Deutscher Widerstand gegen Hitler - Gedanken eines Historikers und Zeitzeugen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Klemens von Klemperer:

Deutscher Widerstand gegen Hitler - Gedanken eines Historikers und Zeitzeugen

Vortrag am 19. Juli 2001 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin-Mitte anlässlich des 57. Jahrestages des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944

Diesem Vortrag will ich einen Prolog vorausschicken. Vor zwölf Jahren stand ich schon einmal zur Gedenkfeier an den 20. Juli 1944 vor Ihnen, als ich über die Außenbeziehungen des deutschen Widerstands sprach; jetzt aber bin ich von einigen Freunden gebeten worden, zur Abwechslung vom streng Wissenschaftlichen einmal abzusehen. Ich sei ja ein Zeitzeuge, eine Art Fossil, und hätte als solcher einiges beizutragen. Sicher bin ich auch ein Zeitzeuge – Zeuge vieler schöner, und wie Sie sich denken können, vieler schwerer Ereignisse. Nun bin ich als Historiker grundsätzlich skeptisch gegenüber allen Zeugnissen von Überlebenden; da spielt meist allzu Intimes, Persönliches, ja Selbstgefälliges hinein, und das will ich hier dieser großen Hörerschaft in der St. Matthäus-Kirche nicht zumuten.

Gleichwohl bin ich mir bewusst, dass das Erlebte, wenn gegen die Wissenschaftlichkeit projiziert, doch manches beizutragen hat. So soll mein heutiger Vortrag dazu dienen, von meinen Erfahrungen und meinen Erlebnissen her ein Licht auf die alles andere als einfachen Probleme des Widerstands zu werfen. Beides, meine Erfahrungen und Erlebnisse sowie mein Studium haben mir die Augen dafür geöffnet, Widerstand nicht unbedingt als ein Postulat an alle politisch einwandfreien Menschen zu verstehen. Der deutsche Widerstand speiste sich aus höchst unterschiedlichen Motiven, brachte sehr verschiedene Menschen zusammen: Zauderer und Draufgänger, Träumer und Pragmatiker, Zivilisten und Krieger. So soll mein heutiger Beitrag dazu dienen, den Widerstand so weit wie möglich zu entmystifizieren und nicht retrospektiv wertend zu behandeln, d.h. seinen „Irrungen und Wirrungen“, seiner, wie Martin Broszat, der ehemalige Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte schrieb, „vielfältigen Ambivalenz“ nachzugehen, um ihm so auch gerechter zu werden. Denn letzten Endes war es allen Menschen im Widerstand um das Gleiche zu tun: das Land vom Tyrannen zu befreien.

Da ich nun, wie gesagt, auch in der Eigenschaft als Zeitzeuge bei dem heutigen Vortrag mitmache, muss ich kurz einige Bemerkungen zur eigenen Person vorausschicken. Ich möchte nur soviel sagen, dass ich ein recht ungewöhnliches Leben in ganz ungewöhnlichen Zeiten hinter mir habe und dass meine Erlebnisse, mein Gedächtnis ganz bestimmt – dieses allerdings sehr kontrolliert, in mein historisches Urteil hineinspielen.

Wenn ich im Folgenden vom „anderen Deutschland“ spreche, also vom Widerstand, auch von Exil und Emigration, so werden Sie, so hoffe ich, merken, dass diese für mich keine kalten, abstrakten Begriffe sind, sondern direkt oder indirekt Miterlebtes. Nicht, dass ich mich hier zum Helden aufspielen möchte. Doch bin ich einfach alt genug, um einiges mitgemacht zu haben, das für mein heutiges Thema relevant ist und meine Ausführungen bereichern kann. So habe ich für die Leiden und Dilemmata und sicherlich auch für die Heldentaten der Menschen in jenen schweren Zeiten einiges Verständnis gewonnen. Ich habe ein im sokratischen Sinn „geprüftes Leben“ hinter mir, und von diesem will ich Ihnen etwas weitergeben.

Was war und ist meine Verbindung zum Widerstand? Ich selbst war nicht im Widerstand. Dessen ungeachtet beschäftigt mich seit Jahrzehnten schon, seit der Nazizeit, die Alternative des Widerstehens in Zeiten, in denen, wie Friedrich Schillers Stauffacher es sagt, „der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last“. Davon war ich beeindruckt, und auf die vielen damit zusammenhängenden Fragen konzentrierte sich zunehmend meine wissenschaftliche Arbeit.

