Das europäische Vermächtnis des Widerstands

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerhard Schröder

Das europäische Vermächtnis des Widerstands

Gedenkrede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder am 20. Juli 2004 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

Meine Damen und Herren,

ein wahrhaft „teuflisches Glück“, so der Historiker Ian Kershaw, sorgte dafür, dass Hitler allen Anschlägen auf sein Leben entkam.

Und ohne den Tod des Diktators blieben alle Versuche, das Regime zu stürzen, zum Scheitern verurteilt.

Denn, auch das ist wahr, der Widerstand für Recht und Menschlichkeit blieb auf Einzelne und kleinere Gruppen beschränkt.

In der totalitären Gesellschaft des Nationalsozialismus hatte sich ein breiter, patriotischer Volkswiderstand nicht herausbilden können.

Es gehört ja gerade zu der großen, und wohl nie abschließend zu leistenden Aufarbeitung der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, dass wir uns immer wieder die Frage stellen müssen:

Wie konnte die Diktatur sich noch so lange auf eine breite Massenbasis stützen?

Jedenfalls war es dem Widerstand in Deutschland nicht möglich, einen gleichsam natürlichen Patriotismus gegen die Nationalsozialisten zu mobilisieren.

So, wie das die Widerstandskämpfer in Frankreich, in Holland und den anderen besetzten Ländern ganz selbstverständlich tun konnten.

Dagegen musste der deutsche Widerstand gegen die Führung des eigenen Landes kämpfen.

Wir wissen, dass ein Sieg Hitlers den endgültigen moralischen Untergang Deutschlands bedeutet hätte.

Uns ist bewusst, dass die Niederwerfung der nationalsozialistischen Diktatur eine Befreiung auch für Deutschland bedeutete.

Doch bis zum Ende des Krieges war diese Erkenntnis auch im Offizierskorps, wo man die militärischen Fakten kannte, eine Minderheitsmeinung.

Olbricht und von Stauffenberg, Mertz von Quirnheim, von Haeften und all die anderen, die den Staatsstreich schließlich wagten, litten unter dem Widerspruch, sich aus Patriotismus gegen das stellen zu müssen, was immer noch sehr viele für das „nationale Interesse“ hielten.

Stauffenberg selbst fasste diesen Konflikt in die unvergessenen Worte:

„Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird.

Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor dem eigenen Gewissen.“

Ich denke, die Opferbereitschaft der Attentäter unter diesen sehr schwierigen äußeren, aber auch inneren Bedingungen unterstreicht noch einmal die menschliche und politische Größe ihres Handelns.

Meine Damen und Herren,

es hat einen gemeinsamen, koordinierten und von breiten Schichten getragenen Widerstand in Deutschland nicht gegeben.

Obwohl den Männern um Stauffenberg sehr daran gelegen war, Sozialdemokraten wie Julius Leber, konservative Politiker wie Carl Friedrich Goerdeler, Gewerkschafter und Kirchenleute in ihre Planungen einzubinden.

Noch weniger hat es eine solche Gemeinsamkeit im europäischen Widerstand gegen Nationalsozialismus und Gewaltherrschaft gegeben.

Zwar war die Befreiung Europas das gemeinsame Ziel jeden Widerstandes.

Und Gruppen wie der Kreisauer Kreis arbeiteten kontinuierlich mit dem skandinavischen Widerstand zusammen.

Auch holländische Widerstandsgruppen fassten zunehmend Vertrauen zur deutschen Opposition.

Sozialdemokraten versuchten unter schwierigsten Bedingungen, ein Netz des Widerstands in ganz Europa zu knüpfen.

Doch eine gemeinsame europäische Widerstandsbewegung konnte daraus nicht entstehen.

So war den Verschwörern des 20. Juli vor allem daran gelegen, „vor der Welt und vor der Geschichte“ ein Zeichen deutschen Widerstands gesetzt zu haben.

Es ging ihnen darum, wie es Generalmajor Henning von Tresckow, der zu einem der entschiedensten Antreiber des militärischen Widerstands geworden war, ausdrückte: „ den entscheidenden Wurf zu wagen“.

In noch stärkerem Maße gilt das für den Aufstand der Polnischen Heimatarmee, der am 1. August 1944 in Warschau begann.

Die polnischen Widerstandskämpfer wussten, dass sie die deutschen Besatzer nicht allein würden niederringen können.

Aber sie waren bis zum äußersten entschlossen, ihrem Anspruch auf ein selbstbestimmtes, freies Polen Nachdruck zu verleihen.

Auch gegenüber neuer Fremdbestimmung, die sie bereits fürchten mussten.

Europa hat heute guten Grund, diese beiden Daten – den 20. Juli und den 1. August 1944 – als flammende Zeichen auf dem Weg zu einer wahren europäischen Wertegemeinschaft zu verstehen und in Ehren zu halten.

Erst heute, 60 Jahre später, können wir dieses europäische Vermächtnis des Widerstands vollenden. Und das müssen wir auch.

Denn der Kampf für Freiheit und Recht, gegen Gewaltherrschaft und militärische Aggression ist die wichtigste Grundlage dessen, was uns in Europa eint – seit der Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai dieses Jahres stärker denn je.

Meine Damen und Herren,

viele der Angehörigen des deutschen Widerstands gegen Hitler hatten einen langen Weg zurücklegen müssen, bis sie sich zur Auflehnung gegen den Diktator entschlossen.

Nicht wenige hatten zunächst an Hitlers Versprechungen geglaubt, seinen national klingenden Parolen zugestimmt und ihm bis in die Kriegsjahre hinein als Offiziere, Diplomaten und Beamte loyal gedient.

Hitlers Krieg war zeitweise auch „ihr“ Krieg gewesen.

Es gab ehemalige überzeugte Nationalsozialisten unter den Widerstandskämpfern, die erst unter dem Eindruck entsetzlicher Verbrechen erkannten, auf welch schrecklichen Irrweg Deutschland sich begeben hatte.

Die Vorstellungen, die Hitlers Gegner von der Neuordnung Deutschlands hatten, waren vielfach noch von der Zeit des Kaiserreichs vor 1918 geprägt.

Konservative und Sozialdemokraten hatten ganz unterschiedliche Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen.

Vor allem die Gedanken der konservativen Gegner der Diktatur waren oft weit entfernt von dem, was später in die Beratungen des Parlamentarischen Rats einfloss und schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Gestalt annahm.

Aber auch den Frauen und Männern des 20. Juli galt eines doch als wesentlich:

An die Stelle der Willkür-Herrschaft musste wieder die „vollkommene Majestät des Rechts“ treten.

Eine politische Ordnung, deren letzte Bestimmung es zu sein hatte, Hüterin der Freiheit und der Würde jedes einzelnen Menschen zu sein.

Am 20. Juli 1944 legte ein anderes Deutschland Zeugnis ab.

Seine besten Vertreter handelten aus einer Tradition heraus, die christlich oder humanistisch, vom Geist der Aufklärung oder auch preußisch geprägt war.

Diese Tradition kannte einen Befehlshaber oberhalb des Staates und des Mannes an der Spitze – nämlich das eigene Gewissen.

Deshalb wurde der 20. Juli 1944 zu einem der wichtigsten Tage der neueren deutschen Geschichte.

Das ist in der Tat ein großes, ein großartiges Vermächtnis.

Sie haben uns auch gezeigt, dass es nichts von „Landesverrat“ hat, wenn man versucht, das eigene Land und die Menschheit insgesamt von einer barbarischen Diktatur zu befreien.

Auch im kommunistischen Ostdeutschland – dessen Führung Teile der Verschwörer immer wieder als „reaktionäre Kräfte“ diffamierte – blieb das Erbe jener mutigen Männer und Frauen lebendig.

Ich will beispielhaft nur die große Bedeutung erwähnen, die der Kreisauer Kreis für große Teile der christlichen Opposition in der DDR hatte.

So ist der 20. Juli auch uns Nachgeborenen immer wieder Ansporn, die Werte von Freiheit und Toleranz, die wir heute für so selbstverständlich halten, auch stets aufs Neue zu verteidigen.

Und zugleich haben diese Widerstandskämpfer uns die beste Tradition aufgezeigt, auf die deutsche Soldatinnen und Soldaten sich heute berufen können:

Eine Armee, die sich der Freiheit und dem Frieden verpflichtet weiß – und einer internationalen Ordnung, wie es im Entwurf der Regierungserklärung von Beck und Goerdeler heißt, in der allen Menschen der „Weg zu den Gütern dieser Welt“ offen steht.

In dieser großen Tradition stehen die Angehörigen der Bundeswehr, die heute auf dem Balkan oder in Afghanistan den Frieden sichern und beim Wiederaufbau helfen.

Meine Damen und Herren,

zum Vermächtnis des 20. Juli gehören aber nicht nur Frieden und Freiheit.

Sondern zu diesem Vermächtnis gehört auch unsere europäische Verpflichtung.

Das Europa der Freiheit, der Solidarität und der Teilhabe, das wir in den vergangenen 40 Jahren haben errichten können, hat viele Wurzeln.

Dazu gehören die Werte der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution, die Idee der sozialen Gesellschaft, aber auch die Erfahrung des Widerstands der europäischen Völker gegen Gewaltherrschaft.

Diese Werte wappnen uns – um auch zukünftigen Gefahren von Diktatur, Aggression oder Völkermord zu begegnen.

Aber unsere Verpflichtung gegenüber dem europäischen Widerstand betrifft auch die Notwendigkeit, nicht nachzulassen bei der weiteren Integration unseres gemeinsamen Europa.

Liebe Gräfin Moltke, es war ihr Gatte, Helmuth James Graf von Moltke, der 1942 in einem Brief an einen englischen Freund schrieb:

„Für uns ist Europa weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen und großen Plänen. Europa nach dem Krieg ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden.“

Dieser großen Aufgabe stellen wir uns, im ehrenvollen Gedenken an die Widerstandskämpfer – in Deutschland und Europa.

Und in der gemeinsamen Verantwortung für unsere Zukunft – in Deutschland und Europa.

Ich danke Ihnen.







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