letzten Flug mit ihm in Vergangenheit und Gegenwart.
„Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie noch einmal einen ganzen Tag zusammen mit Ihrem Vater verbringen dürften?“ Eine polnische Oberschülerin stellte mir 2008 auf einem Workshop in der heutigen Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau (seit Kriegsende Krzyżowa) diese Frage. „Am liebsten würde ich mit ihm in seiner kleinen Sportmaschine von Berlin nach Kreisau und zurück nach Berlin fliegen, zu den wichtigsten Orten unseres kurzen gemeinsamen Lebens und dabei seinen Erinnerungen lauschen.“ antwortete ich. Fliegen, das ist doch auch meine Leidenschaft. Ich dachte dabei an eine Geschichte aus den Erzählungen meiner Mutter. Sie hatte meinem Vater gegenüber 1930 einen Wunsch ähnlichen Inhalts geäußert. Sie waren beide Lehrende an der Pädagogischen Hochschule in Halle und lernten sich auf einem Fest näher kennen. Mein Vater war damals auch ein leidenschaftlicher Sportflieger, besaß eine kleine einmotorige Propellermaschine und wurde von seinen Studenten „Der fliegende Professor“ genannt. Meine Mutter war risikofreudig - und ihr Wunsch wurde erfüllt.
Ich wollte natürlich unbedingt möglichst hautnah erfahren, wie vor allem meine Mutter diesen abenteuerlichen Flug während eines überraschend aufkommenden Gewitters mit meinem Vater erlebte. Seine kleine Maschine des Typs „Klemm 29“ hatte kein Verdeck und nur zwei schmale hintereinander eingebaute Sitze. Meine Mutter saß als Gast des Piloten üblicherweise vor ihm und genoss auch während der Turbulenzen die freiere Rundumsicht. Auf ihrem Sitz würde ich nun gerne sitzen und mit meinem Vater nach Kreisau/Krzyżowa im heutigen Polen fliegen – den Ort, der nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Familie tief geprägt hat.
Der „Kreisauer Kreis“ wurde nach diesem historischen Ort, dem ehemaligen Landgut der Familie von Moltke benannt, das inmitten des kleinen, 60 Kilometer von Breslau entfernten, niederschlesischen Dorfes liegt. Von 1945 bis 1990 wurde es von polnischen Landarbeitern als Kolchose betrieben und 1998 vollständig und meisterhaft von polnischen Handwerkern rekonstruiert.
Mein Vater war Reformpädagoge und wurde von Helmuth James Graf von Moltke, dem er 1928 das erste Mal an der Universität Breslau in Verbindung mit den „Löwenberger Arbeitslagern“ begegnete, in den Kreis eingeladen. Dieser bestand aus 20 Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Herkunft, Weltanschauung und Konfession, die das Ziel verfolgten, die Neuordnung Deutschlands nach dem Sturz Hitlers und der Nationalsozialisten zu planen, und in ihren „Kreisauer Schriften“ ihre Pläne zu dokumentieren. Deren Inhalte wurden während dreier großer Tagungen 1943 und 1944 auf dem Landgut der Familie von Moltke in Kreisau erarbeitet, wo Versammlungen größerer Menschengruppen weniger auffielen. Mein Vater konnte sich auf diesen Tagungen mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen als Reformpädagoge einbringen, vor allem im Bildungs- und Kulturbereich.
Wenige Monate nach der ersten Kreisau-Tagung wurde unser Haus in Berlin-Steglitz von einer Bombe zerstört. Zum Glück waren wir alle gerade nicht zu Hause. Von heute auf morgen verloren wir allerdings unsere Lebensbasis. Aber Hilfe folgte rasch. Helmuth James von Moltke und seine Frau Freya luden meine Mutter und uns vier Kinder spontan zu sich auf ihr Gut in Kreisau ein. Wir bekamen im 4. Stock des Schlosses eine 3-Zimmerwohnung. Außer uns wurden Mitglieder der Familie von Moltke und weitere Flüchtlinge in dem großen Schloss untergebracht. Mein Vater blieb in Berlin zurück, um seiner Arbeit im Volkskundemuseum und seinen Widerstandsaktivitäten in den kleineren Gruppentreffen der „Kreisauer“ nachgehen zu können.
