Begrüßung im Roten Rathaus

Empfang im Rothen Rathaus am 19. Juli 2022 anlässlich des 78. Jahrestages des 20. Juli 1944


- Bürgermeister Dr. Klaus Lederer -


[Anreden],
und vor allen Dingen, sehr geehrte Frau Tsikhanouskaya und sehr geehrte Frau Khomich,


ich empfinde es als eine besondere Geste, dass Sie heute bei uns sind, um mit uns an den Aufstand des 20. Juli 1944 zu erinnern. Und ich darf Ihnen auch die herzlichsten Grüße der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, überbringen, die es sehr bedauert, nicht hier sein zu können.


Wir befinden uns hier an dem Ort, an dem so viele Menschen Opfer der verbrecherischen NS-Justiz wurden, darunter auch 89 Frauen und Männer des 20. Juli. Und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass wir gemeinsam den Mut derer würdigen, die damals eine schwere Gewissensentscheidung trafen, um Krieg und Völkermord zu beenden.


Und sie taten es ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben und das ihrer Familien. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft, es muss geschehen, denn dieser Mann ist das Böse an sich“, so umschrieb Claus Schenk Graf von Stauffenberg das Motiv.


Er wie auch Friedrich Olbricht, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, Werner von Haeften und Ludwig Beck wurden direkt nach dem Anschlagsversuch hingerichtet. Viele weitere fielen der Verfolgung danach zum Opfer.


Und in die Gewissensprüfung der Männer waren auch einige Frauen der Verschwörer einbezogen. Es ist mir wichtig, sie an dieser Stelle zu erwähnen, auch wenn sie in ganz unterschiedlichem Ausmaß an der Verschwörung beteiligt waren; viel oder weniger von den Attentatsplänen wussten. Ganz unabhängig davon macht allein ihre moralische Unterstützung sie zu mutigen Heldinnen des Widerstands des 20. Juli, vor denen wir uns heute verneigen.


Sie nahmen, wie ihre Männer, eine moralische Begründung für den Widerstand in Anspruch und mussten nach dem Scheitern des Attentats nicht nur die Hinrichtung ihrer Männer verkraften, sondern viel Leid erdulden. Sie wurden verhaftet, ihrer Kinder beraubt und waren bis zum Ende der NS-Herrschaft der Rache des Regimes ausgesetzt. Und auch danach erfuhren sie noch oft Verachtung.


Das moralische „Recht“ auf Widerstand war es auch, auf das sich der mutige Generalstaatsanwalt Fritz Bauer stützte, als er im sogenannten Remer-Prozess von 1952 - also vor 70 Jahren - gegen eine Verunglimpfung der Widerständigen vom 20. Juli auftrat und damit einen Präzedenzfall für die Anerkennung und Rechtfertigung dieses moralischen „Rechts“ schuf.


Sein Ausspruch „Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr“ versinnbildlicht dieses moralische „Recht“ auf Widerstand. Rechtlich wurde es erst 1968 in unserer Verfassung festgeschrieben. Seither ist Widerstand in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen durch das Grundgesetz geschützt.


Doch die Bedeutung des moralischen Anspruchs wird dadurch nicht gemindert. Im Gegenteil. Der Auftrag an uns alle, Verantwortung für unsere Demokratie zu übernehmen, gehört zu den immerwährenden Lehren aus der NS-Diktatur. Und das lange bevor ein Angriff auf unsere Demokratie die Voraussetzung für den Artikel 20, Absatz 4 schafft.


Gefordert ist vielmehr unsere stetige Wachsamkeit gegenüber demokratiefeindlichen Tendenzen. Wir müssen uns immer wieder bewusst mit dem Zustand unserer Demokratie auseinandersetzen. Müssen reagieren, wenn sie unter Druck gerät und mit geradem Rücken für sie streiten.


Meine Damen und Herren,
und in diesem Engagement kann es nicht nur um Deutschland gehen. Gerade in dieser Zeit des Angriffskrieges von Präsident Putin auf die Ukraine rückt ins Bewusstsein, dass Demokratie und Frieden auch in Europa nicht selbstverständlich sind. Dass Freiheit und Unabhängigkeit, wie sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erkämpft wurden, nun durch die kriegerische Invasion bedroht sind.


Dieser Angriff ist damit auch ein Angriff auf die Idee eines freien und demokratischen Europas. Auch das macht es so wichtig, weiterhin mit aller Kraft die zu unterstützen, die für Freiheit, Demokratie und auch Frieden kämpfen, denn ohne Frieden kann es keine Freiheit geben.


Sie, liebe Frau Tsikhanouskaya, stehen gemeinsam mit Maria Kalesnikava und Veronica Tsepkalo für diesen Kampf um Demokratie und Freiheit in Belarus. Seit vielen Monaten fordern Sie freie Wahlen, ein Ende der staatlichen Repressionen sowie den Rücktritt von Machthaber Alexander Lukaschenko.


Und seit vielen Monaten zahlen Sie und Ihre Familien dafür einen hohen Preis - mit erlittenen Repressionen, harten Gefängnisstrafen bis hin zum Straflager und mit Ihrem Leben im Exil.


Ich bewundere Ihren Mut, Ihre Entschlossenheit und Ihr Durchhaltevermögen sowie das der vielen anderen in Belarus und auch in Russland. Die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an Sie drei war ein wichtiges Zeichen, um Ihre Leistungen zu würdigen und diese vor allen Dingen öffentlich in den Blickpunkt zu rücken.


Ich möchte Ihnen sagen: Berlin als Stadt der Freiheit steht an Ihrer Seite. Wir unterstützen Ihren Kampf und machen ihn damit auch zu unserem. Und wir sind dankbar, dass Sie heute hier sind.


Meine Damen und Herren,
der Einsatz für Frieden, Freiheit und Demokratie ist ein immerwährender Einsatz, der niemals endet.


Es waren die tapferen Frauen und Männer des 20. Juli 1944, die in einer verbrecherischen Diktatur unter allergrößten Gefahren bereit waren, das höchste Opfer zu bringen, um die Gewaltherrschaft, den Krieg und den Völkermord zu beenden. Wir verneigen uns vor Ihnen.


78 Jahre später sind es mutige Frauen, die den Kampf vieler weiterer Menschen in Belarus für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte anführen. Einen Kampf, der so wichtig auch für uns ist. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen.


Und ich möchte meinen Dank auch an diejenigen richten, die bis heute die Erinnerung an die Ereignisse und Lehren des 20. Juli 1944 wachhalten. An die Angehörigen der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer und an die Stiftung 20. Juli 1944, die vor vielen Jahrzehnten die Wurzeln für diesen wichtigen Erinnerungsstrang legte und diesen Jahr für Jahr mit immer wieder neuen Impulsen belebt und kräftigt.


Vielen Dank.

Weitere Reden

19.07.2022
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück