Das mahnende Beispiel ist geblieben. Die Bundesregierung fühlt sich dem Geist des 20. Juli verpflichtet.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Peter Paul Nahm
Das mahnende Beispiel ist geblieben. Die Bundesregierung fühlt sich dem Geist des 20. Juli verpflichtet
Gedenkrede des Staatssekretärs im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Dr. Peter Paul Nahm am 20. Juli 1964 in der Bonner Beethovenhalle
Mein erstes Wort sei ein Dank dafür, dass es eine deutsche Erhebung gegeben hat; dass Sterne in der deutschen Nacht sichtbar geworden sind; dass auf den letzten Blättern unserer Geschichte vor 1945 nicht nur Himmler und Auschwitz stehen sondern auch Namen und Wollen von Männern, die entschlossen waren, Drangsal und Tod vom eigenen Volk und dem bedrängten Teil der Menschheit zu nehmen; Männer, die aller Welt bewiesen haben, dass Hitler nicht mit Deutschland identisch ist.
Sie haben nicht aus Lust am Abenteuer konspiriert. Sie waren aus dem Gewissen genötigt, um der Ehre des Vaterlandes und des Lebens von Millionen Deutschen und Nichtdeutschen willen, die Hand gegen ein System zu erheben, das sich selbst außerhalb des Rechtes und der Moral gestellt und damit gerichtet hatte, ein System, das mit anderen Mitteln nicht mehr zu fällen war.
Die Verschworenen waren keine Landsknechte, denen die Rebellion im Blute lag. Ihrem Wesen nach eher Antirevolutionäre, haben sie versucht, die moralische Legalität bis zum Äußersten zu wahren. Von Skrupeln beladen trachteten sie, möglichst ohne Blut auszukommen - obwohl sie wussten, dass sie es mit rücksichtsloser diabolischer Machtfülle aufnahmen. Sie waren Patrioten und Humanisten im besten Sinn. Sie waren Menschen und als solche nicht frei von Unvollkommenheiten. Was sie früher aus Herkunft, Irren und Zögern getan oder unterlassen haben mögen: sie haben es getilgt durch die Entschlossenheit zur erlösenden Tat. Wo ist jener, der so ohne Makel wäre, dass er einen Stein werfen dürfte? Wer ohne Makel ist, nur weil ihm Versuchung, Anfechtung und Nötigung erspart geblieben sind, hat daraus allein keine Legitimation zu überheblicher Kritik.
Der 20. Juli 1944 war nicht der erste Plan. Vor Ausbruch des Krieges hatten Erfolg versprechende Vorbereitungen keinen Ansatzpunkt zur Durchführung gefunden. Denn Hitler vermochte im entscheidenden Augenblick große außenpolitische Erfolge einzuheimsen. Einige Zeit vorher hätte der zehnte Teil von ihnen genügt, den bedrängten demokratischen Kräften über die Krise zu helfen. Wer es erlebt hat, weiß wie Hitlers Erfolge die Widerständler und Einsichtigen mit Niedergeschlagenheit und Verzweiflung geschlagen haben. Die Warner sahen sich Lügen gestraft. Lähmung suchte sie heim - und Blendung befiel das Volk. Die Männer des 20. Juli samt denen, die vor ihnen wagten und starben, haben mehr als den Tod auf sich genommen. Sie mussten sich durch die Schluchten des Zweifels quälen, durch den inneren Kampf zwischen Eid und Gewissen, zwischen formaler und sittlicher Pflicht. Schließlich waren sie öffentlicher Schändung preisgegeben. Die gegen sie gerichteten Verfahren sind mit allen Mitteln der moralischen Vernichtung und satanischer Bestialität buchstäblich veranstaltet worden.
Alles Furchtbare war ihnen zugedacht - aber eins konnte nicht erreicht werden: das innere Zerbrechen. Sie blieben Charaktere in den Ölbergstunden, am Pranger und im Sterben. Ihre Abschiedsbriefe sind Dokumente der seelischen Größe, der nicht posierenden Vaterlandsliebe und des ruhigen Gewissens. Zum Zweiten ein Wort der Hochachtung. Die Märtyrer haben nicht nur den Sturz der Tyrannis erstrebt. Sie haben mehr über den Gehalt der neuen Zeit nachgesonnen als über die technische Planung des den Weg der Rettung frei machenden Unternehmens. Sie hatten die Saat vorbereitet: die rechtlichen und staatsphilosophischen Fundamente für eine Zeit des moralischen und staatlichen Wiederaufbaues lagen bereit. Europa war in die Planung einbezogen. Wir wissen nicht alles, was vorgeschlagen und durchleuchtet worden ist. Aber was wir wissen, nötigt uns Achtung ab. Sie wollten eine sittliche Erneuerung, nicht nur eine Änderung der Verwaltungstechnik. Sie mühten sich um die Sanierung einer missbrauchten, betrogenen und vergewaltigten Nation und um Verständnis bei einer aufgebrachten Welt. Nach der Pervertierung der Autorität und der Strapazierung jeden Ordnungsprinzips hielten sie Rezepte der Heilung bereit.