Wir hatten das Glück, während der schlimmsten Kriegsjahre vom Bombenhagel verschont und auf dem Landgut mit Lebensmitteln gut versorgt zu werden. Zwar lebten wir nun einfacher ohne fließendes Wasser und mit Kohleöfen, aber doch besser, als so viele Familien in Berlin. Unser Vater besuchte uns in Kreisau sporadisch an Wochenenden, auch am Rande der beiden letzten Tagungen, was für uns immer ein besonderes Glück war. Wir Kinder lebten weitgehend sorgenfrei und unsere Spielkameraden fanden wir auch in den beiden gleichaltrigen Moltke-Söhnen Caspar und Konrad, bis zum Juli 1945.
Am 4. Juli 1944 war mein Vater bereits in Berlin von der Gestapo verhaftet worden - auf dem Weg zu einem Treffen mit seinem SPD-Freund Julius Leber und den beiden kommunistischen Widerstandskämpfern Anton Saefkow und Franz Jacob. Ein Spitzel hatte alle verraten. Meine Mutter Rosemarie und Freya von Moltke wurden durch unser Zusammenleben, die gemeinsam zu bewältigende Arbeit auf dem Landgut und besonders durch ihr gemeinsames Schicksal immer vertrauter miteinander. Sie besuchten abwechselnd ihre Männer in den Gefängnissen in und bei Berlin, während die andere uns sechs Kinder betreute. Helmuth James war bereits als Erster am 19. Januar 1944 von der Gestapo verhaftet worden, weil er Mitglieder des Solf-Kreises vor einer Gestapo-Überwachung gewarnt hatte. Er wurde nach dem Todesurteil durch den berüchtigten Richter Roland Freisler im Volksgerichtshof am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee ermordet, mein Vater auf gleiche Weise vor ihm am 20. Oktober 1944. Beide Frauen trugen den Verlust ihrer Männer gemeinsam und blieben enge Freundinnen bis zum Ende ihres Lebens. Sie wurden 98 und fast 97 Jahre alt und heirateten nicht wieder.
1979 sahen meine Mutter, meine Geschwister und ich unser Kreisau wieder, die Gutsanlage fanden wir in einem erschütternd baufälligen Zustand vor, aber viele Erinnerungen der Familienmitglieder wurden lebendig. Ich war im Oktober 1943 als Zweijährige das erste Mal nach Kreisau gekommen, also zu jung, um noch Erinnerungen zu haben. Abends im Hotel las meine Mutter uns aus ihrem Tagebuch vor, in dem sie unsere Flucht vor den Russen mit dem Treck zu Pfingsten 1944 von Kreisau ins Riesengebirge hinauf beschrieb, den Freya von Moltke mit mehreren Pferdefuhrwerken anführte.
Freya verließ Deutschland, dem Wunsch ihres Mannes folgend. Sie begann mit Caspar und Konrad in Südafrika mit Hilfe der Familie ihrer Schwiegermutter ein neues Leben. Meine Mutter machte sich mit uns auf den Weg zurück nach Berlin. In fünf Tagen kamen wir nur etappenweise und in überfüllten Zügen schleppend voran. Die Eisenbahnbrücke über die Neiße bei Forst mussten wir zu Fuß überqueren, die einzige fast intakte Brücke weit und breit. Allein mit uns vier Kindern war sie auf die Hilfe mitfühlender Flüchtlingsfrauen angewiesen, denen sie entweder uns Kinder oder unser Gepäck anvertrauen musste. Selbst an dieses dramatische Ereignis kann ich mich nicht mehr erinnern.
Nun starteten auch wir in Berlin in ein unruhiges neues Leben, das von häufigen Trennungen geprägt war. Bis zu meinem 10. Lebensjahr wurde ich viermal von meiner Mutter und den Geschwistern jeweils vier Monaten bis zu einem Jahr getrennt. Das wohl schwierigste Halbjahr 1946/47 verbrachte ich in Schweden, weit entfernt von Lund, wo sich meine Mutter in der Krankengymnastik fortbilden ließ, bei einer Familie auf dem Land. Ich wurde bestens versorgt und lernte fließend Schwedisch, entbehrte aber meine Familie.
Anfänglich war meine Mutter noch auf Starthilfen von Freunden meines Vaters angewiesen, da sie erst 1955 eine Wiedergutmachungs-Nachzahlung der Bundesrepublik ausgehändigt bekam. Bis dahin hatte sie es jedoch schon geschafft, als Krankengymnastin in Berlin unsere Existenz zu sichern. Nach ihrem Start an der Berliner Charité 1947 baute sie sich schließlich eine eigene Praxis auf. 1956 wurde sie zur Ausbildung als Bobath-Therapeutin für die Behandlung spastisch gelähmter Kinder in London zugelassen. Das vor den Nationalsozialisten dorthin geflohene jüdische Ehepaar Bobath genehmigte ihr schließlich auch, seine Methode in Deutschland einzuführen und zu lehren, eine bemerkenswerte Lebensleistung, für die meine Mutter und wir allerdings auch einen Preis zu zahlen hatten. Sie hatte nur wenig Zeit für uns Kinder übrig, bemühte sich aber immer sehr um unsere jeweilige Schul- und Berufsausbildung.
Bis heute kehrte ich mehrmals nach Krzyżowa, in die von Freya ins Leben gerufene europäische Begegnungsstätte, zurück, nahm an Tagungen, Begegnungen mit polnischen, deutschen und holländischen Teilnehmern teil, auch einige Male gemeinsam mit meiner Mutter und mit engagierten Zeitzeugen, Besuchern und Jugendlichen. Schließlich tauschten sich Caspar von Moltke und ich in unserem fortgeschrittenen Alter vor Interessierten der Reisegruppen gerne über unsere jeweils sehr unterschiedlichen Lebenswege aus und stellten uns deren Fragen. Dabei erfuhren wir auch viel Neues voneinander, lernten uns neu kennen.
Nach dem Tod meiner Mutter 2002 trat ich, die ich doch fast keine Erinnerungen an die Jahre mit meinem Vater hatte, unvermittelt als „Zeitzeugin“ in ihre Fußstapfen. Denn besonders während ihrer letzten Lebensjahre begleitete ich sie bei ihren Interviews, so dass einige Initiatoren mich schon kannten. Außerdem interessierte ich mich mit zunehmendem Alter mehr und mehr für meine eigenen Vergangenheit und das Leben meines Vaters als leidenschaftlicher Pädagoge, Menschenfreund, Weltbürger und mutigen Kämpfer gegen Unfreiheit, Ungleichheit und Unrecht besonders während der 12-jährigen Nazidiktatur. Nun übernahm ich - inzwischen selbst als Fotografin und Grundschullehrerin tätig - gerne weiterhin die Einladungen von Schulen, Hochschulen und weiteren Kultureinrichtungen als „Zeitzeugin“, um über unser Familienleben nach dem Krieg und meinem eigenen Lebensweg zu berichten, aber auch, um an ihn und an diese katastrophale Zeit in Deutschland zu erinnern, als „(…) lebendige Brücke von gestern zu morgen“ (A.R.).
Zurück zu meinem Traum vom Flug: Mein Vater und ich steuern über die deutsch-polnische Grenze hinwegfliegend eine große Wiese in Kreisau/Krzyżowa an. Vermutlich wird mein Vater von dem prächtigen Anblick der heutigen Gutsanlage sehr überrascht sein und unsere Wohnung im 4. Stock des Schlosses kaum wiedererkennen, weil sie zu modernisierten, einfach eingerichteten Büroräumen umgewandelt wurde. Während unserer Besichtigungstour bis hinauf zum Berghaus nutzen wir die Gelegenheit, all unsere Fragen und Antworten miteinander auszutauschen. Mich interessiert vor allem, welche Gefühle ihn bewegten, wenn er, weit weg von seinen Kräfte und Nerven raubenden Tätigkeiten in Berlin, uns im Schloss auf dem Land besuchte und ich ihn als Zwei- und Dreijährige vom Bahnhof abholte? Ich frage ihn, wie er und seine Mitstreiter, die doch bestimmt oft ganz unterschiedlicher Meinungen waren, sich auf die endgültigen Textinhalte der „Kreisauer Schriften“ einigen konnten? Welche seiner eigenen Ideen und Formulierungen er durchsetzen konnte? Wie er als Bildungsminister, für dessen Posten er nach dem Krieg vorgesehen war, vor allem die Reform der Schulbildung in Deutschland nach dem Krieg vorangetrieben hätte? Worauf es ihm am meisten im heutigen Bildungswesen und Kulturleben ankäme? Und welchen Impuls Deutschland für den Zusammenhalt Europas heute geben könnte? Wie er die ca. 200 Dorfbewohner von Krzyżowa in die Internationale Begegnungsstätte integrieren würde? Und noch viele Fragen mehr.
Nach Berlin zurückkehrend, dürfen wir vielleicht wieder auf dem Tempelhofer Feld landen, wie damals, als sich mein Vater unter der großen Lufthansa-Maschine wie ein Spatz unter den Flügeln eines Adlers fühlte. Sogleich werde ich mit ihm die Förderschule in Neukölln besuchen, die seit 1956 seinen Namen trägt. Ich werde ihm von meinen Besuchen, den Projektarbeiten und Medienworkshops mit Schülern und Lehrern berichten, die auch heute sich bemühen, seiner Devise „lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zu folgen. Er wird gewiss seine Freude an der Arbeit einiger Lehrer haben, weil er von 1930-39 selbst als technikinteressierter Lehrer an der einklassigen Dorfschule in Tiefensee/Brandenburg in seinem Unterricht die Kinder schon mit Medienprojekten vertraut machte, wie z.B. durch sein Projekt „Film in der Landschule“.
Ich werde ihn gern mit dem politisch aktiven Künstler und Medienpädagogen Matthias Schellenberger bekannt machen, der voller Respekt und Hochachtung für ihn ist, und mit seinen engagierten Kollegen, um sich gegenseitig kennenzulernen und auszutauschen. Schellenberger hat zusammen mit Schülern und einem Geschichtslehrer eine Wanderausstellung über meinen Vater inhaltlich erarbeitet und aufgebaut, die er an Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zeigt. Durch diese Lehrer von heute lebt sein pädagogisches Konzept weiter, die damit einer weiteren Devise von ihm nacheifern: „Eine Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.“
Auf diesem Flug werden nicht nur einige meiner wichtigsten Fragen endlich beantwortet werden, sondern mein Vater wird auch erfahren können, auf welche Art zumindest einige seiner pädagogischen Ideen umgesetzt werden und weiterleben. Und schließlich werde ich ihm erzählen können, wie erfolgreich sich unsere Mutter in ihrem Beruf selbständig machte und sich für uns Kinder einsetzte - was nach dem Zusammenbruch aus dem zerstörten Deutschland und seiner Familie wurde.
Das Adolf-Reichwein-Archiv befindet sich heute im Archiv der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (Permalink zu den Erschließungsangaben in der Archivdatenbank).
Eine Kurzbiografie von Adolf Reichwein und weitere Literaturhinweise finden Sie hier.