Alfred Delp – ein Zeuge

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans Maier

Alfred Delp – ein Zeuge.

Vortrag von Prof. Dr. Hans Maier am 13. September 2007 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin aus Anlass des 100. Geburtstags von Pater Alfred Delp SJ.

Am 15. September – also in zwei Tagen – jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag von Pater Alfred Delp SJ. Gleichfalls in dieses Jahr 2007, auf den 11. März, fiel der 100. Geburtstag von Helmuth James von Moltke. Beide Männer, der süddeutsche Jesuit und der schlesische Gutsbesitzer, gehörten dem Kreisauer Kreis an – einem informellen Zusammenschluss von Nazigegnern, dessen Mitglieder sich in dem niederschlesischen Gut Kreisau und in den Städten Berlin und München trafen, um über die moralische und politische Neuordnung nach dem Krieg nachzudenken. Beide, Moltke und Delp, starben, von Freislers Volksgerichtshof zum Tod verurteilt, am 23. Januar und am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee am Galgen.

Im Urteil des Volksgerichtshofs wurde Delp als einer „der aktivsten Verratsgehilfen“ des Grafen Moltke bezeichnet. Gegenüber dem Angeklagten Moltke bezeichnete Freisler dessen Verbindung zu den Münchner Jesuiten – es waren neben Delp der Ordensprovinzial Augustin Rösch und Pater Lothar König, der als Sekretär von Rösch und als Kurier des Kreises fungierte – als „Schande“. Delp und Molke fühlten sich – bei unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit - im Glauben miteinander verbunden. Sie waren im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu Freunden geworden. An Neujahr 1945 schickte Delp seinem Zellennachbarn Moltke im Strafgefängnis Berlin-Tegel einen Gruß und dankte ihm für sein „Beispiel der Unermüdlichkeit trotz der miserablen Lage und trotz der körperlichen Beschwerden“. Und Moltke schrieb in seinem letzten Brief an Delp kurz vor der eigenen Hinrichtung: „...denn wir wollen, wenn man uns schon umbringt, doch auf alle Fälle reichlich Samen streuen.“

I. Lebensumriss

Wer war Alfred Delp? Wo kam er her? Was hat ihn geprägt? Wofür steht sein Leben?

Friedrich Alfred Delp stammte aus bescheidenen Verhältnissen: der Vater Lohnbuchhalter, die Mutter Köchin in einem Offiziershaushalt. 1907 in Mannheim als voreheliches Kind geboren, wuchs er als ältester Sohn in einer Familie mit später insgesamt 6 Kindern auf. Vater und Mutter arbeiteten zeitweise zu zweit, um den Lebensunterhalt zu bestreiten – ein damals noch nicht allzu häufiger Fall. Im Unterschied zu Graf Moltke, der als Träger eines berühmten Namens über internationale Verbindungen verfügte, ist Delp in seinem kurzen Leben nicht weit in der Welt herumgekommen: Mannheim, Hüttenfeld, Lampertheim, Dieburg, Feldkirch in Vorarlberg, St. Blasien im Schwarzwald, das holländische Valkenburg, Frankfurt, Wien, München und Berlin neben einigen anderen Städten, die er zu Vorträgen und Kursen bereiste – das war eigentlich schon alles, ein relativ enger, auf den deutschsprachigen Raum beschränkter Kreis. Während den Juristen Moltke das Völkerrecht und die Sorge für Mandanten und Bekannte im In- und Ausland früh über die nationalen Schranken hinausblicken ließ, musste sich Delp sein Bild von der Welt - aber auch vom eigenen Vaterland – zu einem guten Teil aus Büchern und Berichten zusammensetzen. Moltke dachte und lebte in internationalen Zusammenhängen. Delps Weg führte in einer lebenslangen Anstrengung des Lernens und Studierens immer mehr nach innen. Die Philosophie war seine Leidenschaft und wurde sein Beruf. Er war ein passionierter Analytiker, ein unermüdlicher Diskutierer, er liebte es, die Dinge zuzuspitzen, sie „auf den Begriff zu bringen“. Darauf beruhte seine geistige Überlegenheit im Gespräch. Eine gewisse Neigung zum Rechthaben, zum Konstruieren und Generalisieren blieb „Bullus“ – so nannten ihn Freunde – trotz aller Nähe zu den Menschen und allem Tatsachensinn ein Leben lang zu eigen.

Mit der Entzweiung der Konfessionen in Deutschland war der junge Alfred Delp von Geburt an konfrontiert. Katholisch getauft (auf Wunsch der katholischen Mutter), wurde er doch evangelisch erzogen (auf Wunsch des protestantischen Vaters), ging zur Konfirmation, überwarf sich mit dem evangelischen Pfarrer, optierte für die katholische Kirche, ging zur Kommunion, dann zur Firmung – und das alles in einem einzigen Jahr (1921)! Doch auch über die Wünsche des katholischen Pfarrers Johannes Unger, der ihn in das bischöfliche Konvikt in Dieburg vermittelte, – Alfred sollte Priester werden! - setzte er sich hinweg: statt nach dem glänzend bestandenen Abitur einen Studienplatz im Germanicum in Rom einzunehmen, trat Delp im Alter von 19 Jahren der Gesellschaft Jesu bei. Er verließ das Elternhaus mit einem Freund wie zu einer Wanderung und trat am 22. April 1926 in Tisis bei Feldkirch/Vorarlberg in das Noviziat der Jesuiten ein. (Dort wirkte auch Karl Rahner als Lateinlehrer!). An seine Mutter schrieb er, es sei besser gewesen, nicht mehr nach Hause zu kommen. Alles sei letztlich nach Gottes Willen geschehen – und der harte Bruch sei am Ende für alle besser gewesen als ein Abschied in Raten. Und kühn zitiert er die Antwort des von den Eltern vermissten und im Tempel wiedergefundenen Jesus: „Wußtest Du nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“

Für das Noviziatshaus in Tisis war der aus dem Bund Neudeutschland kommende, von der Jugendbewegung geprägte, in Glaubensfragen manchmal fast „protestantisch“ argumentierende Alfred Delp mit seinem Temperament, seinem schnellen Verstand, seinem übermütigen Lachen und seiner fast unlesbaren Handschrift kein einfacher Fall. Er war so etwas wie ein Hecht im Karpfenteich. Doch die formende Kraft des Jesuitenordens, seine Disziplin, sein internationaler Zuschnitt, sein bewegliches Eingehen auf die Individualität des Einzelnen sollte sich auch an Delp bewähren, der später freimütig zugab, er sei in seiner Jugend „ein Strick“ gewesen. Delp durchlief die üblichen Stationen des Ordens: das Noviziat in Feldkirch, an dessen Ende die ersten Gelübde standen (1926-28), die philosophischen Studien im Berchmanskolleg in Pullach bei München (1928-31), die mit dem Examen de universa philosophia – gleichbedeutend mit dem römischen Doktor in Philosophie – abgeschlossen wurden. Dann folgte die Zeit als Erzieher am Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch/Vorarlberg und später in St. Blasien im Schwarzwald. An beiden Orten bemühte sich Pater Delp, die bis dahin gültige streng autoritäre Erziehung ins Sportliche, Jugendbewegte, Partnerschaftliche abzuwandeln. Dabei lernte er auch selbst, in einer Gemeinschaft zu leben und sich in sie einzufügen (1931-34). Seinen jugendlichen Schutzbefohlenen erschien er schon damals als der geborene Anführer. Er galt als kritischer Geist, als Stürmer und Dränger, aber auch als Mann mit Weitblick, ausgestattet mit klaren Grundsätzen.

Im Herbst 1934 begann Delp das Studium der Theologie im Ignatiuskolleg in Valkenburg (Holland), das er 1936 in Frankfurt/St. Georgen fortsetzte und 1938 mit dem Lizentiat der Theologie abschloss. Am 24. Juli 1937 wurde er, nach der Weihe zum Subdiakon und zum Diakon in Frankfurt, von Kardinal Faulhaber in der St. Michaelskirche in München zum Priester geweiht. In der Heimatgemeinde St. Andreas in Lampertheim feierte er am 4. Juli seine Primiz. Die Eltern und die Geschwister waren dabei. Es war eine Rückkehr in die Heimat. An die theologischen Studien schlossen sich die letzten zehn Monate in der Ausbildung der Jesuiten an, das sogenannte Terziat. Delp verbrachte es zunächst auf der Rottmannshöhe am Starnberger See. Doch am 16. September 1938 erreichte die jungen Leute ein Alarmruf aus Feldkirch/Vorarlberg: als Folge des „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland drohte der Stella Matutina die Konfiskation. Schnell siedelten die Patres nach Feldkirch um und verhinderten durch „Besetzung“ – jeder bezog ein Klassenzimmer – die Beschlagnahmung des Hauses durch die Nationalsozialisten.

Die letzten Gelübde hat Pater Delp erst während des Krieges abgelegt. Der übliche Zeitabstand lag damals im Durchschnitt etwa 16 Jahre nach dem Eintritt in den Orden. Vorgesehen war für Delp das Jahr 1943. Der Termin wurde verschoben. Waren Konflikte mit der Ordensleitung vorausgegangen? War es Delps Eigensinn, seine manchmal recht eigenwillige und kritische Haltung, die sich negativ in den bei dieser Gelegenheit einzuholenden „Informationen“ der Mitbrüder niederschlug? Wir wissen es nicht. Delp, der unter der Aufschiebung litt, freute sich, als die Ablegung der Gelübde endlich auf den 15. August 1944 festgesetzt wurde. Doch es sollte nicht dazu kommen: am Morgen des 28. Juli 1944 wurde Delp in München verhaftet. So konnte er die letzten Gelübde erst am 8. Dezember 1944 im Gefängnis Berlin-Tegel in die Hände seines Mitbruders Franz von Tattenbach SJ ablegen, wenige Wochen vor seiner Verurteilung und seinem Tod. Tattenbachs Besuch war offiziell beantragt und genehmigt worden. Ausnahmsweise wurden dem Gefangenen die Fesseln abgenommen. Es war eine denkwürdige Szene, wie Alfred Delp mit stockender Stimme die lateinischen Worte sprach, die sein Lebensopfer enthielten, und am Ende Ort und Datum des Gelöbnisses verlas: „Berolini, die octavo decembris anni millesimi nongentesimi quadragesimi quarti, in carcere tegelensi“: Berlin, am 8. Dezember 1944, im Gefängnis Tegel.“

II. Schriftsteller, Seelsorger, Prediger

Ein Studium bei den Jesuiten dauert ungewöhnlich lang. Nach der Ausbildung ist es nicht immer einfach, den richtigen Berufseinstieg zu finden. So auch bei Delp: zuerst bewarb sich der junge Jesuitenpater 1939 bei der Universität München um Zulassung zur Doktorprüfung in der philosophischen oder staatswirtschaftlichen Fakultät – sie wurde abgelehnt. Nach Kriegsausbruch im Herbst 1939 wollte er als Kriegspfarrer an die Front – darauf pochend, er habe in jungen Jahren Offizier werden wollen und schäme sich nun, allein zu Hause zu sitzen, während fast alle männlichen Angehörigen der Familie im Feld seien. Auch dieses Ansinnen wurde abgelehnt. So entfaltete Pater Delp 1939 – 1941 seine Hauptaktivität bei der Redaktion der Münchner Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ - zuständig für „die Behandlung der sozialen Frage im wirtschaftlichen und politischen Leben“, wie es seinen eigenen Interessen und der Arbeitsteilung in der Redaktion entsprach.

