Aufstand des verantwortlichen Gewissens

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Josef Rommerskirchen

Aufstand des verantwortlichen Gewissens

Gedenkrede des ehemaligen Vorsitzenden und Mitbegründers des Deutschen Bundesjugendrings Josef Rommerskirchen am 19. Juli 1954 in Bonn

Meine Freunde!

Ich bitte, mir zunächst ein persönliches Wort zu erlauben. Es beschämt mich zutiefst, der Sprecher in dieser Gedenkstunde sein zu dürfen. Weder direkt noch indirekt war ich am 20. Juli 1944 beteiligt. Ich besitze also keine besondere Legitimation, zum Gedächtnis der wahrhaft großen Gestalten jüngster Vergangenheit das Wort zu ergreifen. Es berechtigt mich auch keine andere besonders ehren- oder opfervolle Tat dazu. Allein die tiefe, seit der Meldung der Befreiungstat in jenen Julitagen 1944 nicht mehr ruhende Betrübnis, zu den Berufenen nicht gezählt zu haben, gibt mir den Mut zum Sprechen. Und die Scham, den Offizierskameraden meines Bataillons nicht gemeinsam und laut, sondern nur einzeln und insgeheim eine Antwort auf ihre Frage während der Attentatsnachricht gegeben zu haben - auf die Frage nämlich: „Was müssen wir nun tun?“ -, verpflichtet mich zum heutigen Bekenntnis. So will und kann mein Wort nur ein nachträglicher, später Dank an jene Männer sein - und an die Mütter und Frauen, die Söhne und Töchter, die ihr Liebstes hergaben - ein Dank dafür, dass sie uns in ihrer Tat ein Leitbild schenkten für die Neuordnung, dass sie uns durch ihr Opfer den Wertmaßstab aufzeigten für den staatlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau.

So steht auf dem Denkmal für die Opfer des 20. Juli, das viel zu spät auf der Hinrichtungsstätte der Hauptbeteiligten an jener Befreiungstat enthüllt wurde, geschrieben:

Ihr trugt die Schande nicht.

Ihr wehrtet Euch,

Ihr gabt das große,

Ewig wache Zeichen der Umkehr,

Opfernd Euer heißes Leben

Für Freiheit, Recht und Ehre.

So ist es ausgesprochen, den Opfern der Tyrannei, den wahrhaft Verantwortlichen der jüngsten Vergangenheit zum Gedächtnis, den Lebenden heute und da vor allem der jungen Generation, den Trägern der Verantwortung von morgen, zur Mahnung. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass die Jugend der Bundeshauptstadt den Mut des Gedenkens aufbringt, der gewiss als Mut zur Besinnung und Entscheidung gewertet werden darf. Ja, es scheint Mut dazu zu gehören, denn anderswo und in einigen Kreisen deutscher Jugend hat man sich noch nicht entschieden.

Mut zur Entscheidung!: Es ist doch maßlos beschämend, dass die Studentenschaft der gleichen Universität, an der fünf ihrer Kommilitonen und einer ihrer geistigen Lehrmeister zur Zeit größter deutscher Schmach und Schande die Fackel des Gewissensaufstandes in deutscher Jugend entzündeten, am 10. Todestage dieser jungen Helden nichts Besseres zu tun wusste, als an der Gedenkstätte einen Kranz durch den Hausmeister der Universität niederlegen zu lassen. Es zeugt doch von mangelndem Mut, dass im Hinblick auf den 20. Juli vor lauter Wenn und Aber, vor selbstgefälligem Tüfteln und spitzfindigem Tasten in weiten Kreisen dieser gleichen akademischen Jugend die Entscheidung zwischen dem Vorwurf des Hoch- und Landesverrats oder der Anerkennung höchster sittlicher Verantwortung nicht gefällt wird. Meine Freunde, - hier kann und darf es keine Neutralität der Meinung geben.

Weil die Tat des Freundeskreises der Geschwister Scholl ebenso wie die des Verschwörerkreises um Claus Graf Schenk von Stauffenberg ein Aufstand des verantwortlichen Gewissens war, darum verlangt sie von denen, die unverdient aus dem glühenden Feuerofen der braunen Tyrannei gerettet wurden, nachträglich die Entscheidung des Gewissens.

Und Mut zur Besinnung!: Sie tut Not, heute noch mehr als zur Stunde der Besiegelung der deutschen Katastrophe 1945. Damals war der Blick verhältnismäßig frei, weil viel Morsches und Unbeständiges niedergerissen war, äußerlich und innerlich. Dann begann der Neuaufbau. Wer wollte es angesichts der entsetzlichen äußeren Not verübeln, dass zunächst mit dem entsprechenden äußeren Wiederaufbau begonnen wurde. Nur mit großer Achtung kann man die materiellen Leistungen bis hin zum sogenannten deutschen Wirtschaftswunder betrachten. Aber haben wir doch auch den Mut zur Illusionslosigkeit, den Mut, die billige Fassade zu sehen, die auf wenig festem, ja oft brüchigem Fundament schnell, allzu schnell emporschoss. So wie hinter den Prunkstraßen der deutschen Städte noch unzählige Trümmerhaufen und ausgebrannte Hausruinen zu finden sind, so tut sich hinter ungezählten scheinbar zufriedenen und sicheren Gesichtern eine gähnende geistig-seelische Leere auf. Es gilt nachzuholen, was im Trubel der verständlichen materiellen Existenzsicherung im Argen blieb. Wehe unserem Volk in der Stunde möglicher Krisen, die tief gehen, wenn wir nicht tief genug verwurzelt sind, wenn das ethische Fundament nicht fest genug ist. Oder darf ich es mit der Bitte mich nicht miss zu verstehen anders sagen: Wehe der deutschen Jugend und damit dem deutschen Volk von morgen, wenn sie zu ihren Vorbildern Fußballweltmeister anstatt wahrhafte Lebensmeister erkürt. Auch ich habe mich an den Siegen unserer wackeren deutschen Mannschaft begeistert. Aber nach der nationalistischen Provokation der Fußballfans im Berner Stadion habe ich mich geschämt. Ich hielt es auch gestern für ein betrübliches Zeichen, für ein nicht zufälliges Symptom unseres Zeitgeistes, dass eine namhafte Rundfunkanstalt anstelle der angekündigten Übertragung einer Jugendkundgebung zum 20. Juli die Verleihung des Silberlorbeers an die Weltmeistermannschaft übertrug. Wie schnell Sporterfolge zu Schall und Rauch werden, das zeigt die Siegerliste der Autorennen innerhalb eines Zeitraumes von nur 14 Tagen: Le Mans und Silverston. Jener unvergängliche Sieg des Gewissens aber, den wahrhafte Helden in höchster Verantwortung vor Gott und Volk am 20. Juli 1944 errangen, er wäre schon eines hör- und sichtbaren Gedenkens der deutschen Nation würdig.