Die Macht war ihnen ebenso wie die Tat des 20. Juli nur ein Mittel des Erbarmens mit dem Volk, dessen Bedürfnis nach einer moralisch fundierten Autorität und einer ausgewogenen Ordnung ihnen offenbar geworden war. Autorität sollte auf Vertrauen beruhen und nur von solchen Männern ausgeübt werden, deren Lauterkeit, Selbstlosigkeit und Können erprobt waren. Sie proklamierten in der vorbereiteten Regierungserklärung „die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“. Der Staat sollte von Ehre und Tugend gehütet werden. Diese Formulierungen mögen uns heute zu ethisch, ja zu romantisch erscheinen. Das Bild von Staat, Recht und Pflicht war unter den damaligen Verhältnissen gedacht, auf einen Übergang zugeschnittenen und folglich auf eine Therapie des gesteuerten Klimawechsels ausgerichtet.
Für diese Männer war die Revolution ein lästiges Werk für Stunden. Es sollte die Bevölkerung nicht in Mitleidenschaft ziehen und kein Chaos erzeugendes Vakuum entstehen lassen. Ordnung sollte den Terror nahtlos ablösen. So viel Ethos und Rücksicht auf andere mussten freilich die eigenen Risiken und Nachteile steigern. Sie haben das gewusst und sind dennoch den Weg der Rücksicht gegangen. Nicht nur ihnen ist der Erfolg versagt geblieben. Auch uns! Wir beklagen das Schicksal der Wagenden und stellen fest: Die gemordeten Frauen und Männer des Widerstandes fehlen uns heute. Sie fehlen in Staat, Heer und Gesellschaft. Wir vermissen sie schmerzlich. Manche Mängel unserer Tage sind zurückzuführen auf die sadistische und gezielte Vernichtung von Kräften pflichtbewusster Gesinnung und gediegener Schulung.
Dieses Schicksal hat nicht nur uns getroffen. Die Elite aller Völker, die in die Gewalt des Unmenschentums gefallen waren, ist dezimiert worden. Die Blutopfer der jüdischen Europäer sind ohne Beispiel. Wir bekunden ihnen und ihren hier anwesenden Repräsentanten nicht nur unsere konventionelle Anteilnahme. Wir teilen ihren Schmerz und verstehen ihre Empörung. Wir schließen ihre Opfer ein in diese Stunde des Gedenkens, der Trauer, der Hoffnung, der Achtung und der Mahnung.
Zum Letzten ein Wort der Mahnung. Die Blutzeugen des deutschen Widerstandes stammen aus allen Schichten des deutschen Volkes und aus allen Gegenden Deutschlands. Sie unterscheiden sich jedoch in ihren Grundanschauungen. Zum Beweis brauche ich nur zwei zu nennen, mit denen ich in den heißen Kampfjahren vor 1933 in Berührung gekommen war: Bolz, Leuschner; der eine ein biederer sozialbürgerlicher Zentrumsmann, der andere ein sozialdemokratischer Gewerkschaftler. Und doch stimmten sie überein in Motiv und Ziel und verkörperten damit einen spektakulären Querschnitt des Volkes. Sie fochten für Recht und Würde der Persönlichkeit, für Gewissens- und Koalitionsfreiheit und für die Rettung des Volkes vor den unauslotbaren Tiefen der anrollenden Katastrophe. Wenn sie auch scheiterten: das mahnende Beispiel ist geblieben. Motiv und Ziel mögen auch uns einig machen, unser Vaterland zu lieben; seine Einheit mit friedlichen Mitteln wiederherzustellen; die Verständigung mit den Nachbarn zu suchen; Deutschland als eine Schicksalsgemeinschaft aller Stände und nicht als Interessenhaufen zu sehen; die Freiheit nicht nur zu genießen sondern durch Opfer zu erhalten und wachsen zu machen; die Achtung der Persönlichkeit in zuverlässiger gegenseitiger Toleranz zu verankern; jeder Diskriminierung Anderer und jedem Kollektivurteil zu widerstehen; schon den Anfängen eines Neo-Nationalismus zu wehren und schließlich eine Verniedlichung des Schrecklichen nicht zuzulassen.
Die bittere Erfahrung lehrt: es gibt keine Neutralität gegenüber der Barbarei und ihren Vorläufern. Wer nicht gegen sie ist, fördert sie. Zu wenig gegen sie getan zu haben, kann ebenso schlimm sein wie untätig geblieben zu sein. So wenig der Bürger ohne den Staat zu existieren vermag, so wenig kann der Staat funktionieren, dessen Bürger ihre Pflichten vernachlässigen oder die demokratische Freiheit als Freibrief für Egoismen auffassen. Wir sind gewarnt! Wir können nicht abermals vorgeben, wir seien ahnungslos gewesen. Die Verantwortung liegt vor Gott und der Welt auf uns. Die Bundesregierung, in deren Auftrag ich die Teilnehmer grüße, hat sich nicht nur durch ihren Aufruf, die Kranzniederlegung und die Teilnahme an der heutigen Feierstunde zu den Blutzeugen des deutschen Widerstandes bekannt. Sie fühlt sich in ihrem Denken und Handeln dem Geist des 20. Juli verpflichtet. Sie bekundet den Opfern und ihren Angehörigen ihre Ehrfurcht und stellt sie uns allem zum Vorbild.

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