Chefredakteur war damals P. Theo Hoffmann; unter den 12 Redakteuren finden sich mehrere Namen, die heute berühmt sind: Hans Urs von Balthasar, Engelbert Kirschbaum, Anton Koch, Max Pribilla, Erich Przywara. Delp wohnte im sogenannten Schriftstellerhaus Veterinärstraße 9 (heute Teil der Juristischen Fakultät der Universität München). Universität, Ludwigskirche und Staatsbibliothek lagen in nächster Nähe, auch Delps Vorgesetzter Augustin Rösch, seit 1935 Provinzial der Oberdeutschen Jesuitenprovinz, hatte seinen Sitz „um die Ecke“ in der Kaulbachstraße 31a. Freunde gingen aus und ein. Delp war also „gut eingebettet“. Er hatte, so schien es, für sein Talent den idealen Arbeitsplatz gefunden. In den rund zwei Jahren bei den „Stimmen der Zeit“ kam er seiner Ordensgemeinschaft in vielen Gesprächen, im gemeinsamen Leben und Planen so nahe wie nie zuvor – dies auch bei der notwendigen Arbeit an der Unterscheidung der Geister und bei der Abwehr des seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gegen die Kirchen zunehmend aggressiver auftretenden Nationalsozialismus.

Schon früh hatte sich Delp als Schriftsteller versucht. Für die ihm anvertrauten 17-19jährigen Jugendlichen in St. Blasien hatte er 1933 ein (später gedrucktes) Theaterstück „Der ewige Advent“ geschrieben, das in drei Bildern Todesszenen zeigte: Soldaten, die im Krieg bei einem Handgranatenüberfall ums Leben kommen; Grubenarbeiter, die durch schlagende Wetter den Tod finden; ein Arbeiterpriester, der beim Versuch, einen Arbeitskonflikt zu schlichten, von zornigen Männern erschlagen wird. Die Botschaft des Stücks, in knapper Sprache und harten Schnitten vermittelt, ist einfach. Auf der Erde regiert der Tod. Der Mensch kann ihn aus eigenen Kräften nicht überwinden. Daher sein immerwährender Schrei aus der Tiefe – ein adventlicher Schrei. Dass der Mensch sich selbst erlösen könne, ist eine anmaßende Illusion. In sein Elend eintreten, um es zu überwinden, kann nur Gott, indem er Mensch wird, also in die Genossenschaft unseres Fleisches, unserer Leiden und Ängste kommt. Daher ist Weihnachten kein Märchen- und Kinderfest, wie viele meinen. Es ist vielmehr „ernst und groß“. „Meine Freunde, glaubt es“, sagt der sterbende Arbeiterpriester, „wir müssen leiden und hinhalten, dann erst ist Weihnachten.“ Wer denkt bei diesen Worten nicht an die Weihnachtsbetrachtungen Delps zwölf Jahr später in Tegel, mit ganz ähnlichen Tönen?

Große Pläne hatte Delp als philosophischer Schriftsteller. Sein erstes Buch „Tragische Existenz“ (1935) setzt sich mit Martin Heideggers Daseinsanalytik auseinander – es war eine der ersten Stellungnahmen von katholischer Seite zu „Sein und Zeit“. Delp liest Heidegger anthropologisch; er versteht seine Philosophie als Zeitansage, er ist vor allem hellhörig für die Sprache, die weltanschaulichen Nebentöne, die politischen Implikationen. Das mag einseitig sein und der von dem Freiburger Meister in Gang gesetzten „Gigantomachie“ um das Sein – der neuen Fundamentalontologie - nicht gerecht werden. Aber beruht nicht auch die politische Wirkung Heideggers in den Anfangsjahren des Dritten Reiches auf solchen Reduktionen in der Wahrnehmung seines Denkens? Von Heideggers späterer „Kehre“ konnte Delp noch keine Ahnung haben. Er analysiert die sichtbaren, die öffentlichen Wirkungen der Philosophie Heideggers in der Gegenwart, weniger die längerfristig wirksamen Absichten und Antriebe.

Im übrigen ist Heidegger für Delp nur der sichtbare Vorposten einer Denkbewegung, die schon im 19. Jahrhundert begonnen hat. Diese Bewegung sucht direkte, unmittelbare Zugänge zur Wirklichkeit zu erschließen – ohne mühselige erkenntnistheoretische Vorklärungen und Filter. Es geht um eine neue Hermeneutik des Realen und Tatsächlichen. Vorläufer sind Kierkegaard und Nietzsche. Diese moderne Philosophie bringt die heutige Welt, wie Delp meint, authentischer in den Blick, als man es bisher gewohnt war und gelernt hat. Sie ist daher auch für Religion und Kirche wichtig. Der Christ darf sich dieser neuen Bemühung um die Wirklichkeit nicht verschließen. Die rettende Mitte muss manchmal auch vom Rand, vom Abgrund angegangen werden. Auf die „Analytik des Daseins“ muss daher nach Delp eine „Analytik des gläubigen Menschen“ folgen. Ihr gilt künftig ein Gutteil seines literarischen Bemühens, seiner Predigt- und Vortragstätigkeit.

Delps nächstes Buch „Der Mensch und die Geschichte“ erschien unter ver- veränderten Umständen. Abgeschlossen wurde es im Jahr 1941, in dem die Machtentfaltung des NS-Staats ihren Höhepunkt erreichte. Das Regime schob in dieser Zeit die letzten kriegsbedingten Rücksichten gegenüber den Kirchen beiseite. Die „Stimmen der Zeit“ wurden verboten, das Schriftstellerhaus verfiel der Beschlagnahme. Delp verlor seine Stelle als Redakteur. Er wurde Kirchenrektor an der St. Georgskirche in München-Bogenhausen. Neue Aufgaben warteten auf ihn. Aber sein bisheriges soziales Umfeld war verloren, die häusliche Ordensgemeinschaft im Universitätsviertel war plötzlich zerstört. Kein Wunder, dass er 1942 in eine körperliche und seelische Krise stürzte und sich schwertat, seinen Platz in der Gesellschaft Jesu neu zu finden.

Doch als Schriftsteller gab er nicht auf. Überraschend half ihm der Alsatia-Verlag in Colmar, der im Krieg mit konspirativen Methoden katholische Autoren verlegte, die unter Publikationsverbot standen – Reinhold Schneider, Joseph Bernhart, Ludwig Winterswyl - , sein zweites Buch zu publizieren. Es erschien 1943, ohne Jahresangabe, wie im Alsatia-Verlag üblich. Ein drittes Buch mit dem Titel „Der Mensch vor sich selbst“ erschien erst postum nach dem Krieg (1955).

Verloren ist leider „Die dritte Idee“, ein Buch, in dem Delps Gedanken zur sozialen Frage und zur sozialen Neuordnung entwickelt sind. Wahrscheinlich wurde das Manuskript, das Delp noch kurz vor seiner Verhaftung abschließen konnte, von Ordensangehörigen während seiner Haft in Berlin vernichtet. Es erschien ihnen zu gefährlich, Delp belastend – umriss es doch einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Marxismus, zwischen Amerika und Russland. Ernst Kessler hat die Grundgedanken 1947 auf Grund von anderen Texten und von Gesprächen Delps mit Freunden rekonstruiert. Für die Beiträge Delps im Kreisauer Kreis – für das, was er dort als „theonomen Humanismus“ und als „personalen Sozialismus“ bezeichnete - war dieser im Original verlorene Text von größter Bedeutung.

Delps Arbeitsstätte, die kleine Barockkirche St. Georg, 1766 erbaut, war eine Filiale von Heilig Blut. Delp hatte dort Gottesdienste zu feiern – die eigentliche Pfarrseelsorge war nicht seine Aufgabe. So blieb ihm Zeit fürs Schreiben, für die Bücher, für andere Aktivitäten – auch für überdiözesane Aufgaben wie die Tätigkeit in der „Hauptarbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit“ in Fulda, der er sich von 1941-44 widmete. Sie war insofern wichtig, als sie ihn mit Arbeiterführern wie Nikolaus Groß und Bernhard Letterhaus in Verbindung brachte, die aus der Kölner Zentrale der Katholischen Arbeiterbewegung kamen – im Dritten Reich ein kleines, aber wichtiges Personalreservoir, oft eine Basis für politischen Widerstand.

Aber auch in der Gemeinde – und darüber hinaus in München - engagierte sich Delp. So war er an der Planung der „Kreuzaktion“ an Münchner Schulen im September 1941 beteiligt: Mütter und Schüler hängten von den Nazis abgehängte Kreuze wieder in den Klassenzimmern auf. Delp half auch Juden bei der Flucht, dachte Fluchtwege aus und betreute zeitweise mit einer lose organisierten Gruppe zehn bis zwölf der Verfolgten.

Seit 1942 nahmen die Bombenangriffe auf München zu. Zeitweise waren bis zu 2000 allierte Bomber im Einsatz. Regelmäßig machte sich Delp, kaum dass Entwarnung gegeben war, in einem Arbeitsanzug auf den Weg, suchte zerstörte Häuser auf, half bei der Bergung von Verschütteten. Dem ausgebombten Theodor Haecker – er gehörte zu den regelmäßigen Zuhörern des Predigers Delp – vermittelte er eine provisorische Unterkunft in der Nähe von St. Georg. In einem Brief vom 8. Mai 1944 schrieb er: „es war schrecklich. So viel Feuer auf einmal: auch in nächster Nähe von uns...In der Stadt brennt es immer noch...die schönsten Kirchen, die schönsten Häuser, alles ist dahin. Ganze Straßen und Quadrate sind einfach abgebrannt. So viele Freunde stehen mit nichts da...“

Erholungspausen dauerten nur kurz. Delp nutzte, solange er konnte, die Möglichkeit, einige Tage ins bayerische Voralpenland wegzufahren, um auf die Kampenwand zu steigen, auf dem Simssee zu segeln oder sich einfach auszuruhen, zu schlafen „wie ein Bär“. Als „Bauernlehrling“ – so sein Ausdruck – half er sogar bei der Ernte mit, ungeachtet der Blasen an den Händen und dem Zittern in den, wie er sagte, „städtisch-unnützen Armen“. Er liebte das Land: „So in der Sonne schwimmen und nachher im Segelboot so frei und still und nur den Elementen verpflichtet dahinschweben, ach es ist dann so viel vergessen und vorbei und das Herz atmet wieder.“ „Da sind die bösen Dinge halb so schlimm und die guten Dinge doppelt so schön.“

Am 28. Juli 1944 wurde Pater Delp nach der Messe am Morgen im Pfarrhaus St. Georg verhaftet und zunächst in die Münchner Gestapozentrale im Wittelsbacher Palais in der Brienner Straße 51 – heute Siemens-Firmenleitung – verbracht. Am 6. August wurde er nach Berlin überstellt und im Gestapogefängnis Lehrter Straße 3 inhaftiert. Die sechs Anklagepunkte sollte er erst Monate später, am 16. Dezember 1944, durch seinen Anwalt erfahren. Der wichtigste stand an der Spitze der Liste: Teilnahme an den „Kreisauer Besprechungen“.

Augustin Rösch SJ, der seinen Ordensbruder Delp in München überall gesucht hatte, bis in die Gestapozentrale hinein, tauchte später unter, wurde aber im Januar 1945 entdeckt und nach Berlin gebracht. Zu einem Prozess kam es nicht mehr; Rösch überlebte Krieg und Drittes Reich. Lothar König SJ entkam der Gestapo, die am 19. August 1944 nach ihm suchte, nur um wenige Minuten. Auch er versteckte sich – teils auf dem Land bei Freunden, teils im Kohlenkeller des Berchmanskollegs in Pullach. In der Zeit des Verstecktseins konnte ein Tumor zwischen Luftröhre und Herz, an dem er litt, nicht bestrahlt werden; so starb er bereits am 5. Mai 1946.

III. Im Kreisauer Kreis

Wie entstand die Verbindung zwischen den „Kreisauern“ und den Münchner Jesuiten? Das ist eine Geschichte, bei welcher – neben dem Kriegsablauf und der inneren Entwicklung in den Gruppen des deutschen Widerstands - der Zufall eine Hauptrolle spielt.

Anfang Oktober 1941 reiste Augustin Rösch, der Provinzial der Oberdeutschen Jesuitenprovinz, nach Berlin, um im Oberkommando der Wehrmacht Gespräche zu führen. Es ging um die vom NS-Staat prätendierte „Wehrunwürdigkeit“ der Jesuiten. Rösch sollte eine Liste der zum Kriegsdienst eingezogenen Ordensmitglieder aufstellen. Das lehnte er entschieden ab, weil er die Verhaftung der Jesuiten durch die Gestapo fürchtete. Auf der Straße hörte er eine Hitlerrede aus den Lautsprechern. Der Führer erklärte darin den Krieg als „in der Hauptsache beendet“, da die Russen keine Waffen mehr hätten; die Waffenherstellung im Reich werde daher in Zukunft eingeschränkt. Auch Baron Karl Ludwig von Guttenberg, ein Mann des konservativen Widerstands, mit Rösch seit langem bekannt, hörte diese Rede auf der Stra?e. Er erkannte Rösch, sprach ihn an und nahm ihn dann in eine kleine Wohnung mit, die über einer Garage lag, Derfflingerstraße 12 im Tiergartenviertel. Dort sah Rösch, nach seinem eigenen Bericht, „einen sehr großen hageren Mann, einen fein geschnittenen Kopf: es war Graf Helmuth von Moltke“.

Moltke, der im OKW als Sachverständiger für Völkerrechtsfragen tätig war, entlarvte die Äußerungen Hitlers als Lügen. Hitlers Politik führe ins Verderben; man müsse ihm die Führung aus der Hand nehmen. Auf Röschs Frage nach den Mitteln lehnte Moltke ein Attentat ab – es gebe andere Wege. Vor allem: Protestanten und Katholiken müssten zusammengehen, um das Christentum zu retten, sie müssten gemeinsam über die Zeit nach dem Krieg nachdenken. Die Evangelische Kirche sei angeschlagen und gespalten. Man brauche die Katholiken wegen ihrer Einheit und Geschlossenheit. Rösch erbat sich Bedenkzeit. Bei einem erneuten Treffen am 4. Dezember in Berlin sagte er seine Mitarbeit im Kreisauer Kreis zu. Mit den Protestanten Yorck von Wartenburg und Steltzer und mit Guttenberg bereitete er die erste Tagung in Kreisau vor, die vom 22. – 25. Mai 1942 stattfand. Rösch, damals im fünfzigsten Lebensjahr stehend, war der Älteste im Kreis. „Als noch junge Leute waren wir ganz stolz darauf, dass der Provinzial der Jesuiten, der Oberste der süddeutschen Jesuiten-Provinz, sich die Mühe machte, zu uns zu kommen“ - so erinnert sich Freya von.

Im Kreisauer Kreis ging es einmal um die Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken, um gemeinsame Grundlagen für ein politisches Handeln nach dem Krieg. Es ging aber auch um den Brückenschlag zwischen den sozialen Gruppen – in diesem Sinn bemühten sich Moltke und Yorck um Gespräche mit Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Arbeiterführern, aber auch mit Unternehmern und Wirtschaftswissenschaftlern. Ganz generell rückte die Überwindung des Klassenkampfes, die Neuordnung des sozialen Lebens, die Wiederherstellung des Rechts in den Blick. Im Frühjahr 1942 erbat Moltke von Rösch „einen Soziologen, mit dem er vor allem die Arbeiterfrage und die Frage der Wiederverchristlichung der deutschen Arbeiterwelt besprechen könne.“ Rösch sprach mit Delp, der sowohl durch seine wissenschaftlichen Interessen wie durch die Erfahrungen mit der Männerseelsorge ausgewiesen war. Delp sagte freudig zu.

Der Kreisauer Kreis – das Wort geht auf die Gestapo zurück und ist erst späteren Ursprungs – war zunächst ein Berliner Kreis. Er entstand um die Freunde Helmuth von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg. Man traf sich in Berliner Privatwohnungen. Mit der Zeit erweiterte sich die Gruppe, man hatte das Bedürfnis, in einem größeren Kreis zu tagen, über die zwei- und mehrseitigen Besprechungen hinaus. Auch sollten gemeinsame Überzeugungen fixiert, Beschlüsse gefasst und festgehalten werden. Dafür eigneten sich Landhaushalte besser als Stadtwohnungen. In Berlin wären Zusammenkünfte solcher Art sofort aufgefallen; in Kreisau dagegen war die Bevölkerung an das ständige Kommen und Gehen im Schloss und im Berghaus gewöhnt, das in Moltkes Familie und Verwandtschaft seit jeher üblich war. Für Nachfragen gab es die Sprachregelung, die Gäste in Kreisau seien Verwandte und Berliner Mitarbeiter des Grafen.

So wurde in den Jahren 1942-44 aus dem Kreis ein Dreieck: Kreisau – Berlin – München. Es gab drei größere Wochenendtagungen in Kreisau; darüber hinaus traf man sich nach wie vor in Berlin – und von 1942 an auch in München, meist in St. Michael. Paulus van Husen, ein katholischer Jurist und Mitglied des Kreises, hat in seinen in Kürze erscheinenden Erinnerungen den Ort geschildert, „das kleine klösterliche Quartier an dem finsteren alten Turm hinter der Michaelskirche, das den Jesuiten von dem großen barocken Klosterbau verblieben war. Es war mit seinem Winkeln und stillen Zugängen ein passender Platz für lichtscheue Unternehmen.“ In Berlin dagegen vermieden Rösch, Delp und König den Kontakt mit den dortigen Jesuiten, die nicht in die Kreisauer Pläne eingeweiht waren; Anlaufstelle waren dort die Dominikaner in St. Paulus.

„Bei der Mitarbeit der Jesuiten“, so urteilt van Husen, „repräsentierte Pater Rösch Herz, Seele und Willen zum Handeln. P. Delp das theologische und soziologische Denken...(Rösch) gehört zu den ganz wenigen Geistlichen, die sich handelnd an Plänen gegen das Dritte Reich beteiligt haben, und ohne ihn und Pater Delp hätten diese Pläne kaum Gestalt gewonnen.“ Ähnlich urteilte Theodor Steltzer, auch er ein Mitglied des Kreises, nach dem Krieg: Delp sei nach seiner Ansicht „die geistig bedeutendste Persönlichkeit des Kreises“ gewesen.

In Kreisau, Berlin und München ging es ganz grundsätzlich um die „Stunde danach“, um die Neuordnung nach dem (verlorenen) Krieg. Wie konnte man aus den Deutschen verlässliche Demokraten machen? Wie musste eine funktionierende Demokratie aussehen? Warum war das Weimarer Experiment missglückt? Wie sollte Deutschland künftig gegliedert sein? Wie sollten Wirtschaft und Arbeit, wie sollten die Schulen und Hochschulen organisiert werden? Es ging auch um die Bestrafung der Kriegsverbrecher, die Wiedergutmachung, die Stellung Deutschlands im künftigen Europa, die europäische Zukunft im ganzen – und immer wieder, durch alle Einzelthemen hindurch, um Recht und Gerechtigkeit, um die rechtsstaatliche Ordnung, die Menschenrechte.

Die Handschrift Delps erkennt man an vielen Stellen. Er hat an einer Fülle von Sachfragen mitgearbeitet – von Staat und Verfassung bis zur Wirtschaftsordnung, von der Außen- und Innenpolitik bis zur künftigen Gestalt Europas. Ähnlich wie Moltke war Delp der Ansicht, dass eine neue Ordnung nach dem Krieg nicht bei der politischen und verfassungsrechtlichen Organisation des Staates stehen bleiben dürfe. Da die Zerstörung vom Menschen ausgegangen sei, müsse die Heilung wiederum vom Menschen ausgehen: in einer individuellen Umkehr, einer „Metanoia des Herzens“. Es gelte den Rechtspositivismus zu überwinden, aber nicht nur das. Die göttlichen, jeder menschlichen Deutung und Beugung entzogenen Gesetze müssten wieder in den Blick kommen. Auf diesem Fundament könne dann ein neues Gefühl für die Rechte des Menschen im Sinn eines „theonomen Humanismus“ wachsen. In diesem Sinn fordert Delp in einem Beitrag für die spätere Fassung der Kreisauer „Grundsätze für die Neuordnung“ vom 9. April 1943 die „Wiederherstellung des Bewusstseins von naturgegebenen, vor jeder staatlichen und politischen Ordnung unabhängigen Menschenrechten, deren Beschneidung oder Vergewaltigung den Menschen zerstört und jedem gemeinschaftlichen Leben Sinn und Berechtigung nimmt.“ Noch knapper umschreibt Delp später in einer berühmtgewordenen Kurzformel aus dem Gefängnis die neue Hierarchie der Werte: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“

Der Moltke-Biograph Günter Brakelmann hat Delps Beitrag im Kreisauer Kreis mit den folgenden Worten gewürdigt: „Von den Quellen her kann der Jesuit Alfred Delp zu denen gerechnet werden, die in der Geltung von unveräußerlichen Grund- und Menschenrechten die Grundlage für ein Deutschland nach der NS-Zeit gesehen haben. Eine von personalen und sozialen Naturrechten bestimmte Gesellschafts- und Staatsordnung waren ihm und seinen Kreisauer Freunden das konkrete politische Ziel. Das hat diese Widerstandsgruppe, die in sich selbst den geistigen und religiösen Pluralismus der deutschen Geistes- und Religionsgeschichte widerspiegelte, den kompromisslosen Kampf gegen den säkularen Unglauben, gegen den völkischen Aberglauben und den materialistisch-biologistischen Wirrglauben aufnehmen lassen. Und deshalb konnten sie als Zukunftsprogramm formulieren: ‚Die Regierung des deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft:’“

IV. Gefangenschaft, Tod, Vermächtnis

Am 19. Januar 1944 wurde Moltke in seinem Berliner Amt verhaftet. Der Grund war nicht die Existenz des Kreisauer Kreises, von dem die Gestapo damals noch nichts wußte. Vielmehr hatte Moltke den im Amt Ausland/Abwehr tätigen Otto Carl Kiep über laufende Ermittlungen gegen ihn informiert – und Kiep hatte nach seiner Verhaftung unter der Folter Moltkes Namen preisgegeben.

