Der Zwanzigste Juli 1944-1954

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans Christian Asmussen

Der Zwanzigste Juli 1944-1954

Gedenkrede von Propst Dr. Hans Christian Asmussen am 20. Juli 1954 im Rahmen der Feier der schleswig-holsteinischen Landesregierung in Kiel

Die Geschichte ist mehr als eine Anhäufung von Namen. Große Gedanken, die da sind, ehe sie gedacht werden, Mächte des Geistes, von denen Menschen in Besitz genommen werden, ein Gefälle in den Ereignissen, - dieses und anderes, was überpersönlich ist, prägt uns, und in diesem Sinne werden wir mehr gelebt, als dass wir leben. Wir müssen den Versuch machen, Erkenntnisse darüber zu gewinnen. Dann erst werden wir erkennen, wer wir selbst sind. Dann erst können wir unserer Lebensaufgabe gerecht werden. Am 20. Juli 1944 ist in Erscheinung getreten, was als Möglichkeit über uns waltet. Es drängt danach, dass es Wirklichkeit wird - möglichst schon morgen. Aber wir müssen das Mögliche ergreifen, wir müssen es wollen und dürfen uns nicht treiben lassen. Dreierlei meine ich deutlich zu beobachten:

Wenn es richtig ist, dass wir aus einer Zeit kommen, in welcher verschiedene Klassen gegeneinander standen - und in irgendeinem Sinne ist das richtig -, dann wird die Aufgabe des Morgen, die schon heute angepackt sein will, darin bestehen, das allen Gemeinsame festzuhalten und zu gestalten und dann erst die besondere Gabe und Aufgabe des einzelnen Standes gelten zu lassen. Die Opfer des 20. Juli und alle ihre Genossen aus der Widerstandsbewegung der Jahre 1933 bis 1945 kamen aus allen Parteien, aus allen Ständen und aus allen Berufen. Sie waren nicht Berufsrevolutionäre - das war geschichtlich vielleicht ihr Unglück -; sie suchten ein neues Deutschland. Ein Mitarbeiter einer illegalen Gruppe schrieb damals: „Wir wollen neu beginnen! Wahrhaftig! Der Boden wird noch ein letztes Mal umgepflügt, um für eine neue Saat bereit zu sein. Es wird - oh, es wird.“ Wir würden darum sehr zu Unrecht den heutigen Tag und sein Gedächtnis begehen, wenn wir diese Linie verließen und also nicht bereit wären, neu zu beginnen. Das Opfer, das die Widerstandskämpfer gebracht haben, wäre vergeblich an uns, wenn man an unserem politischen und gesellschaftlichen Leben nicht mindestens den Willen sehen würde, das Gemeinsame, das uns alle verbindet, zu gestalten und als Gemeinsames zu ergreifen.

Annedore Leber hat jüngst in einem Buche mit dem Titel: „Das Gewissen steht auf“ 64 Lebensbilder der Widerstandskämpfer herausgegeben. Wer das Buch liest, ist erstaunt, in welchem Maße das Gewissen in jenen Jahren bereits den europäischen Nationalismus überwunden hatte. Adam von Trott zu Solz, der oft in meinem Hause war, sagte: „Der Krieg löst kein Problem“. Darum gingen seine Pläne auch über den Nationalstaat hinaus. Und darin war er sich mit unzähligen Widerstandskämpfern einig. Es ist darum kein Zufall, dass Eugen Gerstenmaier heute mit solchem Einsatz im Europarat tätig ist. Er wahrt damit die Tradition seiner Kameraden, die sich opferten. Auch wer die Methoden für irrig hält, mit denen überlebende Widerstandskämpfer das europäische Erbe des neuen Anfangs zu bewahren versuchen, muss zugeben, dass zu den vielen Symbolen, welche den 20. Juli zieren, auch die Zusammengehörigkeit der westlichen Welt gehört; man heiße sie „Europa“ oder „Abendland“ oder wie man sonst will. Was von 1933 bis 1945 in Deutschland Wirklichkeit wurde, ist ja nicht von gestern auf heute geworden.