Meine Freunde! Worum es im Hinblick auf eine krisenfeste, wertbeständige Zukunft geht, das ist eine wahrhaft freiheitliche Gesinnung, wie sie jene mutigen Widerstandskämpfer und die Frauen und Männer vor und nach ihnen, die Opfer der braunen Schergen wurden, uns vorgelebt haben. Ich meine jene königliche Freiheit, die selbst den Tod nicht fürchtet, wenn dies Opfer um der Verteidigung und Erhaltung der höchsten Rechts- und Lebensgüter willen gefordert wird. Ja, was unsere Zeit braucht, das ist eine große, große Zahl von Menschen, die wissen, dass man Gott mehr gehorchen muss als dem Menschen, und die bereit sind, für diese Erkenntnis Zeugnis abzulegen. Das ist es, was jenen Aufstand vom 20. Juli 1944 heraushebt in der deutschen Geschichte, dass es überzeugend ein Aufstand des geschärften Gewissens war, ein Aufstand der Achtung vor der unantastbaren Menschenwürde, ein Aufstand der Anerkennung der persönlichen Freiheit, ein Aufstand der Verpflichtung gegenüber dem echten Gemeinwohl, jener Ordnung, in der der Einzelne seine menschliche Vervollkommnung verwirklichen kann in Verantwortung vor Gott und dem Mitmenschen. Man muss jene letzten Briefe gelesen haben, um zu erkennen, dass sie wunderbarste Zeugnisse gottgeführter Menschen sind. Ja, auch die letzten Bekundungen derer, die nicht an den Dreifaltigen Gott glaubten, sie lassen erkennen, dass sie sich entscheidend einer höheren Ordnung, objektiven und allgemein verpflichtenden Normen der Gesittung und einer Freiheit in Verantwortung vor dem unantastbaren Recht des Mitmenschen verpflichtet wussten.

Gerade, wenn man kritisch prüft, aus welchen Motiven jene Empörer wider die Inkarnation des Bösen, wider das System der Unmenschlichkeit aufgestanden sind, wird man übereinstimmend feststellen müssen, dass wohl bei keinem Einzigen von ihnen persönlicher Ehrgeiz oder Machthunger der Antrieb war. Diese Tatsache ist es, die den Aufstand des 20. Juli zum Unterpfand der staatlichen und gesellschaftlichen Neuordnung macht. Professor Dr. Max Braubach hier aus Bonn fasst es in einem Forschungsbericht so zusammen: „Wer sich näher mit Persönlichkeiten wie Beck, Goerdeler und Stauffenberg beschäftigt, wer die Tagebücher Hassells liest und die Mitteilungen Schlabrendorffs oder die letzten Briefe Moltkes, der wird in der Tat zu dem Ergebnis gelangen, dass in ihnen bei allem Mitwirken menschlicher Begierde und Befürchtungen in erster Linie eine sittliche Empörung gegen Unrecht und Unmenschlichkeit lebendig war.“ Einer der Sachverständigen der Verteidigung bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen drückt es ähnlich aus: „Zusammenfassend kann gesagt werden, die Beweggründe der Führer des deutschen Widerstandes, trotz allem noch in letzter Minute den Versuch zum Aufstand gegen Hitler und sein Regime zu unternehmen, entsprangen der Hoffnung, bei Gelingen der Tat der Welt zu zeigen, dass auch unter schwersten äußeren Verhältnissen von innen heraus der Wandel zum Rechtsstaat, zur Sittlichkeit und zu geordneten Verhältnissen von Deutschen durchgeführt sei. Für den Fall des Misslingens sollte das Fanal des anderen Deutschlands beweisen, dass das deutsche Volk in seiner Gesamtheit und der Nationalsozialismus nicht das gleiche gewesen sei.“ Oder lassen wir noch einen Dritten kurz urteilen, Prälat Buchholz, der ungezählten Opfern der blutigen Tyrannei die letzten Stunden vor der Hinrichtung erleichtert hat. Er sagt so in einer ergreifenden Rundfunkansprache: „Und dann die Männer des 20. Juli! Haben wir nicht mit ihnen unsere Besten verloren? Viele von ihnen habe ich trotz des ausdrücklichen Verbotes von Hitler durch Monate regelmäßig in ihrer Haft besuchen können, ich habe sie erlebt in ihren Todeszellen und auf dem Wege zum Schafott, wenige Minuten vor dem Tode, wo alles Unechte und Verkrampfte abfällt und der Mensch sich so gibt und zeigt, wie er ist. Wenn ich an diese Begegnungen denke, an die Eindrücke, die ich von den Besuchen bei ihnen mitnehmen durfte, dann stehe ich immer wieder in heiliger Ehrfurcht vor letzter Größe und Reife. Dann muss ich in aller Demut gestehen: Hier war ich nicht der Gebende, hier war ich der Beschenkte!“

