Der Stimme des Gewissens folgen

Ramona Pop

Der Stimme des Gewissens folgen

Ansprache der Berliner Bürgermeisterin Ramona Pop am 19. Juli 2017 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrten Damen und Herren

Es ist eine Tradition geworden, Sie am Vorabend des 20. Juli zu einem Empfang ins Berliner Rathaus zu bitten. Und ich habe die große Ehre, Sie dazu heute zum ersten Mal als Bürgermeisterin willkommen heißen zu dürfen. Diese Tatsache mag Ihnen zeigen, dass das Gedenken an den 20. Juli 1944 auch für den neuen Senat von Berlin große Bedeutung hat. In diesem Sinne – auch im Namen des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller: Herzlich willkommen im Berliner Rathaus! Es freut uns sehr, dass Sie unserer Einladung erneut so zahlreich gefolgt sind.

Vor allem aber möchten wir Ihnen allen danken für Ihr wichtiges Engagement. Viele von Ihnen setzen sich seit Jahrzehnten und durch vielfältige Aktivitäten dafür ein, dass die Ereignisse rund um den 20. Juli 1944 niemals in Vergessenheit geraten. Dieses historische Datum liegt morgen zwar bereits 73 Jahre zurück. Doch daran zu erinnern, was wir den mutigen Frauen und Männern des Widerstandes zu verdanken haben – das bleibt gerade auch für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft heute unverzichtbar.

Wir betrachten den 20. Juli 1944 inzwischen zu Recht als einen der wichtigsten Tage der jüngeren deutschen Geschichte. Unser Gedenken gilt dem Versuch, das menschenverachtende System des Nationalsozialismus in letzter Minute zu beenden. Die Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg haben den Umsturz versucht, um den Völkermord zu beenden, den Krieg zu stoppen, den Würgegriff der Diktatur zu brechen – und auch die heraufziehende Katastrophe für das eigene Land abzuwenden. Sie wurden lange als Vaterlandsverräter gebrandmarkt. Heute wissen wir: die Widerstandskämpfer des 20. Juli waren die wahren Patrioten.

Amerikaner und Briten waren bereits in der Normandie gelandet, Stalins Divisionen standen nur hundert Kilometer vor der Grenze Ostpreußens. Mit Hitlers Tod wären der Krieg und die Vernichtungsmaschinerie endlich beendet gewesen. Doch das Attentat scheiterte. Allein zwischen diesem 20. Juli 1944 und der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 kamen noch etwa vier Millionen Deutsche ums Leben. Es starben unzählige Soldaten der Roten Armee, GIs, Briten und Franzosen; hunderttausende KZ-Häftlinge wurden ermordet.

Und dennoch war der Umsturzversuch keinesfalls umsonst. So wie Widerstand gegen Diktatur und Unfreiheit niemals umsonst ist: Stauffenberg und seine Mitstreiter, aber auch zahlreiche andere Männer und Frauen zuvor, die aus ähnlichen Motiven ihr Leben im Widerstand aufs Spiel setzten, haben in dunkelster Zeit moralische Maßstäbe gesetzt. Sie haben bewiesen, dass Widerstand möglich war. Dass es Menschen gab, die ihrem Gewissen folgten, obwohl das für sie und ihre Familien lebensbedrohlich war.

Das macht den 20. Juli zu einem solch besonderen Gedenktag: Wir versichern uns dabei unserer freiheitlich-demokratischen und europäischen Wurzeln. Und wir zeigen damit, dass der 20. Juli keine Episode war, kein gescheiterter Putsch rückwärtsgewandter Wehrmachtsoffiziere – wie es viel zu lange von zu vielen abgetan wurde. Sondern ein „Aufstand des Gewissens“, mit dem ein anderes Deutschland sein Gesicht zeigte. Sie haben Deutschland die Würde zurückgegeben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Freiheit und Demokratie nicht in den Schoß gefallen sind. Dass für Freiheit und Demokratie Männer und Frauen ihr Leben gelassen haben – weil sie an ein anderes, ein besseres Deutschland geglaubt haben. Unsere Werte – unsere gemeinsamen europäischen Werte – müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Denn auch Deutschland, auch Europa sind nicht gefeit vor neuem Nationalismus. Autoritarismus, Einschränkungen der Pressefreiheit und der freien Gerichtsbarkeit sind das Gegenteil eines Kampfes für Einigkeit und Recht und Freiheit.

Sie, meine Damen und Herren, tragen mit Ihrem Engagement viel dazu bei, bei der jungen Generation Verständnis für das Geschehene zu wecken. Und Sie tragen auf diese Weise auch dazu bei, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir für demokratische Grundwerte wie Offenheit, Liberalität und Toleranz immer wieder aufs Neue einstehen müssen.

Wenn Sie erlauben: ich gehöre einer Generation an, für die Freiheit, Liberalität, Internationalität immer selbstverständlich gewesen ist. Das ist einerseits wunderbar. Doch nun merkt auch meine Generation, dass dies keine Gewissheiten sind. Gerade der Aufstieg nationalistischer Populisten in den vergangenen Jahren muss uns eine Warnung sein. Wer den Holocaust verharmlost, wer anderen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder Lebensweise das Menschsein abspricht – der wird den Widerstand der Zivilgesellschaft und die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

In diesem Bewusstsein kann uns die Erinnerung an die Humanität, den Mut und das Verantwortungsbewusstsein der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 bis heute eine starke Orientierung geben. Natürlich: Wir leben heute in einer anderen Zeit. Die Widerstandskämpfer des 20. Juli waren in größter Not bereit, das eigene Leben zu opfern und das Leben der nächsten Angehörigen zumindest zu gefährden. Ihr Widerstand war ein Widerstand auf jede Gefahr. Eine solch übermenschliche Entscheidung ist aus unserer abgesicherten Lebensweise heute kaum zu erfassen. Jedoch zeigt uns ihr Weg, wie unverzichtbar es ist, der Stimme des Gewissens zu folgen und in dunkelsten Stunden Haltung zu zeigen. Die Menschen, derer wir heute gedenken, bieten uns dafür die Maßstäbe. Wir werden die Erinnerung an den 20. Juli 1944 wachhalten. Es ist an uns, der jungen Generation, Verantwortung zu übernehmen und aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen.

Ich danke Ihnen nochmals, dass Sie alle gekommen sind und wünsche Ihnen viele interessante Begegnungen und Gespräche im Berliner Rathaus.







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19.07.2017
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück