"Der deutsche Widerstand ist Teil der großen europäischen Demokratie- und Freiheitsbewegung."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Christian Wulff

„Der deutsche Widerstand ist Teil der großen europäischen Demokratie- und Freiheitsbewegung.“

Ansprache des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff am 20. Juli 2006 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr verehrte Damen und Herren,

wir dürfen der Geschichte nicht entkommen wollen. Es gibt Tage, die uns auf beklemmende Weise daran erinnern. Der 20. Juli ist ein solcher Tag. Und es gibt Aussagen, aus denen viele die innere Überzeugung des Handelnden so sehr hervor scheinen sehen, dass sie Teil der eigenen Überzeugung und Orientierung wird. Ein Zitat möge dies verdeutlichen:

„Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird“.

Dies sind Worte Henning von Tresckows, kurz vor seinem selbstgewählten Tod am 21. Juli 1944, weil er fürchtete, unter der Nazifolter die Namen seiner Mitstreiter zu verraten. Zu den Wegmarken der Orientierung zählen für mich seit frühen Jahren die Männer und Frauen des Widerstandes gegen Hitler. Sie stehen für das Beste, was wir in der deutschen Geschichte haben. Sie waren bereit, für ihre Überzeugung mit dem Leben einzustehen. Und sie haben durch ihr Beispiel Zeugnis abgelegt für Frieden, für Freiheit und Recht. Deshalb verneigen wir uns vor den Toten.

Die gemeinsamen Feierstunden von Bundesregierung, Stiftung 20. Juli 1944 und Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen zum 20. Juli 1944 sind bewegend.

Es ist eine bedeutsame Tradition geworden, hier im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, am Ort des historischen Geschehens, der ermordeten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 stellvertretend für alle demokratischen Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Diktatur zu gedenken.

Vielfältig waren die Formen des Widerstandes gegen das Nazi-Regime, so wie unter den handelnden Personen des Widerstandes alle Schichten des deutschen Volkes vertreten waren. Ganz zu Recht hat Freya von Moltke vor zwei Jahren anlässlich des 60. Jahrestages des Attentats auf Hitler an diese verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen des Widerstands erinnert: An „den Versuch des Staatsstreichs vom 20. Juli 1944, die Weiße Rose, die Rote Kapelle, die Freiburger Gruppe, den Kreisauer Kreis, Widerstand in den Kirchen und bei den Soldaten, die Zeugen Jehovas, den Widerstand von Einzelnen wie dem einsamen Johann Georg Elser (…)“ oder „von kleinen Netzen von Einzelnen (…), die nie bekannt geworden sind“.

Sie alle vereinte der feste Wille, den Geboten der Menschlichkeit zu folgen und den Willkürakten der Nationalsozialisten entgegenzutreten, die von Gewalt, Rassenwahn und Lüge geprägt waren. Wir wollen heute wie in jedem Jahr all dieser Menschen als selbstlosen Streitern für Menschlichkeit und gegen eine totalitäre Diktatur gedenken. Noch immer gibt es Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, die dem deutschen Widerstand mit Skepsis gegenüberstehen. Es ist manchmal Kritik zu hören, dass der Widerstand in seinen Aktionen sehr unauffällig gewesen sei, zu passiv, in sich programmatisch uneins, in seinen Vorstellungen und Zielen nach unseren heutigen Maßstäben gar undemokratisch und letzten Endes erfolglos.

Es stimmt: Das Ende des Dritten Reiches kam von außen. An dieser Tatsache lässt sich nicht rütteln. Es bedurfte der Alliierten, um die Niederlage der nationalsozialistischen Diktatur herbeizuführen. Nur dadurch konnte Deutschland und konnte Europa von der nationalsozialistischen Gewalt befreit werden. Dafür opferten viele der damaligen Kriegsgegner und heute eng mit uns befreundeter Staaten ihr Leben oder ihre Gesundheit.

Es brauchte bei uns bei manchen Zeit, bis eine Mehrheit der Deutschen verinnerlicht hatte, dass das deutsche Volk den schrecklichen Krieg verloren, dafür aber eine freiheitlich- demokratische Grundordnung gewonnen hatte - im Westen bald nach 1945 und im Osten unseres Vaterlandes nach 1989. Eine „Niederlage, die eine Befreiung war“, dieser These von Karl Dietrich Bracher ist ohne Abstriche zuzustimmen.

Und dennoch: Die Verdienste der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime sind nicht hoch genug zu achten und einzuschätzen. Der 20. Juli 1944 steht – stellvertretend für alle Formen, Gruppen und Personen widerständigen Verhaltens - für ein anderes, für ein menschliches und für ein demokratisches Deutschland. Dieses „andere Deutschland“ hatte auch während der Jahre der NS-Diktatur niemals ganz zu leben und zu wirken aufgehört.

Zum Widerstand gegen das totalitäre NS-System gehörte unendlich viel Mut. Denn zumindest bis die Auswirkungen des Krieges die deutsche Bevölkerung ganz konkret trafen, durch gefallene Angehörige, durch Bombardierungen und durch allgemeine Not, konnte sich die NS-Führung einer mehrheitlichen Zustimmung der Deutschen sicher sein.

Deutschlands hartnäckigster Gegner, Winston Churchill, hat dann nach dem gewonnenen Krieg, im Jahr 1946, vor dem britischen Unterhaus gesprochen: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne eine Hilfe von innen oder außen - einzig getrieben von der Unruhe des Gewissens. So lange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden“, so Winston Churchill.

Das Gedenken an die Opfer der totalitären Unkultur in Deutschland gehört zu unserer Kultur. Historische Verantwortung lässt sich aber nicht auf jährliche Gedenktage und Handlungen an zentralen Mahnmalen reduzieren; wichtig ist über das symbolhafte Gedenken die Kenntnis des historischen Geschehens. Deshalb sind Veranstaltungen wie diese so unendlich wichtig. Nur so wird der Einzelne wie die Gesellschaft insgesamt das Verständnis der Gegenwart angemessen leisten.

Die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes haben bereits sehr früh erkannt, dass der Nationalsozialismus darauf aus war, das „gewachsene Fundament europäischer Menschlichkeit zu zerstören und an dessen Stelle imperialistischen Rassenwahn zu setzen“, wie es Freya von Moltke treffend formuliert hat.

Der deutsche Widerstand ist Teil der großen europäischen Demokratie- und Freiheitsbewegung, die sich seit der Französischen Revolution 1789 - mit Rückschlägen - kontinuierlich fortentwickelt und nach 1989 in fast ganz Europa durchgesetzt hat. Im 19. Jahrhundert erreichte die freiheitlich-demokratische Entwicklung mit dem Hambacher Fest 1832 und der Bürgerlichen Revolution 1848/49 Höhepunkte in den deutschen Ländern. Die Gründung des zweiten Deutschen Reiches „von oben“ und eben nicht als Ergebnis bürgerlichen Partizipationsstrebens ist in diesem Zusammenhang als ein Rückschlag und folgenschwerer Umweg zu bezeichnen. Schmerzlich machte sich das Fehlen führender demokratischer Persönlichkeiten bemerkbar, die - wie etwa Carl Schurz - Deutschland nach 1849 verlassen hatten, um nicht Opfer reaktionärer Politik in den meisten deutschen Staaten zu werden. Es ist bemerkenswert, dass die Dimension der deutschen Auswandererbewegung in die USA jahrzehntelang nur als wirtschaftlicher Verlust gedeutet wurde. Überfällig war die Erkenntnis, dass die Auswanderung vor allem die Demokratiebewegung in Deutschland nachhaltig geschwächt hat.

Auch im zweiten Deutschen Reich wuchs der Wunsch der Bürger nach echter, umfassender Partizipation weiter. Erst 1918 konnte eine demokratische deutsche Republik verwirklicht werden. Diese hatte allerdings durch die verfehlte imperialistische Politik des Kaiserreiches eine schwere Erblast zu tragen. Den nationalsozialistischen Parolen und scheinbar einfachen Antworten auf drängende Probleme der Zeit schenkten viele, viel zu viele Deutsche Glauben. Darin zeigte sich sicher auch die Wirkung, die eine jahrzehntelange obrigkeitsstaatliche Erziehung in den Köpfen vieler Menschen in Deutschland hinterlassen hatte. Die Weimarer Republik hatte es nicht vermocht, eine Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger von den Vorzügen einer Demokratie zu überzeugen, das auch vor dem Hintergrund vieler ungelöster wirtschaftlicher Herausforderungen.

Die Demokratie ist aber die Staatsform, die wie keine andere auf Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist. Heinrich Mann sagte auf die Frage, was seiner Meinung nach die Demokratie ausmache: „Die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind“.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Stabilität von Weimar in ganz erheblichem Maße vom Engagement und von der Zivilcourage ihrer Protagonisten abhing. Diesen Konstruktionsfehler hat dann der Parlamentarische Rat bei den Beratungen zum Grundgesetz beachtet und eine wehrhaftere Verfassung geschaffen. Die scheinbaren Anfangserfolge der Nationalsozialisten überdeckten für viele Deutsche die menschenverachtende Grundhaltung und den totalen Machtanspruch der NS-Diktatur. Viele sahen nur das, was sie sehen wollten, oder ließen sich vom falschen Schein des NS-Staates blenden.

Einige Deutsche haben das Wesen der nationalsozialistischen Unkultur jedoch von Anfang an durchschaut. Sehr früh gab es Pläne, die nationalsozialistische Diktatur durch ein Attentat auf Hitler zu beenden, wenigstens aber entscheidend zu schwächen. Ich nenne an dieser Stelle den Namen von Johann Georg Elser. Später versuchte die genannte Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg die nationalsozialistische Herrschaft durch den Tod Hitlers zu beseitigen.

Andere haben ihre Abneigung gegen den Machtanspruch und gegen die Herrschaft des totalitären NS-Staates durch die Entwicklung konzeptioneller Gegenentwürfe zum Ausdruck gebracht. Beispielhaft für diese Form widerständigen Verhaltens steht der Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Yorck von Wartenberg, die genannt werden müssen.

Erst spät haben die Kreisauer ein Attentat auf Hitler als Auslöser eines Umsturzes in Betracht gezogen und aktiv Verbindungen aufgenommen zum militärischen Widerstand um Graf Stauffenberg. Von den Zielen dieser Gruppe geht aber bis heute eine große Faszination aus. Sicherlich wirken einige der entwickelten Vorstellungen für uns heute fremd, aber wir müssen sie zeitgebunden und im historischen Kontext betrachten.

Nicht zu übersehen sind aber die zahlreichen aktuellen Bezüge. So betont es Hans Mommsen: „Das Kreisauer Programm stellt einen umfassenden Zukunftsentwurf dar, dessen Kühnheit und innere Stringenz von anderen politischen Reformkonzepten des deutschen Widerstands gegen Hitler nicht übertroffen worden ist.“ Mommsen hat zusammengefasst, was den Kern des Kreisauer Denkens, wie er es nennt, ausmacht, nämlich: „Das Konzept der europäischen Regionen, das konsequente Eintreten für einen europäischen Bundesstaat, die entschiedene Frontstellung gegen Nationalismus als politisches Strukturprinzip, die Rückbesinnung auf die im Christentum und Humanismus liegenden gemeinsamen Werte der Europäer gehören ebenso dazu wie der Ruf nach spontaner Solidarität aus christlicher Gesinnung.“

Der Kreisauer Kreis hat diese heute so aktuellen Grundvorstellungen und Überzeugungen bereits um 1940 diskutiert und an Einzelheiten gefeilt. Ich bin von diesen Überlegungen nach wie vor beeindruckt. Einer des Kreisauer Kreises war Helmuth James von Moltke. Sein Name ist untrennbar mit Kreisau verbunden. Dort trafen sich ab 1941 junge Männer und Frauen, um über das Danach, über ein Deutschland nach Hitler, über das Zusammenleben der Völker und die Grundlagen von Staat und Gesellschaft nachzudenken. Sie kamen von links und von rechts, sie waren Protestanten und Katholiken, Adelige und Bürgerliche, Diplomaten und Gewerkschaftsführer.

Sie besaßen Zivilcourage, und sie hatten sehr konkrete Vorstellungen von der Neuordnung in Europa. Bereits 1938 erläuterte Moltke in einem Brief seine Motivation für den Widerstand gegen Hitler: Ihm ging es darum, das „europäische Glaubenbekenntnis gegen das cäsaristische zu verteidigen und vielleicht neu zu formieren“. In Moltke und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern setzt sich die deutsche Tradition jener großartigen europäischen Freiheitsbewegung fort, die 1789 ihren sichtbaren Anfang nahm. In einem Brief aus dem Februar 1939 bekennt Moltke, dass er es als seine „Pflicht und Schuldigkeit“ ansieht, „den Versuch zu unternehmen, auf der richtigen Seite zu sein, was immer es für Unannehmlichkeiten, Schwierigkeiten und Opfer mit sich bringen mag“. Deutlicher kann man ein Bekenntnis für die großen europäischen Ideale Freiheit und Demokratie nicht ablegen. Für seine Überzeugungen war Moltke in letzter Konsequenz auch bereit, sein eigenes Leben zu opfern. Vielleicht ahnte er bereits 1939, dass es dazu kommen würde.

Indem die Frauen und Männer des 20. Juli sich für die Rechte und die Freiheit ihres Volkes opferten, haben sie das christliche Gebot der Stellvertretung befolgt. Sie haben stellvertretend gehandelt, hoffnungsgebend für diejenigen, die durch staatliche oder gesellschaftliche Gewalt gehindert sind, frei zu reden und zu handeln.

Die Schwägerin Dietrich Bonhoeffers, Emmi Bonhoeffer, hat eindringlich am Beispiel ihres Mannes Klaus Bonhoeffer beschrieben, was die Triebfeder des Widerstandes war: „Mein Mann vertrat die Ansicht, dass Hitlers größtes Verbrechen die Verwüstung der Rechtsbegriffe sei. Menschenrechte zu beugen, Willkür an Stelle von Justiz zu setzen, hieß für ihn, das Fundament von Kultur aufzureißen. Ich glaube, dass die Erziehung der Söhne in den Familien, in denen der Widerstand aufkam, die Erziehung schon auf dem Schulhof selbstverständlich den Schwachen vor dem Brutalen zu schützen, es ihnen später unmöglich machte, staatlich sanktioniertes Verbrechen mit anzusehen und sich aufs Abwarten zu verlegen. Nichts galt damals für schändlicher als sich ‚unritterlich’ verhalten zu haben; so nannte man das.“

So antiquiert der Begriff „Ritterlichkeit“ heute sein mag, so stand er für zahlreiche Widerstandskämpferinnen und -kämpfer für höhere Werte. Ritterlichkeit, das Eintreten für die Entrechteten, ist ein erster Schritt zur „Wiederherstellung des menschlichen Anstands“, wie Carl Goerdeler es anstrebte. Dies ist nichts anderes als der Versuch zur „Wiederherstellung des zerstörten Menschenbildes“, wie man es im Kreisauer Kreis nannte.

Mit Kritik an den Vorstellungen und an der Vorgehensweise des deutschen Widerstandes sollten wir uns heute, die wir die Vorzüge einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in großer Selbstverständlichkeit genießen, eher zurückhalten. Zu Recht hat Klaus von Dohnanyi in seinem Festvortrag zum 20. Juli 1944 vor zwei Jahren die Frage aufgeworfen, ob unter den vielen politisch korrekten Zeitgenossen heute mehr Menschen zum Widerstand in der Gefahr bereit wären als damals? Seine persönlichen Zweifel daran kann ich aus meinen Erlebnissen sehr gut nachvollziehen.

Es hat unendliche Versuche gegeben, wegzusehen, auszuweichen, zu verdrängen; die Versuchung, es sich bequem zu machen. Ehrlichkeit vor der Geschichte erfordert aber das Gegenteil: Wir müssen genau hinsehen, und wir müssen uns immer wieder fragen: Wie hätten wir gehandelt? Wie handeln wir in der Gegenwart? Nur so können wir in der Wahrheit leben und einen Maßstab für das Geleistete, für den ungeheuren Mut der Frauen und Männer des Kreisauer Kreises entwickeln. Gerade deshalb ist es notwendig, an die Opfer zu erinnern, die damals einzelne Deutsche bereit waren auf sich zu nehmen, um ein Zeichen für ein anderes, ein besseres Deutschland zu setzen. Es scheint mir besonders wichtig, diesen Gedanken der Zivilcourage fest in den Köpfen und Herzen vor allem Jugendlicher in Deutschland zu verankern. Ein Hans Scholl zugeschriebenes Zitat sollte uns dabei als Leitspruch dienen: „Nicht: Es muss etwas geschehen, sondern: Ich muss etwas tun“, so der Wortlaut. Eine Aufforderung gerade an Politiker, aber eben an alle Bürgerinnen und Bürger gerichtet!

Wir alle müssen Jugendlichen vermitteln, dass Zivilcourage, Solidarität und Toleranz die schützenswerten Kernelemente unserer demokratischen Gesellschaft sind. Diesen Idealen stand die totalitäre Unkultur des NS-Systems feindlich gegenüber. Das herauszustellen ist Ziel unserer Erinnerungsarbeit in Schulen, in Universitäten und in den vielfältigen gesellschaftlich relevanten Institutionen und Gruppen im ganzen Land.

Wir müssen dazu beitragen, ein Klima der Menschlichkeit zu schaffen. Zivilcourage, Solidarität und Toleranz lassen sich nicht verordnen, aber wir können sie entschlossen vorleben und beispielhaft zeigen. Wir dürfen es nicht hinnehmen, wenn irgendwelche trüben Geister sich erdreisten, Teile unseres Vaterlandes zu so genannten „national befreiten Zonen“ zu erklären.

Diese braunen Irrlichter haben überhaupt keinen Anspruch auf unsere Nation. Dies muss man ihnen durch gelebte Zivilcourage in Wort, Schrift, Bild und Aktion im Rahmen unserer Gesetze ganz deutlich machen. „No-go-areas“ werden in Deutschland nicht geduldet werden! Denn die Nation, das sind wir und nicht nationalistische oder reaktionäre Ewiggestrige! Die Fußball-Weltmeisterschaft mit der überaus herzlichen Gastfreundschaft der Deutschen war ein ermutigendes Signal und eine überzeugende Antwort.

Ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft in großer Solidarität und Eintracht viel deutlicher als bisher auf Provokationen aus den extremistischen Ecken reagiert. Das gilt für das immer noch vorhandene Problem des Rechtsextremismus ebenso wie für Gefahren, die von linken oder fundamentalistisch-religiösen Extremisten ausgehen. Wir dürfen es in Deutschland nie wieder so weit kommen lassen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger gegen Diktatur und Terror aufbegehren müssen! Dies ist für mich das eigentliche Vermächtnis des 20. Juli 1944 und allen Widerstandes gegen die NS-Diktatur.

Der beispielhafte Bürgermut dieser Widerstandskämpfer gibt uns moralische Kraft und zukunftsweisende Orientierung. Überdies macht deren couragiertes Verhalten Mut, unsere aus den Lehren von Weimar und aus den bitteren Erfahrungen mit dem Totalitarismus gestaltete wertgebundene Demokratie gemeinsam hochzuhalten, gerecht weiterzuentwickeln und gegen alle Feinde wehrhaft zu verteidigen.

So lassen sich Erinnerungsverantwortung und unsere Zukunftsverantwortung anschaulich miteinander verknüpfen. Ich bin dankbar, dass uns hierbei die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes als Vorbilder dienen.

Der freiheitlich-demokratisch verfasste Rechtsstaat lebt vom Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Umso mehr man Zivilcourage hat, umso weniger Helden wird ein Land brauchen. Individualismus ist modern und nicht zu beanstanden. Aber wir müssen uns auch für den Staat als Ganzes interessieren und verantwortlich zeigen. Sonst verödet unser demokratisches Wertesystem und würde verwundbar, wenn sich niemand darum kümmert. Dann schlüge die Stunde der Extremisten. Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun schrieb, dass Demokratie keine Pille sei, „die einem morgens verabreicht wird, und abends ist man kuriert“. Nein, „Demokratie ist eine Kultur, die in einer Gesellschaft von unten wachsen und von oben gefördert werden soll“.

Der 20. Juli bedeutet deswegen auch eine Herausforderung an die Jugend in Deutschland, eine Herausforderung, die sagt: „Kauert nicht in den bequemen Nischen des privaten Glücks oder der Resignation, sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer besseren, freieren und gerechteren Welt.“ Bleibt nicht, gegebenenfalls mosernd, auf der Tribüne; Tore werden nur auf dem Spielfeld erzielt.

Seien wir Vorbilder in Sachen Meinungsfreiheit und gelebter Toleranz! Lassen Sie uns gemeinsam die Stimme erheben, wenn die Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihr populistisches Gift in unserer Gesellschaft verbreiten wollen!

Nehmen wir diesen bewegenden Auftrag des 20. Juli 1944 als Verpflichtung an, den uns die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes mit ihrem Mut und ihrem konkreten, persönlichen Handeln hinterlassen haben!







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