Aber meine Freunde, lassen wir doch die toten Zeugen selber sprechen. Beschwören wir doch den edlen Geist derer, die ein strahlendes Licht entzündeten in der dunklen deutschen Nacht. Horchen wir doch ganz still und bereit auf die Stimme ihres reinen Gewissens:

Hören wir den jungen Jesuiten Alfred Delp:

„Es ist Zeit der Aussaat, nicht der Ernte. Gott sät; einmal wird er auch wieder ernten. Um das eine will ich mich mühen: wenigstens als fruchtbares Saatkorn in die Erde zu fallen. Ich hatte nicht daran gedacht, daß dies mein Weg sein könnte. Alle meine Segel wollten steif vor dem Winde stehen; mein Schiff wollte auf große Ausfahrt, die Fahnen und Wimpel sollten stolz und hoch in allen Stürmen gehißt bleiben. Aber vielleicht wären es die falschen Fahnen geworden oder die falsche Richtung oder für das Schiff die falsche Fracht und unechte Beute. Ich weiß es nicht ... Ach, Freunde, daß die Stunde nicht mehr schlug und der Tag nicht mehr aufging, da wir uns offen und frei gesellen durften zu dem Wort und Werk, dem wir innerlich entgegenwuchsen. Bleibt dem stillen Befehl treu, der uns immer wieder rief. Behaltet dies Volk lieb, das in seiner Seele so verlassen und verraten und hilflos geworden ist. Und im Grunde so einsam und ratlos trotz all der marschierenden und deklamierenden Sicherheit. Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt ... In diesen Worten der Gebundenheit habe ich dies erkannt, daß die Menschen immer dann verloren sind und dem Gesetz ihrer Umwelt, ihrer Verhältnisse, ihrer Vergewaltigungen verfallen, wenn sie nicht einer großen inneren Weite und Freiheit fähig sind. Wer nicht in einer Atmosphäre der Freiheit zu Hause ist, die unantastbar und unberührbar bleibt, allen äußeren Mächten und Zuständen zum Trotz, der ist verloren. Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Stunde der Begegnung mit Gott ...“

Nikolaus von Halem schrieb ganz wenige Minuten vor seiner Hinrichtung mit gefesselten Händen:

„Liebe Mutter! Jetzt habe ich auch die letzte kleine Unruhe überwunden, die den Baumwipfel fasst, ehe er stürzt; und damit habe ich das Ziel der Menschheit erreicht. Denn wir können und sollen wissend erdulden, was der Pflanze unwissentlich widerfährt.“

Der edle Sozialist Julius Leber, dessen Gattin uns den ergreifenden Bildband „Das Gewissen steht auf“ geschenkt hat, sagt es in ganz wenigen Worten nur: „Ich weiß keinen besseren Lebenszweck als am Großen und Unmöglichen zugrunde zu gehen ... Liebe wächst nur durch Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Und ohne Liebe gibt es eben kein Vaterland.“

Ja und hören wir auch noch einige Sätze aus dem letzten Brief des Grafen Helmuth von Moltke, des tiefgläubigen evangelischen Christen, an seine Frau:

