Das Wissen über die Vergangenheit an die junge Generation weitergeben

Michael Müller

Das Wissen über die Vergangenheit an die junge Generation weitergeben

Ansprache des Bürgermeisters von Berlin Michael Müller am 19. Juli 2014 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle sehr herzlich im Berliner Rathaus. Zugleich darf ich Ihnen auch die besten Grüße und Wünsche von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit überbringen. Es freut uns sehr, dass Sie unserer Einladung zu diesem traditionellen Empfang am Vorabend des 20. Juli erneut so zahlreich gefolgt sind. In diesem Sinne Ihnen allen nochmals ein herzliches Willkommen.

Wie Sie wissen, ist 2014 ein sehr besonderes Gedenkjahr für Berlin, für Deutschland und für Europa insgesamt: Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg. Zudem ist es nun 25 Jahre her, dass die Menschen in der DDR für ihre Freiheitsrechte auf die Straße gingen. Kurz darauf fiel die Mauer und Berlin und Deutschland wurden nach Jahrzehnten der Teilung wiedervereint.

Die jungen Berlinerinnen und Berliner von heute kennen Diktatur, Verfolgung und Unfreiheit nicht aus eigenem Erleben. Sie wachsen in einer Stadt auf, die nicht mehr zu leiden hat unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs, der Teilung und des Kalten Kriegs. Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmtheit sind für sie selbstverständlich.

Umso wichtiger ist es, das Wissen über die Vergangenheit an die junge Generation weiterzugeben. Nur so können wir aus der Geschichte lernen. Und nur so können wir auch bei jungen Leuten das Bewusstsein dafür schärfen, wie unverzichtbar demokratische Grundwerte wie Offenheit, Liberalität und Toleranz für unser Zusammenleben heute sind.

Die Erinnerung an die Ereignisse rund um den 20. Juli 1944 zeigt dies in besonderer Weise.

Genau 70 Jahre ist es morgen zwar bereits her, dass sich die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegen Hitler erhoben. Und doch berührt ihre heldenhafte Tat bis heute. Denn wir blicken auf Männer und Frauen, die in größter Not persönliche Verantwortung übernahmen. Die ebenso entschlossen wie verzweifelt versuchten, Krieg und Völkermord noch in letzter Minute zu stoppen. Es gab dabei für sie in der deutschen Geschichte kein Vorbild und kein Beispiel, auf das sie sich hätten berufen können. Es gab nur die Stimme des eigenen Gewissens. Und dieser Stimme sind sie auch gefolgt.

Damit haben die Verschwörer des 20. Juli bleibende moralische Maßstäbe gesetzt.

Ihr Umsturzversuch ist zwar gescheitert. Doch er war deshalb nicht umsonst: Stauffenberg und seine Mitstreiter haben eindrucksvoll bewiesen, dass auch im Schatten eines verbrecherischen Regimes Widerstand möglich ist. Dass man sich selbst unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur anders verhalten konnte als die überwiegende Mehrheit der Deutschen.

So sahen es auch die Attentäter selbst: Nicht allein um Erfolg oder Misserfolg ging es ihnen. Sondern darum, ein Zeichen zu setzen und – wie Joachim Fest in seiner Analyse des 20. Juli schrieb – „durch eine große verneinende Geste Widerspruch einzulegen gegen Hitler und alles, was er und seine Herrschaft bedeuteten.“

Genau das ist es auch, was bis heute bleibt: Die Auseinandersetzung mit einer verantwortungsvollen Tat, die in Deutschlands dunkelster Stunde ein deutliches Zeichen des Anstands, der Humanität und der Würde setzte.

Die Männer und Frauen des 20. Juli haben für den Kampf um ein anderes, ein besseres Deutschland ihr Leben gegeben. Auch deshalb müssen wir die Erinnerung an den 20. Juli von Generation zu Generation weitergeben. Denn was diese mutigen Menschen damals riskiert haben, lehrt viel über die Bedeutung von Freiheit und Demokratie, von Menschlichkeit, Zivilcourage und Toleranz. Und wie wichtig es ist, für diese Werte einzustehen und sie gegen Angriffe wirkungsvoll zu verteidigen.

Ich bin daher sehr froh darüber, dass das Gedenken an den 20. Juli 1944 heute einen angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur gefunden hat. Sie als Angehörige der Widerstandskämpfer hatten daran großen Anteil.

Ich verweise nur auf die Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Vor knapp drei Wochen erst haben wir dort die neue Dauerausstellung zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus eröffnet. Vieles, was lange Zeit zu wenig Beachtung fand, bekommt nun eine größere Würdigung. Und man muss hinzufügen: Dass der Bendlerblock überhaupt als zentraler Ort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus im öffentlichen Bewusstsein verankert werden konnte, ist in erster Linie Ihr Verdienst – das Verdienst der Überlebenden des 20. Juli und ihrer Familien: Sie haben diesen Gedenkort begründet. Und sie haben sich dafür eingesetzt, dass unsere Gesellschaft den Widerstand gegen Hitler endlich wertschätzt.

Heute betrachten wir den 20. Juli 1944 als eines der wichtigsten Daten der jüngeren deutschen Geschichte. Doch wie Sie wissen, war das nicht immer so: Gegen die heldenhaften Wehrmachtsoffiziere und ihre Verbündeten gab es in der jungen Bundesrepublik viele Ressentiments. Manchen galten sie gar als „Feiglinge“ und „Verräter“. Der Staatsstreich einer Minderheit warf offenbar ein zu schlechtes Licht auf den Gehorsam bzw. das Schweigen der Mehrheit. Die DDR-Geschichtsschreibung wiederum hat den Widerstand des 20. Juli diskreditiert, wo sie nur konnte.

Mir ist bewusst, wie sehr viele von Ihnen unter dieser Sichtweise gelitten haben. Ein angemessener Umgang mit Ihnen als Hinterbliebene sowie eine Würdigung der Tat selbst blieb Ihnen lange Jahre verwehrt. Dass sich das inzwischen geändert hat – das haben wir insbesondere Ihrem unermüdlichen Engagement zu verdanken. In diesem Sinne Ihnen allen nochmals herzlichen Dank für all das, was Sie für das ehrende Gedenken getan haben und für die vielen Impulse, die Sie unserem Land gegeben haben.

Gerade dieses Jahr, da Berlin den 25. Jahrestag von Friedlicher Revolution und Mauerfall begeht, bietet vielfältigen Anlass, mit jungen Menschen auch über die herausragende Rolle des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu sprechen. Denn auch sie müssen wissen, dass Freiheit, Toleranz und Weltoffenheit unserer Stadt nicht in den Schoss gefallen sind. Sondern, dass sie hart erkämpft werden mussten – und das in besonderer Weise von den Attentätern des 20. Juli, die heute zu Recht als Vorkämpfer unserer freiheitlichen Demokratie anerkannt und gewürdigt werden.

In diesem Sinne lassen Sie uns das Gedenken an den 20. Juli wie auch an die gesamte Bandbreite des Widerstandes gegen Hitler weiterhin lebendig halten.

Ich wünsche Ihnen noch einen anregenden Abend im Berliner Rathaus.







Weitere Reden

19.07.2014
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück