„Dem Menschlichen innerhalb des öffentlichen Raumes Geltung verschaffen“

Theodor Steltzer

„Dem Menschlichen innerhalb des öffentlichen Raumes Geltung verschaffen“

Rede von Theodor Steltzer am 20. Juli 1961 in der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Ich sage der Johann Wolfgang Goethe-Universität meinen aufrichtigen Dank, dass sie mich, ihren Ehrenbürger, mit der ernsten und verantwortungsvollen Aufgabe betraut hat, heute zu Ihnen zu sprechen.

Der 20. Juli soll uns mehr als ein Tag des Gedenkens sein, wenn wir auch an erster Stelle Aller gedenken wollen, die durch ihren persönlichen Einsatz diesen Tag zu einem so bedeutsamen Ereignis in unserer neueren Geschichte gemacht haben. Aber gerade der Gedanke an unsere Toten verpflichtet uns zu mehr als einer stillen Feier. Es genügt auch nicht, uns noch einmal die großen Zusammenhänge deutlich zu machen, in denen der 20. Juli einen so hohen Rang einnimmt, so wichtig auch dieses ist. Nein, am heutigen Tage haben unsere Toten das Recht, von uns Rechenschaft zu verlangen, ob wir auf dem Wege sind, ihr Vermächtnis zu verwirklichen.

Ein Überblick über die verschiedenen Widerstandsgruppen zeigt ein verwirrendes Bild. Das ist in einer Zeit nicht verwunderlich, in der gemeinsame Vorstellungen über die Grundfragen unserer Existenz fehlten. Die Motive und Ziele dieser Gruppen waren deshalb von sehr verschiedener Art. Da gab es die Kreise um Goerdeler und Popitz, die auf dem Wege eines Staatsstreichs den alten Rechtsstaat wieder aufrichten wollten. Da gab es den Kreis der alten Gewerkschaftsführer um Leuschner und einen militärischen Kreis um Generaloberst Beck.

Ich erwähne noch den Kreisauer Kreis, der Konservative, Liberale und Sozialisten umfasste, und sich in erster Linie mit den Fragen der gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Zusammenbruch beschäftigte. Ich wollte nur an einigen Beispielen auf diese Mannigfaltigkeit hinweisen, um eine grundsätzliche Unterscheidung machen zu können. Es ist etwas anderes, ob man damals aus verständlichen, politischen oder militärischen Gründen oder aus anderen mehr vordergründigen Gesichtspunkten Hitler ablehnte oder ob man letzthin aus einer persönlichen Entscheidung des Gewissens handelte. Nur von dieser zweiten Gruppe will ich heute sprechen. Denn durch sie erhielt der 20. Juli seinen einmaligen Rang als ein Aufstand des Gewissens, als ein elementarer Durchbruchsversuch in die Freiheit und ein Angriff auf das Unmenschliche und Böse als Ganzes. Es genügt nicht, heute ein System abzulehnen, das uns in Unglück und Schande gebracht hat, und uns erneut zu rechtlichen und sittlichen Prinzipien zu bekennen. Das Letztere haben wir in der Vergangenheit auch getan. Und trotzdem ist es zu der nationalsozialistischen Katastrophe gekommen. Augenscheinlich reichen die Bejahung allgemeiner Prinzipien und das Wissen um die nationalsozialistischen Gräuel nicht aus, um die heutige Lage zu begreifen und den richtigen Weg zu finden. Hierzu müssen wir auch einen Blick auf unsere Vergangenheit werfen. Das Verhängnis bereitete sich in einer Entwicklung von Jahrzehnten vor, in die wir alle verstrickt waren.

Am problemlosesten war oberflächlich gesehen die kaiserliche Zeit. Unsere Menschen lebten scheinbar beruhigt in einer trügerischen Sicherheit. Doch waren die Vorboten des Unheils für den, der in den Jahren vor 1914 unbefangen in die Welt sah, bereits erkennbar. Das großartige humanistische Bild von der sittlichen Autonomie des Menschen hatte sich nicht verwirklicht. Stattdessen hatte der Mensch mit dem Verlust einer geistigen Basis das Zentrum und die Einheit seines Wesens an einen egozentrischen Individualismus verloren, in dem seine Fähigkeit zum universalen Denken und seine Bereitschaft zu einer Verantwortung für das Ganze immer mehr verkümmerten.

Der Geist verengte sich zur reinen Intellektgläubigkeit. Staat, Rechtspflege und Wirtschaft wurden von Menschen aufgebaut, die umso blinder waren, je schwächere geistige Grundlagen sie besaßen. Die Institutionen lösten sich aus ihrem geistigen Grunde und wurden autonome Organisationen. Der Staat wurde nach traditionellen Gesichtspunkten mehr oder weniger autoritär verwaltet und hatte kein Verhältnis zu den Aufgaben der Zukunft.

Das Volk fand sich mit dieser Situation ab, wenn es sich auch häufig über die behördliche Bevormundung ärgerte. Es überwog aber die Befriedigung, dass jeder in der scheinbaren Gesichertheit und in einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung seinen eigenen Geschäften und Interessen nachgehen konnte. Im Grunde ließ man politisch und wirtschaftlich den Dingen ihren Lauf. Das entsprach auch der damaligen Anschauung, dass der Fortschritt sich in einer Art automatischer Aufwärtsentwicklung sozusagen selbst realisiere. Deshalb verzichtete man auf eigene Initiative, da ohnehin alles so abzulaufen schien, wie scheinbar gültige naturgesetzliche Zwangsläufigkeiten es verlangten. Ein englischer Premierminister sagte nach dem Scheitern der deutsch-englischen Flottenverhandlungen resigniert: „Diese Generation kann nicht mehr geistig, sondern nur noch durch Ereignisse geführt werden.“ Er sollte durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur zu Recht behalten. Da jede Ordnungsvorstellung fehlte, wurde auch in seinem Ausbruch eine Eigengesetzlichkeit vermutet, die hinzunehmen war. Deshalb bestimmten politische und militärische Konzeptlosigkeit die Ereignisse. Und auch unsere militärische Führung war nicht fähig umzudenken, und sich von strategischen Vorstellungen zu trennen, die durch die Entwicklung der Waffentechnik längst überholt waren. Zu unserem besonderen Unglück wurde dann mit Ludendorff ein Leiter der Operationen berufen, der von vornherein von einer falschen Beurteilung der operativen Lage ausging und noch 1918 einen Endsieg versprach, während wirkliche Kenner der Lage bereits im April 1915 wussten, dass dieser Krieg militärisch nicht gewonnen, sondern nur noch politisch beendet werden konnte. So kam es, wie es kommen musste, zu Niederlage und Zusammenbruch.

Wir standen damit vor der Notwendigkeit eines neuen Anfanges und der Aufgabe, bei dem Neuaufbau die Konsequenzen aus unseren schmerzlichen Erfahrungen zu ziehen. Trotz aller Niedergeschlagenheit überwog doch ein Gefühl der Erleichterung über die Beendigung des Krieges. Viele hofften, dass man nun mit einer Neuordnung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse beginnen würde. Max Weber rief fast jubelnd aus: „Gott schenkt uns noch einmal einen neuen Anfang.“ Überall zeigten sich Ansätze zur Selbstbesinnung, zur Überwindung alter Vorurteile und zu einer neuen Gemeinsamkeit in der politischen Arbeit. Auch in Literatur, Kunst, Architektur und im Theaterwesen wurden Kräfte und Potenzen sichtbar, die zum Teil noch heute Bedeutung haben. Ich nenne als Beispiel nur das Bauhaus. Die Erwachsenenbildungsarbeit begann und entwickelte sich in einem erfreulichen Wachstum, so dass wir schon hofften, es ließen sich auf diesem Wege von unten lebendige Kräfte wecken, die einmal das Fundament einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung bilden könnten.

Aber der Impuls von unten wurde nicht von oben aufgenommen. Man misstraute den neuen Ansätzen, die rein intellektuell gesehen irrational, revolutionär und deshalb gefährlich erschienen. Ausnahmen wie der preußische Kultusminister Becker konnten sich als Einzelne nicht durchsetzen. In der Praxis der Behörden wurde weiter nach veralteten traditionellen Gesichtspunkten entschieden. Nach der Überwindung des ersten Schocks war es der alten Führungsschicht gelungen, im Wesentlichen die alte Gesellschaftsordnung zu restaurieren. Das Motto war: Nur keine Experimente. Und da die alte Führungsschicht im Grunde den maßgeblichen Einfluss behielt, entsprach auch die neue Reichsverfassung nicht der Verfassungswirklichkeit. Die eigentlichen Machtfaktoren blieben die unpolitische Reichswehr, die unpolitische Wirtschaft und die unpolitische Bürokratie. Aber diese unpolitischen Gruppen waren in der Wirkung im höchsten Maße politisch, weil sie die in Verfassung und Gesetzgebung angestrebte neue demokratische Staatsgesinnung nicht bejahten.

Ein besonderes Hemmnis für ein neues Miteinander bildete der Streit um den Friedensvertrag von Versailles. Vage Vorstellungen von Wilsons vierzehn Punkten, die Legende vom Dolchstoß in den Rücken der siegreichen Armee und die sogenannten Schuldparagraphen des Versailler Vertrages umgrenzten die außenpolitischen Vorstellungen der deutschen Öffentlichkeit mit einem Wall von Halbwahrheiten und Vorurteilen.

Deutschland galt als „im Felde unbesiegt“, hohle Versprechungen der Westmächte hatten es dazu gebracht, die Waffen vor dem Endsieg zu strecken. Der Völkerbund sollte vor allem das System von Versailles verewigen. Die „Erfüllungspolitiker“ waren Nutznießer der Niederlage. Kritik an der Demokratie, am „Westen“ ganz allgemein und an den von den Westmächten propagierten Formen der internationalen Zusammenarbeit verbanden sich zu dem Gemisch von Ressentiment und Überheblichkeit, das die Hassexplosion des Nationalsozialismus erst möglich machte. Es war ein nationales Unglück, dass die Auseinandersetzung mit Versailles sich ganz auf die Kriegsschuldfrage konzentrierte, statt auf die Frage, welche politische Aufgabe Deutschland im Weltstaatensystem des 20.°Jahrhunderts zugefallen war. Ein Blick auf die sich wandelnden weltpolitischen Kräfteverhältnisse, die durch die bolschewistische Revolution in Russland, den Aufstieg der Vereinigten Staaten, den Expansionsdrang Japans und die ersten Selbständigungsregungen der farbigen Völker charakterisiert wurden, hätte die Rangordnung der Probleme in der inneren Auseinandersetzung zurechtrücken können. Es fehlte nicht an welthistorischen und weltpolitischen Spekulationen und gab auch Ansätze zur nüchtern kritischen Analyse – zum Beispiel die Hochschule für Politik in Berlin – wie auch zur ethischen und pädagogischen Bewältigung der Friedensprobleme, wie sie von sehr verschiedenen Ausgangspunkten her Friedrich Wilhelm Förster, Ludwig Quidde, Theodor Litt, Spranger, Max Scheeler und andere versucht haben. Aber alle diese isolierten Bestrebungen vermochten nicht das politische Weltbild der Nation zu wandeln. Lange ehe der Nationalsozialismus die freie Meinungsäußerung unmöglich machte, hatten die Schlagworte des Revisionismus in breiten Schichten der Bürokratie, der Universitäten, der Wirtschaft, die Bereitschaft und die Fähigkeit zur außenpolitischen Neuorientierung erstickt.

Es ist auch heute noch üblich, die Verantwortung für diese Entwicklung allein den Siegermächten aufzubürden, deren Kurzsichtigkeit und Interesselosigkeit wahrhaftig viel zur deutschen Misere der Zwischenkriegszeit beigetragen hat. Doch darüber sollte das Versagen der deutschen Führungsschicht so wenig vergessen werden wie die Pionierleistungen der mutigen Einzelgänger, die vergeblich gegen den Strom ankämpften.

Aber alle Ansätze zu einer Erneuerung von unten hatten nicht genügend Zeit, um sich zu entwickeln, sondern gingen in dem nationalsozialistischen Kurzschluss zugrunde, der sie völlig auszurotten versuchte. Trotzdem liegt in den damaligen Bemühungen eine Hoffnung für die Zukunft, weil an ihnen offenbar wird, dass es in unserem Volke positive Kräfte gibt, an die wir jetzt wieder anknüpfen können und müssen. Zunächst aber wurden damals alle Schlüsselpositionen von einer Führungsschicht kampflos geräumt, die weder ein Konzept hatte noch Initiative besaß und unser Volk ohnmächtig und hilflos der totalitären Diktatur preisgab.

Wer hätte damals handeln können? Eine Revolution war unmöglich, weil unsere Menschen den Maßstab verloren hatten, um die trügerische Oberfläche durchschauen zu können. Dasselbe war bei den Politikern der Fall, die für ein Ermächtigungsgesetz stimmten, bei dem schon damals zu übersehen war, dass es infolge verfassungswidriger Manipulationen keine Legalität besaß und fürchterliche Folgen haben würde.

Vielleicht hätten die Kirchen zu innerem Widerstand aufgerufen, wenn ihnen die Gefährdung des Menschen durch den Totalitarismus klar gewesen wäre. Aber ihre Führung war unsicher. Es gab Bischöfe wie den Grafen Preysing, den Grafen Galen und die Bischöfe Wurm und Lilje, bei denen wir in Gesprächen feststellen konnten, dass sie die Lage klar erkannten und nach Auswegen suchten. Aber andere Bischöfe schickten Ergebenheitstelegramme an Hitler.

Leider versagten auch die Universitäten mit Ausnahme von ganz Wenigen ihrer Vertreter. Spätestens bei der Verkündigung der Judengesetze in Nürnberg 1935 war klar erkennbar, dass wir die Basis des Rechtsstaates verlassen hatten. Leider wurde damals eine Reaktion versäumt, die dem hohen geistigen Rang unserer Universitäten entsprochen hätte.

Im Grunde war die Reichswehr die einzige Gruppe, die nach der Machtergreifung Hitlers noch die Möglichkeit zum Eingreifen besaß. Es gab genug verfassungswidrige Handlungen, die dafür eine Legitimation und eine Verpflichtung abgaben. Aber die Reichswehr hat sich nie mit ihrer Stellung innerhalb der Verfassung auseinandergesetzt. Sie geriet deshalb in eine tragische Verstrickung, die ihre Handlungsfähigkeit und ihr inneres Gefüge zerstörte. Ein Beispiel für diese Verstrickung war einer der höchsten Generale des Kriegsministeriums. Wie er in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Regierung auf die Verantwortung der Reichswehr gegenüber dem verfassungswidrigen Verhalten von Regierung und Partei hingewiesen wurde, sagte er mit Betonung: „Die Reichswehr wird nie vergessen, was sie der Partei verdankt.“ Derselbe General wurde später hingerichtet, weil er sich den Männern des 20. Juli anschloss, nachdem er die Lage klarer erkannt hatte.

So kam es wieder, wie es kommen musste. Es gab keine Kräfte in unserem Volke, die das Verhängnis abzuwehren bereit waren. Die Folgen waren wieder Niederlage und Zusammenbruch.

Nun stehen wir zum zweiten Mal vor der Notwendigkeit eines neuen Anfanges und vor der Frage, ob wir nun dieses Mal bereit sind, aus unseren Erfahrungen Folgerungen zu ziehen. Unsere Aufgabe ist jetzt, uns in erster Linie mit uns selbst auseinanderzusetzen.

Eine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist nicht erforderlich, weil es ihn als etwas Festumrissenes in unserem Volke nie gegeben hat. Er wurde aus vielen Quellen gespeist, die ich heute nicht analysieren kann. Aber beurteilen können und müssen wir ihn nach seinen Taten, die wir alle erlebt haben. Alle idealistischen Erklärungen seiner Führer sind wertlos gegenüber der Tatsache, dass eine amoralische Führung versuchte, Staat und Volk mit ihrer Amoralität zu erfüllen.

In welcher Lage befindet sich nun der deutsche Mensch? Er hat alle geistigen Stützen verloren, die ihm in der Vergangenheit einen Halt gaben. Er ist der Angehörige eines Volkes, in dessen Namen der Geist geleugnet, der Mensch geknechtet, die Welt mit Krieg überzogen und der größte Massenmord aller Zeiten begangen wurde. Bürokratische und technische Apparaturen schränken seine persönliche Freiheit immer mehr ein. Er fühlt sich durch kollektive Gewalten überwältigt, auf die er keinen Einfluss hat, so dass sein Glaube an die Möglichkeit echter gesellschaftlicher Ordnungen verloren gegangen ist. Darum spaltet er sein Dasein auf in eine öffentliche und eine private Sphäre. In der Öffentlichkeit passt er sich den bestehenden Mächten an, aber unter Verzicht auf eine aktive Mitgestaltung. Sofern er noch im echten Sinne produktiv ist, zieht er sich ebenfalls in seinen individuellen Lebensbereich zurück, muss aber feststellen, dass auch hier die produktiven Kräfte absterben, da ihnen eine allgemeine Verbindung fehlt.

In dieser Lage zeigt sich uns nur ein Licht in der Tatsache, dass es deutsche Menschen gegeben hat, die lieber gestorben sind oder schwere Leiden auf sich genommen haben, als sich der Macht des Bösen zu unterwerfen. Wir kennen ihre Zahl nicht. Denn es handelt sich nicht nur um die am 20. Juli unmittelbar Beteiligten, sondern um alle, die in Not und Unterdrückung an ihren humanistischen und sittlichen Idealen festhielten, die in den Konzentrationslagern und im Ghetto deswegen gemartert und gemordet wurden, und um viele Einzelne, von denen wir nichts wissen. Es gehören dazu auch unsere jüdischen Mitbürger, die aus unserem Lande vertrieben oder zu vielen Hunderttausenden in bestialischer Weise umgebracht wurden.

Alle diese Kreise gehören zu dem eigentlichen Deutschland, für das der 20. Juli ein gemeinsames Symbol ist. Sie haben die deutsche Ehre gerettet und sind glaubwürdige Zeugen, dass es das andere Deutschland gibt. Ihr Vermächtnis gibt uns den Auftrag zu einer solidarischen Gemeinsamkeit in der Arbeit für das Ganze und zur Schaffung neuer Ordnungen, in denen der Mensch auch Mensch sein kann. Deshalb verbindet uns der 20. Juli nicht nur wieder mit den großen Zeiten unserer eigenen Geschichte, sondern auch mit dem Edelsten und Größten, das in der Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Es ist der gleiche Wille zur Freiheit des Einzelnen und zu einem Miteinander, der die dem 20. Juli vergleichbaren Ereignisse der jüngsten Geschichte kennzeichnet. Zum 17. Juni 1953, zum ungarischen Aufstand 1956 und zu allen anderen Freiheitsbewegungen besteht von den geistigen Grundlagen des 20. Juli aus eine Verbindung. Und wenn wir weiter in die Geschichte zurückgreifen, dann finden wir, dass die Geschichte in einem wohlverstandenen Sinne immer dann groß war, wenn Überzeugungen lebendig und wirksam wurden, die auch die eigentlichen Kräfte des 20. Juli waren.

Deshalb ist der 20. Juli das einzig sichtbare Symbol des eigentlichen Deutschlands. Dass er nicht zum Symbol unserer nationalen Gesinnung wurde, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Verhängnis der Spaltung sich fortsetzt. Auf der einen Seite herrschen noch Resignation, Skepsis und mangelnde Bereitschaft zur inneren Besinnung. Auf der anderen Seite gibt es noch zu viele, die sich weiter von alten restaurativen Anschauungen leiten lassen, um im Grunde alle für verdächtig und weltfremd halten, die die säkularen Bereiche von übergeordneten geistigen Gesichtspunkten aus beurteilen und gestalten wollen.

Ich habe bisher in erster Linie Symptome angeführt, die auf eine Gefährdung unserer inneren Situation schließen lassen. Wir müssen aber darüber hinaus versuchen, zu den eigentlichen Gründen vorzustoßen, aus denen diese Lage erwachsen ist. Hier zeigt sich uns, dass wir zu sehr an den Automatismus einer anthropologischen, naturwissenschaftlichen und soziologischen Entwicklung glauben, die niemals zu einem Gleichgewicht führen kann, wenn man sie sich selbst überlässt.

Geist und Wirklichkeit stehen dann nebeneinander, ohne ihre gemeinsamen geistigen Wurzeln zu erkennen. Der Geist verengt sich zu einer reinen Intellektgläubigkeit. Die Natur ist aber auf diesem Wege Objekt eines materiellen Prozesses geworden, der sie zur reinen Materie herabwürdigt. Nur in der Polarität und letzter geistiger Einheit von Geist und Natur können wir einen Boden erreichen, hoch und tief genug, um die Gewichte gleichmäßig zu verteilen. Zur Zeit ist hier ein Gleichgewicht nicht vorhanden. Für die Stärke aber, die solche Spannungen erreichen können, war der nationalsozialistische Kurzschluss ein alarmierendes Zeichen. Man kann mit Recht bei einer Zunahme dieser Spannungen befürchten, dass man es eines Tages aufgibt, sie geistig zu bewältigen und erneut den Versuch macht, mit den Widersprüchen und Gegensätzen autoritär fertigzuwerden.

Diese Gefahr kann nicht überwunden werden, solange die Mehrzahl unserer Menschen diesen Spannungen in völliger Passivität gegenübersteht und nicht erkennt, dass der Schlüssel für die Überwindung der Gefahr bei ihnen selbst liegt. Sie verschließen sich gegenüber der Situation und wollen nicht wahrhaben, dass auch in ihnen negative Kräfte vorhanden sind, die gefährlich weiterwuchern, wenn man sie sich selbst überlässt. Sie suchen die Schuld außerhalb von sich selbst und schieben sie auf die Automatik der Entwicklung oder auf irgendwelche Sündenböcke. Ein solcher Typ war z.B. der Präsident einer Industrie- und Handelskammer, der mir noch vor wenigen Jahren sagte, dass die Wirtschaft amoralisch sein müsste, weil es ihre einzige Aufgabe sei, die ökonomischen Gesetze einer sich autonom entwickelnden Wirtschaft zu erkennen und zu vollziehen. Ich glaube und hoffe, dass diese Art von Vulgärmarxismus im Schwinden ist. Aber die Mehrzahl der Menschen überlässt sich weiter dem angeblichen Automatismus, der anthropologischen Entwicklung und merkt gar nicht, dass auf diesem Wege ihr inneres Gleichgewicht verloren geht, das der Mensch braucht, um wirklich Mensch zu sein. Dieses Gleichgewicht kann der Mensch nur erreichen, wenn er von einer verbindlichen geistigen Grundhaltung aus die negativen Kräfte in sich bindet.

Die Hauptschwierigkeit für eine Unterbrechung dieser negativen Entwicklung liegt nun darin, dass der Mensch nur durch eigene Einsicht dazu kommen kann, die Gefährdung seiner Existenz zu begreifen. Für den modernen Menschentyp sind Aufrufe zur religiösen Besinnung oder Appelle an die Erhaltung der abendländischen Werte wirkungslos, weil diese Werte für ihn museal, unverbindlich oder sogar unglaubwürdig geworden sind. Er kann nur von der Situation angesprochen werden, in der er sich tatsächlich befindet.

Ich halte es für durchaus möglich, Kräfte zu mobilisieren, die aus der Klärung dieser Situation zu einer neuen geistigen Grundhaltung hinfinden. Dieser Weg muss auch gefunden werden, weil sonst der Aufbau einer lebendigen Demokratie unmöglich ist und der Weg weiter abwärts geht. Hier zeigt sich nun eine weitere Schwierigkeit. Es genügt nicht, dem Menschen zu einer neuen geistigen Grundhaltung zu verhelfen. Er muss von ihr aus auch einen Weg in die konkrete Wirklichkeit finden. Das ist nicht einfach, weil auch in unseren gesellschaftlichen Ordnungen kein Gleichgewicht vorhanden ist. Auch in ihnen sind positive und negative Antriebkräfte vorhanden, die wir noch nicht bewältigt haben und deren äußeres Bild es dem einzelnen Menschen fast unmöglich macht, diese kontroverse Situation zu durchschauen. Deshalb müssen wir einen gangbaren und glaubwürdigen Weg zu Ordnungen zeigen, die der Mensch wieder mitvollziehen kann. Auch dieses ist möglich. Es erfordert aber sehr gründliche Vorarbeiten. Denn es handelt sich nicht nur darum, die vorhandenen beunruhigenden Entwicklungstendenzen deutlicher zu erkennen. Wir müssen auch die Gestaltungsmöglichkeiten unserer gesellschaftlichen Ordnungen selbst neu durchdenken. Von einer gemeinsamen geistigen Grundhaltung aus wird es aber möglich sein, einen Rahmen zu finden, innerhalb dessen sich die Gegensätze relativieren lassen und dadurch Voraussetzungen für die Herbeiführung eines Gleichgewichtes möglich werden. Aber wir brauchen Vorstellungen über das, was wir auf weite Sicht überhaupt wollen.

Ich scheue mich, hier von der Notwendigkeit eines Zukunftsbildes zu sprechen, weil dieser Ausdruck zu dem Missverständnis führen könnte, dass es sich um den Entwurf einer totalen Ordnung, eine Patentlösung oder einen politischen Konformismus handelt. Das Entscheidende ist nicht irgendeine schwärmerische Ordnungsvorstellung, sondern das Ausgehen von einer geistigen Grundhaltung, wie wir es bei den Männern und Frauen des 20. Juli erlebt haben. Eine gemeinsame geistige Grundhaltung schließt viele Varianten in persönlichen Meinungen nicht aus. Jedenfalls habe ich den Optimismus, dass Menschen, die sich übergeordneten und unrelativierbaren Werten verpflichtet fühlen, auch im Konkreten gemeinsame Lösungen finden werden. Aber zur Zeit ist noch kein Anfang gemacht, uns stärker auf diese Grundfragen zu besinnen.

Deshalb fürchte ich, dass Walter Dirks Recht hat, wenn er die Demokratie in der Bundesrepublik noch nicht für gesichert hält, da die demokratische Haltung der Bürger noch nicht erprobt sei und niemand wisse, wie viele in Wirklichkeit Mitläufer der Demokratie und Demokraten auf Zeit seien.

Was ist nun in den letzten 16 Jahren bei uns geschehen, um dieser Situation zu begegnen? Es hat sich viel Erfreuliches ereignet. So sind Anzeichen vorhanden, dass bei einer zunehmenden Anzahl von Menschen ein Besinnungsprozess eingesetzt hat und ein über die persönlichen Lebensinteressen hinausgehendes Verantwortungsgefühl entsteht. Auch in den Kreisen der Wirtschaft wächst die Einsicht, dass man der Arbeiterschaft in einer neuen Sozialordnung Raum für verantwortliche Mitarbeit geben muss. Es zeigen sich wieder lebendige Ansätze von unten in allen Zweigen der Erwachsenenbildung und in zahlreichen unorganisierten Arbeitskreisen und Aussprachegemeinschaften. Es besteht auch kein Zweifel, dass sich die politische Führung aufrichtig zu übergeordneten geistigen und sittlichen Werten bekennt. Aber ich sagte bereits, dass das Bekenntnis zu allgemeinen Prinzipien nicht ausreicht, um den Menschen der Gegenwart anzusprechen. Dafür ist es nötig, die Bemühungen um die entscheidenden Fragen unserer Existenz in der praktischen Arbeit sichtbar und überzeugend zu machen.

Ein sofortiges Bekenntnis zum 20. Juli hätte damit einen Anfang gemacht und dadurch klärend gewirkt. Ich halte es für ein großes Versäumnis, dass es nicht geschah. Die spätere Anerkennung war nicht in jeder Beziehung überzeugend. Jedenfalls sind mir maßgebliche Persönlichkeiten bekannt, bei denen ein starker Druck nötig war, um sie für eine positive Erklärung zum 20. Juli zu gewinnen. Und das innere Gefüge der Bundeswehr bleibt gefährdet, solange der 20. Juli statt eines Integrationsfaktors noch einen Spaltpilz im Offizierskorps bildet.

Ein zweites Versäumnis besteht in der Art unserer Personalpolitik. Auch hier bestand eine Möglichkeit, den entschlossenen Willen zu neuen Wegen und Ordnungen sichtbar zu machen, indem man für die politischen Aufgaben in der zentralen politischen Führung nur Persönlichkeiten auswählte, die glaubwürdige Exponenten einer neuen, auf moralischen Grundlagen aufgebauten, demokratischen Staatsgesinnung waren. Es ist kein gutes Zeichen in einer Zeit, in der es wieder um den Primat sittlicher und geistiger Werte geht, wenn die fachliche Leistung höher bewertet wird.

Ich erwähne ferner, dass sich erfreulicherweise im Lande unabhängige Kräfte regen und sich mit den Problemen der neuen Weltwirklichkeit befassen. Besonders sind die unorganisiert entstehenden kleinen Aussprachegemeinschaften hierfür ein gutes Zeichen und erinnern mich fast an den ersten Aufbruch der Erwachsenenbildung nach dem Ersten Weltkriege. Aber damals wie heute lebten diese Gruppen zu isoliert voneinander und waren für sich allein nicht in der Lage, einen Überblick über die Gesamtsituation zu gewinnen, der für ein neues Bild der Gesellschaft nötig ist. Die politische Führung gewann damals kein inneres Verhältnis zu dieser Erneuerungsbewegung, da sie in ihr einen neuen, fast unheimlichen Zeitgeist fühlte, den man kontrollieren musste. Sie hatte damit nicht Unrecht. Denn die restaurativen Elemente dieser Zeit konnten wesensmäßig keine innere Verbindung zu diesen neuen Kräften besitzen.

Ich habe über diese Lage verschiedentlich mit einem Staatssekretär gesprochen, der das vorhandene Vakuum durchaus sah. Aber auch er vermochte noch nicht über den Schatten der Tradition zu springen, die alle Entscheidungen den Behörden zuschiebt, und schuf eine Organisation, die zentralistisch von oben aufbaute und deshalb kein Vertrauensverhältnis zu den unabhängigen Kräften von unten finden konnte. Auch er wollte von Staats wegen eine Garantie für die richtige politische Linie dieser Arbeit, die nach seiner Ansicht nur bei einer Führung von oben vorhanden war. Deshalb konnte er auch nicht vermeiden, dass diese Führung einseitig wurde und häufig parteipolitische Aspekte zeigte.

Unserer Jugend wird häufig vorgeworfen, dass es ihr an Staatsgesinnung und nationalem Bewusstsein fehle. Aber dazu müsste doch eine Vorstellung darüber vorhanden sein, was langfristig gewollt und in der Praxis angestrebt wird. Das Grundgesetz genügt hierfür nicht, zumal es nicht das ganze Deutschland umfasst und in einer Zeit zustande kam, in der wir durch die Politik des unconditional surrender keine Entscheidung über die eigene Staatsgestaltung hatten. Unser Volk wurde in zwei Teile zerbrochen auf eine Zeit, die von uns niemand übersehen kann. So entstand der westliche Reststaat aus einem Kompromiss mit den Siegermächten, wobei uns nach einer Äußerung unseres Bundeskanzlers ein wichtiger Teil von den Besatzungsmächten aufoktroyiert wurde. Wir erleben einen wenig durchdachten Föderalismus, der merkwürdigerweise zentralistische Entwicklungstendenzen hervorgerufen hat, die für das innere Gleichgewicht von Bund und Ländern nicht förderlich sind. Es scheint mir unter diesen Umständen von unserer Jugend zu viel verlangt zu sein, dass sich an diesem Grundgesetz eine neue Staats- und Nationalgesinnung entzündet. Dafür brauchten wir ein in die Zukunft reichendes Bild von Deutschlands Stellung in Europa und Europas Stellung in der Welt, an dem sich politische Erziehung und Bildung orientieren können. Nur so können Vertrauen und Bereitschaft zur Mitarbeit ausgelöst werden. Dass wir nicht wissen, wann eine Verwirklichung möglich ist, darf uns von diesen Vorarbeiten nicht abhalten.

Auch unserem Bundestag ist es nicht gelungen, ein Vorbild für die Diskussionen unserer nationalen Probleme zu werden. Es gab einige Höhepunkte, zu denen ich auch die letzte Erklärung des Bundestages zur Berlinfrage rechne. Aber sofort werden wieder Stimmen laut, die die Gemeinsamkeit aus parteipolitischen Gesichtspunkten zerreden. Wir sollten doch einsehen, dass es für unsere großen Probleme weder eine konservative noch eine liberale, noch eine sozialistische noch eine amtliche Speziallösung, sondern nur eine gemeinsame Lösung gibt. Jeder, der einer solchen Gemeinsamkeit Steine auf den Weg wirft, gefährdet das Ganze.

Ich sprach über unsere jetzige Entwicklung erneut mit einer führenden Persönlichkeit. Er war in gleicher Weise wie ich über die anthropologischen und soziologischen Entwicklungstendenzen beunruhigt. Aber er glaubte, dass man nicht eingreifen könne. Die Dinge wären so kompliziert, dass die Vorarbeiten für ein langfristiges Konzept nicht von Persönlichkeiten geleistet werden könnten, die von der täglichen Routinearbeit erdrückt würden. Auch fehlten für eine Neuordnung tragende Kräfte.

Wie sehr die zitierte Persönlichkeit die Gefahren der Lage erkannte, ging aus ihrer Antwort auf meine Frage hervor, wie er sich die weitere Entwicklung vorstelle, wenn man sie sich selbst überließe. Er äußerte darauf die Befürchtung, dass dann der wirtschaftliche und administrative Konzentrationsprozess zu Mammutapparaturen führen könnte, die nur noch autoritär zu lenken sind, wobei offen blieb, wer die Autorität stellt.

Wahrscheinlich hat dieser Beamte Recht. Vielleicht sind unsere politischen Persönlichkeiten wirklich so überfordert, dass sie nicht selbst die von mir für nötig gehaltenen Arbeiten leisten können. Dann müssen wir aber einen anderen Weg suchen. Bisher ist hier nichts geschehen. Man hat die Gefahren der Lage nicht erkannt und die Basis, von der aus wir die Aufgaben der Zukunft bewältigen müssen, ist noch nicht gesichert. Ungeformte und untergründige Kräfte schwelen noch in uns und in den Dingen weiter und schaffen den Nährboden, auf dem zukünftige Kurzschlüsse möglich sind. Es besteht eine bestürzende Parallele zu früheren Perioden, in denen wir auch die eigentlichen Probleme nicht erkannt haben und deshalb dem Unheil seinen Lauf ließen.

Es lag mir besonders daran zu zeigen, dass die eigentlichen Wurzeln des Übels in uns selbst und in unserer eigenen Gesellschaft liegen. Deshalb habe ich versucht, uns einen Spiegel vorzuhalten, in dem wir uns selbst erkennen können. Das ist nicht möglich, solange wir die wirkliche Situation dadurch verschleiern, dass wir das Negative in uns verleugnen und außerhalb von uns selbst suchen. Darum müssen wir jetzt die Menschen sammeln und aufrufen, die sich bemühen, einen privaten Bereich zu überwinden, die den Mut haben, sich dem Terror des Apparates entgegenzustellen, und dem Menschlichen innerhalb des öffentlichen Raumes Geltung zu verschaffen.

Sie würden mich missverstehen, wenn Sie mich für einen Pessimisten hielten, weil ich den Ernst der Lage offen dargelegt habe. Nichts kann mich in der Zuversicht erschüttern, dass in unserem Volke die tragenden Kräfte für eine Neuordnung vorhanden sind. Aber wir müssen sie wecken und die gefährlichen Entwicklungstendenzen unserer Zeit bewältigen.

Wenn dieses nicht geschieht, dann könnte allerdings eine Situation entstehen, in welcher der Mensch seinen Personcharakter verliert und die gesellschaftlichen Ordnungen in Anarchie oder Despotie untergehen.

Mir schien der heutige Tag geeignet zu sein, um diese unbequemen Fragen aufzuwerfen, weil der 20.°Juli auf sie eine Antwort gegeben hat. Wenn wir die Dinge ändern wollen, müssen wir den Auftrag der Männer und Frauen des 20. Juli ernster nehmen, als es bisher geschieht.

Ihr Auftrag ist zugleich der Auftrag unserer Geschichte. Nur in seiner Erfüllung können wir die Spaltung und Geschichtslosigkeit unseres Volkes überwinden. Deshalb glaube ich, der Bedeutung des heutigen Tages am besten dadurch Rechnung zu tragen, wenn ich durch die Erinnerung an die Toten die Lebenden zum Nachdenken und zu positiver Mitarbeit an dem Vermächtnis jener aufrufe.