Irrwege, in Jahrhunderten begangen, sind in jenen Tagen zu Ende gegangen und die Gräber der Widerstandskämpfer sind die Zeugen dieses Endes. Dazu gehört auch die Verkehrung der Vaterlandsliebe in Nationalismus, die wir der französischen Revolution verdanken. Eine neue Zeit bricht an; aber für die Fehler der Vergangenheit musste und muss gezahlt und geopfert werden. Darüber kann man am 20. Juli und besonders im Jahre 1954 nicht sprechen, ohne daran zu erinnern, dass der Westen sich dem deutschen Widerstand gegenüber so verhalten hat: Von 1933 bis nach 1945 hat der Westen, Amerika, Frankreich und besonders England den deutschen Widerstand in immer größere Einsamkeit gestoßen. Der Westen hat auf keine Warnung gehört. Er hat als politische Machtgruppe die Dinge so weit treiben und Hitler so groß werden lassen, bis wir vor dem Abgrund standen, der sich heute noch vor uns auftut. Denn er hat geglaubt, wahre Demokratie sei ausgezeichnet durch den Weg des geringsten Widerstandes. Glaubt der Westen das nicht im Grunde bis heute?

Das gilt auch für die Kirchen. Es gibt auch einen kirchlichen Nationalismus, der mit Bekenntnistreue nichts zu tun hat. Und doch ist nicht untersucht, wie weit der kirchliche Nationalismus der Vater des politischen Nationalismus und aller seiner Folgeerscheinungen ist. Den 20. Juli kann niemand gerecht würdigen, der den kirchlichen Nationalismus nicht durch die Widerstandsbewegung gestraft sieht. In diesem Sinne ehren wir die Amtsträger der beiden großen Konfessionen, die für uns alle damals ihr Leben hingegeben haben. Ich will nur vier Namen nennen: Aus dem katholischen Kreise Metzger und Delp, aus dem evangelischen Kreise den Theologen Bonhoeffer und den Kirchenjuristen Perels. Wir von den Kirchen mussten mitleiden, weil wir die Aufspaltung der abendländischen Welt in der Kirche selbst vorbereitet und schuldhaft verfestigt haben und weil wir bis zum heutigen Tag keinen Ausweg aus unserer Zerspaltenheit wissen. Die Wahrheit, der wir mit Leidenschaft dienen und dienen möchten, steht zwischen den Kirchen und steht darum zwischen den Menschen und den Staaten, aber nicht mehr hilfreich und fördernd, sondern richtend und hemmend. Darum gehören wir in die große Auflehnung der Ordnung gegen die Unordnung. Darum musste das Blut der Unseren vereinigt werden mit dem der Sozialisten und Adligen, der Beamten, Arbeiter und Offiziere, der Jungen und Alten, die Christen waren und derer, die es nicht waren. Denn das wäre das Priestertum, das uns auferlegt ist, wenn wir nicht opferten und geopfert würden.

In den Gefängnissen des Dritten Reiches erzählten wir uns, wie es nach dem Zusammenbruch sein würde. Man würde jeden Deutschen fragen: Wie lange waren Sie verhaftet? Wenn nicht, warum nicht? Man könnte am heutigen Tage sagen: Waren Sie ein Opfer des 20. Juli? Wenn nicht, warum nicht? Wer nicht dabei war, wird das kaum verstehen, vielleicht sogar für überspannt halten. Aber wie könnten wir den 20. Juli begehen, wenn wir uns nicht wunderten, dass wir noch nicht vollkommen geopfert sind?!

Ich schließe: Im Rückblick auf den 20. Juli 1944 steht vor mir ein Bild einer Vision gleich: Es wird hinfort trotz aller Kämpfe, die wir im Alltag austragen, nicht an Zeugnissen von überall her fehlen, die uns zu einer Einheit des Glaubens und Lebens rufen, für welche man Leben, Ehre und Namen opfern darf. Darum ist zu erwarten, dass das Risiko des Lebens immer größer wird. Das werden aber diejenigen niemals sehen, welche dem Opfer auf jeden Preis entfliehen wollen.

Unsere Brüder und Schwestern, die im Widerstand gegen den Übermut der Macht und den Wahnsinn der Selbstgefälligkeit sich opferten, mögen in Frieden ruhen und das ewige Licht leuchte ihnen!