„Das dramatische an der Verhandlung war letzten Endes folgendes: In der Verhandlung erwiesen sich alle konkreten Vorwürfe als unhaltbar. Und sie wurden auch fallen gelassen. Nichts davon blieb. Sondern das, wovor das Dritte Reich solche Angst hat, daß es fünf, nachher werden es sieben Leute werden, zu Tode bringen muß, ist letzten Endes nur folgendes: Ein Privatmann, nämlich Dein Mann, von dem feststeht, daß er mit zwei Geistlichen beider Konfessionen ohne die Absicht, etwas Konkretes zu tun, Dinge besprochen hat, die zur ‚ausschließlichen Zuständigkeit des Führers gehören’. Besprochen waren nicht etwa Organisationsfragen, nicht etwa Reichsaufbau, sondern besprochen wurden Fragen der praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter; dafür allein werden wir verurteilt... Und nun mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich nirgends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als alle die anderen. Du bist nämlich ein Mittel Gottes, um mich zu dem zu machen, der ich bin. Du bist vielmehr ich selbst ... Ich habe eben ein wenig geweint, nicht traurig, nicht wehmütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dankbarkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes. Uns ist es nicht gegeben, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, daß er ein ganzes Leben hindurch am Tage als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und daß er uns erlaubt, das plötzlich in einem Augenblick zu sehen. Nun kann nichts mehr geschehen. Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann von mir sagen: er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, daß ich gerne noch etwas leben möchte, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrages Gottes. Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt.“

Um der drastischen Wirkung willen müssten jetzt Zitate der Gewalttätigen, müssten die letzten Willensäußerungen Hitlers etwa gegenübergestellt werden, von dem Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der temperamentvolle süddeutsche Katholik und innere Motor der Widerstandsgruppe sagt: „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft, es muß geschehen, denn dieser Mann ist das Böse an sich“: Aber versteht, dass ich aus Ehrfurcht von dem heiligen Geist der Reinheit und der Liebe, der aus den Worten der Zeugen für die gerechte Sache spricht, nicht die Aussprüche der gesetzlosen, teuflischen Gegenspieler, der Hitler, Himmler, Goebbels und Freisler wiederzugeben wage.

Begreift ihr, meine Freunde, nun besser, warum es im Hinblick auf die Befreiungstat des 20. Juli unter gesitteten Menschen keine Neutralität der Meinung geben kann. Es war das Ziel derer, die soeben zu uns sprachen, im Urteil der Geschichte das andere, wahrhaft große Deutschland vorzustellen, das Volk zu bewahren vor letzter sinnloser Vernichtung, das Vaterland, das nicht nur Staat und Volk sondern auch Menschentum und Gesittung seiner Söhne und Töchter ist, vor tiefster Schmach und Schande zu retten. So waren die Männer des Aufstandes gegen Hitler und sein Gewaltregime nicht nur keine Verräter, sondern trotz des Misslingens des Befreiungsversuchs die wirklichen Retter des Vaterlandes. Sie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nach der totalen Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes, nachdem sich die teuflischen Verführer durch feigen Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten, Deutschland nicht völlig zerschlagen wurde. Kein Geringerer als der englische Premierminister Churchill äußerte sich zum 20. Juli wie folgt: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne eine Hilfe von innen oder außen - einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. So lange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mußten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaus.“ Hoch- und Landesverrat sowie Eidbruch sind rechtlich und moralisch unmittelbar verknüpft mit dem Inhaber der Staatsgewalt. Da Hitler selber die Voraussetzungen für die Eidtreue aufhob, indem er seinen Eid brach, der ihn auf das Gemeinwohl des Volkes verpflichtete, und Freiheit und Recht auf die grausamste Weise missachtete und mit Füßen trat, da Hitler selbst zum Schädling des eigenen Volkes und zum Tyrann anderer Völker geworden war, konnte der Versuch, ihn und sein illegal gewordenes Gewaltregime zu beseitigen, weder hoch- noch landesverräterisch sein.

Und was ist der tiefere Sinn dieser Gedenkstunde heute? Soll sie nur ein Zeichen der Pietät sein, eine Stunde stiller Besinnung, die morgen vom lauten Alltag wieder übertönt wird? Ich meine, sie müsste die verpflichtende Mahnung an jeden von uns enthalten, zunächst einmal gegen die deutsche Vergesslichkeit zu Felde zu ziehen. Nicht nur alle 10 Jahre, sondern jahraus und jahrein muss gerade vor deutscher Jugend das Vermächtnis der Helden des 20. Juli beschworen werden, in deren Geist der junge Hermann Josef Flade vor dem anderen totalitären, dem roten Tribunal ausrief: „Ich liebe die Freiheit mehr als mein Leben“, in deren Geist die Arbeiter der Sowjetzone am 17. Juni 1953 mit Knüppeln und Steinen gegen Panzer, Ausdruck der brutalen Gewalt, angingen. Ich meine, diese Stunde müsste alsdann für uns alle die verpflichtende Mahnung enthalten, das Vermächtnis der Helden des 20. Juli zu leben. Das soll heißen, dass ein jeder von uns sich bemühen muss, immer und überall den Raum der Freiheit zu schaffen, der es ihm und dem Mitmenschen erlaubt, den Sinn des Lebens zu erfüllen, d. h. in wahrhafter Menschenwürde und Gerechtigkeit Ebenbild Gottes zu sein. Das soll heißen, dass wir uns nicht mit der formalen Bändigung der Macht durch demokratische Gewaltenteilung begnügen dürfen, so wichtig sie auch ist, sondern dass wir immer und überall die Bändigung der Macht durch die Bindung an Gottes Gebot und die von ihm verliehenen Grundrechte der Menschen fordern müssen. Das soll heißen, dass niemals mehr ein Einzelner oder eine Mehrheit Prinzipien verwerfen darf, die göttlichen Ursprungs und Grundlage wahrhaft menschlichen Zusammenlebens sind. Das soll heißen, dass wir ehrliche und konsequente Absage erteilen dem Ungeist der Intoleranz, des persönlichen und Gruppenegoismus, des bedenkenlosen Mitläufertums, der Verallgemeinerung und des gesellschaftlichen Vorurteils. Das soll heißen, dass wir uns um eine Atmosphäre ungetrübter Wahrhaftigkeit und echter Freiheit bemühen, nicht der falschen Freiheit von der Gemeinschaft, sondern der wahren Freiheit in der Gemeinschaft und zur Gemeinschaft. Die Märtyrer des 20. Juli verpflichten uns, an ihrer Stelle zu stehen und mitbauen zu helfen das andere Deutschland auf der Grundlage des Rechts, der Menschenwürde und der Freiheit des Gewissens, das andere Deutschland als geistig-sittliches Ferment innerhalb eines freien und einigen Europas. Wie heißt es im Nibelungenlied: „Die, die die Besten waren, ließen die Treue nicht!“ Lasst uns allzeit so handeln, dass niemand besser an unserer Stelle gewesen wäre. Lasst uns unser Gewissen schärfen, es wach halten und stets daran denken, dass man Gott mehr gehorchen muss als dem Menschen. Lasst uns den kleinen und großen Gewalttätigen, wo und wie immer sie aufstehen, furchtlos entgegentreten und ihnen ins Gewissen rufen, dass sie keine Macht haben, wenn sie ihnen nicht von Gott gegeben ist. Lasst uns ganz ernst machen, meine Brüder und Schwestern, ganz ernst machen mit unserem Einsatz wie mein junger Freund Willi Graf - wir nannten ihn Nurmi in unserer Jungengemeinschaft -, einem der Sechs des Geschwister-Scholl-Kreises. Als ich das letzte Mal Anfang des Krieges mit ihm und anderen Kameraden zusammen saß, da sangen wir ein Lied, das sie später auch im Münchener Freundeskreis gerne sangen, weil es ohne große Worte unsere Verpflichtung ausspricht, die er in unbedingter Treue erfüllte. Und dies ist das Lied:

Schließ Aug und Ohr für eine Weil

vor dem Getös der Zeit,

du heilst es nicht und hast kein Heil,

als bis dein Herz sich weiht.

Dein Amt ist hüten, harren, sehn

im Tag die Ewigkeit,

du bist schon so im Weltgeschehn

gefangen und befreit.

Die Stunde kommt, da man dich braucht,

dann sei du ganz bereit,

und in das Feuer, das verraucht,

wirf dich als letztes Scheit.