Zunächst bestand noch Hoffnung – nach einigen Tagen im Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin kam Moltke als „Schutzhäftling“ in das KZ Ravensbrück, wo er einige Freiheiten genoss, lesen und sogar Akten studieren durfte. Doch der 20. Juli schuf eine veränderte Situation. Yorck und andere Kreisauer waren nach der Verhaftung Moltkes zur Gruppe um Stauffenberg gestoßen. Andere hatten sich zurückgezogen. Der Kreis war steuerlos. Yorck wurde schon im ersten Prozess vor dem Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und hingerichtet. In seinen Unterlagen stießen die Ermittler auf Kreisauer Materialien – sie fanden auch den Namen Delp, der kurz danach verhaftet und nach Berlin gebracht wurde.

Für Delp begann im Gestapogefängnis Lehrterstraße eine Zeit völliger Isolierung und gänzlicher Unsicherheit über das weitere Schicksal. Brutale Verhöre lösten einander ab. Am 15. August, an dem er eigentlich seine letzten Gelübde hätte ablegen sollen, wurde er mit blutigem Rücken in seine Zelle zurückgebracht. Einen Tag zuvor hatten seine Berliner Freunde sein Gefängnis ausfindig gemacht. So wurden die ersten Kontakte mit der Außenwelt möglich. Im Lauf der sieben Monate, die Delp in Fesseln verbrachte – seit dem 8. September im Strafgefängnis Tegel – wurden unzählige Kassiber, getarnt als „Bestellzettel“, Briefe und umfangreiche Ausarbeitungen aus der Zelle geschmuggelt. Ihre Adressaten waren neben dem evangelischen Gefängnisgeistlichen Harald Poelchau, einem Mitglied des Kreisauer Kreises, u.a. die „beiden Mariannen“, die Sozialarbeiterin Marianne Hapig und die Dozentin Marianne Pünder, die Delp in den Berliner Haftmonaten mit Wäsche, Lebensmitteln und Informationen halfen (ohne ihn je sehen zu können) – inmitten der damaligen chaotischen Zustände ein bewegendes Zeugnis des Mutes und der Menschlichkeit.

So schrieb Delp mit gefesselten Händen im Gefängnis jene Texte, die sein Freund und Ordensbruder Paul Bolkovac SJ 1947 unter dem Titel „Im Angesicht des Todes“ herausgab und die seine Botschaft an das Deutschland nach dem Krieg enthalten. Den Höhepunkt bilden Betrachtungen über das Vaterunser und (unvollendete) Meditationen über die Pfingstsequenz „Veni sancte spiritus“, die Delp in seinen letzten Tagen, nach dem Todesurteil, schrieb. Sie sind nicht nur ein beschwörender Anruf an den Geist vom Himel, der lebendig macht, sie enthalten auch eine scharfe Kritik des bürgerlichen Lebensstils und der bürokratisierten Kirche. Sie geißeln die Erstarrung und Verhärtung im profanen wie im kirchlichen Leben. „...alles Lebendige ist Bewegung, Entfaltung, Entwicklung. Der innere Befehl, der allem Lebendigen einwohnt, lässt das Leben nicht zur fixierten Ruhe kommen...Die Erstarrung ist die Fixierung des Daseins auf einem beliebigen Punkt der Lebensstraße, ist Abfall vom Gesetz der Wanderschaft, ist vorzeitige und deshalb unzeitige Sehnsucht nach einem endgültigen Ort.“

Dass das letzte Wort des Theologen und Blutzeugen Delp ein Anruf an den Geist ist, darf man in einem doppelten Sinn verstehen: als ein Bekenntnis zu den jugendbewegten Aufbrüchen, jähen Entscheidungen und leidenschaftlichen Engagements, die sein ganzes Leben durchziehen und die er nie verleugnet hat – aber gewiss auch als eine persönliche Huldigung an die von ihm so geliebte Societas Jesu – jenen Orden, der seine neuzeitliche Geistigkeit nie verleugnet und der sich von allen geistlichen Gemeinschaften am entschiedensten in die Strömungen der Gegenwart hineingewagt hat.

Den Prozess vor dem Volksgerichts wenige Tage zuvor hatte Delp als Farce wahrgenommen. Das Ergebnis stand von Anfang an fest. „Unsere Verhandlung“, schrieb er an die beiden Mariannen, „war gestellt auf Moltkes und meine Vernichtung. Alles andere waren Kulissen und Statisten... Unser eigentliches Vergehen und Verbrechen ist unsere Ketzerei gegen das Dogma: NSDAP – Drittes Reich – Deutsches Volk: leben gleich lang. Die drei sterben miteinander...Wer es wagt, diese NS-Dreifaltigkeit oder besser Drei-Einigkeit anzuzweifeln, ist ein Ketzer, und die früheren Ketzergerichte sind Spielereien gegen die Raffinesse und tödliche Akribie dieser jetzigen...Mein Verbrechen ist, dass ich an Deutschland glaubte auch über eine mögliche Not- und Nachtstunde hinaus. Dass ich an jene simple und anmaßende Drei-Einigkeit des Stolzes und der Gewalt nicht glaubte. Und dass ich dies tat als katholischer Christ und als Jesuit.“

Im gleichen Brief steht noch ein Satz, der berühmt geworden ist: „Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Delp schreibt ihn auch im Namen Moltkes und der anderen Verurteilten. Es ist sein Vermächtnis.

V. Widerstand, geistlich, weltlich

Moltke und der Kreisauer Kreis, Delp und die Münchner Jesuiten: dass sie sich fanden, war am Ende doch mehr als eine Laune des Zufalls, obwohl es im Anfang so erscheinen konnte. Moltke wusste, wovon er sprach, als er seiner Frau nach dem Todesurteil halbironisch schrieb: er sterbe als Märtyrer für den heiligen Ignatius von Loyola („ich zittere schon vor dem väterlichen Zorn von Papi, der doch so antikatholisch war“). Das war eine Anspielung darauf, dass Freisler die Causa Moltke mit jener der Jesuiten verbunden hatte. „Letzten Endes“, meinte Moltke, „entspricht diese Zuspitzung auf das kirchliche Gebiet dem inneren Sachverhalt...“ In der Tat war das bekennende und widerständige Christentum die letzte verbliebene Alternative zum Nationalsozialismus.

Der Umstand, dass sich das einzige volIständige Dossier der Kreisauer Texte dank P. Lothar König SJ in München – in St. Michael und später in Pullach – erhalten hat, spricht gleichfalls eine deutliche Sprache. Im Gefängnis entwickelte sich zwischen Delp, Moltke, Gerstenmaier und Fugger von Glött, die Zellennachbarn waren, eine enge persönliche und geistliche Gemeinschaft. „Die kleine Gefängnisgemeinde verständigte sich untereinander auch über Tagestexte aus der Bibel und über gemeinsame ‚geistliche Übungen’. Delp schrieb vor Weihnachten an Tattenbach: ‚Auf Weihnachten haben wir vier wieder eine gemeinsame Novene angefangen. Diese betende Una Sancta in vinculis. Für Moltke wird in der Krypta von St. Gereon in Köln jeden Tag Messe gelesen.’“ Günter Brakelmann urteilt: „Die späteren Kreisauer Entwürfe zur Neuordnung Deutschlands sind in engster Partnerschaft zu Vertretern des politischen und sozialen Katholizismus entstanden. Während die offiziellen Kirchenrepräsentanten trotz der Bedrängung ihrer Kirchen durch Staat und Partei über gelegentliche Kontakte nicht hinauskamen, entwickelte sich im Kreisauer Kreis eine lebendige ökumenische Gesprächskultur, die die geistigen und ordnungspolitischen Voraussetzungen für ein ‚anderes Deutschland’ schafften. Es ist einmalig in der deutschen Geschichte, dass evangelische und katholische Christen in engster Gesinnungsgemeinschaft zu Sozialisten, die aus dem Umfeld des religiösen Sozialismus in der Weimarer Zeit kamen, gestanden und gelitten haben.“

Im deutschen Widerstand repräsentierten die Kreisauer ein Denken, das in die Zukunft gerichtet war. Sie wollten nicht einfach restaurieren, sie hatten ein Gefühl dafür, was abgelaufen, überholt, irreparabel zerstört war. Daher beschränkten sie sich in ihren Gedanken und Aktionen auch nicht auf die staatliche Sphäre im engeren Sinn. Sie wussten, dass es mit einem Staatsstreich, mit einem politischen Umsturz nicht getan war. Sollte eine künftige Republik besser gedeihen als ihre unglückliche Vorgängerin, die Weimarer Republik, so mussten andere ethische und gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sein. Was in erster Linie überwunden werden musste, war das Abseitsstehen vieler Menschen, der innere Vorbehalt gegenüber dem Gemeinwesen, das Hoffen auf eine andere – eine stärker protestantisch oder katholisch, liberal oder sozialistisch geprägte – Republik. Fällig war – in heutigen Begriffen – eine neue Zivilgesellschaft als Fundament einer erneuerten Republik.

Dazu mussten die Menschen aus ihren Türmen und Gräben herausgeholt werden, dazu waren Brückenschläge nötig – und der Kreisauer Kreis nahm sie symbolisch vorweg: zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Unternehmern und Gewerkschaftlern, zwischen Arbeiter und Offizieren, zwischen Konservativen und Sozialisten. An die Stelle von Teilloyalitäten sollte eine umfassende Verantwortung der Bürger für das Gemeinwesen treten. Das knüpfte an Traditionen der Freiheit, der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung an, die der deutschen Geschichte nicht fremd waren. Vieles wurde später fruchtbar über den Tod der Verfolgten und Ermordeten hinaus: in der Zweiten Republik, die nach dem Krieg entstehen sollte.

Zum Schluss: Was verband Menschen im Widerstand miteinander? Was verband den Gutsherrn von Moltke mit dem Sozialisten Haubach, die Jesuiten Rösch, Delp und König mit den evangelischen Theologen Gerstenmaier und Poelchau, die Juristen Peters und van Husen mit dem Pädagogen Reichwein und dem Diplomaten von Trott zu Solz? Es war letzten Endes etwas sehr Allgemeines, Menschliches (bei durchaus verschiedener Herkunft und Erfahrung der einzelnen): gemeinsamer Abscheu vor den Verbrechen des Regimes, gemeinsames Erschrecken über die vielen, die ihm blind und ergeben folgten – und das Bewusstsein einer hier und heute wahrzunehmenden persönlichen Verantwortung.

Äußerlich betrachtet blieb der Widerstand vergeblich, viele, die ihn wagten, bezahlten ihn mit ihrem Leben. Die Deutschen vermochten es nicht, Hitler aus eigener Kraft zu stürzen und den Nationalsozialismus von innen her zuüberwinden. Das Unheil, so schien es, musste seine volle Bahn durchlaufen - bis zum tödlichen Ende. Doch der Aufstand des Gewissens wirkte weiter, er reichte bis in die Nachkriegszeit hinein, er führte zu einer Überprüfung des überlieferten Denken bezüglich Staat, Individuum, öffentlicher Ordnung, Menschenrechten – ein Prozess, der bis zur Stunde anhält. Wir Späteren, die wir heute selbstverständlich und manchmal achtlos in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben, verdanken den Männern und Frauen des Widerstandes vieles, ja fast alles: die geistige Überwindung der Tyrannei, die Ehrenrettung Deutschlands in einer Zeit der Finsternis, die Abkehr vom Nationalismus, die neue Zuwendung zu Recht und Freiheit. Wissen wir, was sie für uns bewirkt haben, was wir ihnen verdanken und was wir ihnen bis heute schuldig geblieben sind?