Um mich kurz vorzustellen, ich stamme aus einer österreichischen Familie, wuchs aber in Berlin auf und pendelte in meinen Schul- und Universitätsjahren zwischen Berlin und Wien hin und her, bis ich 1938 in den Vereinigten Staaten landete. Ob nun in Berlin oder Wien, die Grunderfahrung meiner Jugendjahre war nicht von nationalen und gewiss nicht von hurrapatriotischen Emotionen bestimmt. Ich war, wie alle meine Altersgenossen, sehr von der Härte der Pariser Friedensverträge von 1919 beeindruckt, besonders in denen von Versailles und Saint Germain. Sie betrafen mich besonders, weil meine Familie zu eben diesen beiden Welten gehörte. Im Wohnzimmer der Großeltern sowie auch der Eltern stand jeweils auf der Kredenz eine kleine Porzellandoppelfigur: zwei marschierende Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ein deutscher und ein österreichischer, die die sogenannte „Waffenbrüderschaft“ des Krieges beschwören sollten. Diese „Waffenbrüderschaft“ war nun futsch, und die beiden Friedensverträge verboten ausdrücklich einen Zusammenschluss der zwei Nachkriegsrepubliken, der deutschen und der österreichischen. So machten der verlorene Krieg, und insbesondere die Bestimmungen jener Verträge von Versailles und Saint Germain einen Strich durch mein mitteleuropäisches Erbe. Im Grunde habe ich nie aufgehört, was Deutschland und Österreich betrifft, gesamtdeutsch zu empfinden.

Doch war diese Frage, das Verbot des Zusammenschlusses von Deutschland und Österreich in den Friedensverträgen, keineswegs entscheidend für meinen Werdegang. Was mich und meine Freunde damals bestimmte, war nicht die Politik. Wir waren „jugendbewegt“, und jenseits aller Politik, nationaler und internationaler, bewegten wir uns im Bereich einer jugendlichen Metapolitik. All das Klagen und Schimpfen über das „Diktat von Versailles“, das besonders von der politischen Rechten, den Deutschnationalen und natürlich von den Rechtsradikalen kam, war uns fremd. Verschroben und verkalkt erschienen uns all jene Politiker, die sich da gegenseitig im Reichstag beschimpften. Aus dieser bürgerlichen, „bourgeoisen“ Welt , wie wir sie kurzerhand abstempelten, deren Streitereien uns nichts angingen, mussten wir fliehen. Zugleich glaubten wir, Elternhaus und Schule hinter uns lassen zu müssen. Graue Kluft, Schillerkragen und kurze Hose waren die Symbole unserer Befreiung, und singend und Klampfe spielend zogen wir in unseren Horden „auf Fahrt“.

„Aus grauer Städte Mauern zieh’n wir durch Wald und Feld.

Wer bleibt, der mag versauern, wir ziehen in die Welt.

Heidi, heido, wir fahren, wir fahren in die Welt .“

Es war viel Unmündiges, viel Leichtsinn in unserer jugendlichen Ablehnung aller überlieferten Werte, ob nun von Elternhaus oder Schule, oder auch von den Kirchen. Doch lag unserer Schwärmerei ein tieferes Unbehagen zugrunde, eine Auflehnung gegen die „zerbrochene Welt“, „le monde cassé“, wie der französische Existenzphilosoph Gabriel Marcel sie nannte. Die Grunderfahrung in der „zerbrochenen Welt“ ist von der Entfremdung des Menschen in der Großstadt, von Technik und kalter Rationalität gezeichnet. Die Kehrseite dieser Grunderfahrung ist die Sehnsucht nach der Wiederherstellung einer Teilhabe am Sein und eines Ich-Du-Verhältnisses. Die „Entzauberung“ der modernen Welt, von der Max Weber so überzeugend schrieb, war uns Klage und Herausforderung zugleich.

So war es vorwiegend ein mit dieser Erkenntnis verbundenes Generationsbewusstsein, das meine Jugend prägte, und dieses hat mich denn auch zu meiner Verbindung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus geführt. Ich war mir von Anfang an bewusst, dass Widerstand in Deutschland eine ganz andere Sache war als in den besetzten Ländern. Wenn auch dort anfänglich die Reaktion auf die deutsche Besatzung alles andere als heroisch war, und zuerst weitgehend Ratlosigkeit und Resignation vorherrschten und von Widerstand keine Rede war, so kam es doch schließlich im Laufe des Krieges zu spontanen Widerstandshandlungen und zu organisiertem politischen Widerstand. Ganz offensichtlich war in diesem Widerstand das Hauptmotiv die Befreiung des eigenen Landes von der Fremdherrschaft und damit das Widerstehen letzten Endes eine Frage des nationalen Interesses.

Inwieweit aber konnte der deutsche Widerstand dem nationalen Interesse dienen? Mit dem unmittelbaren nationalen Interesse, das auf den Sieg von Hitlers Wehrmacht hinauslief, stimmte der Widerstand sicher nicht überein, weil das Gelingen jeder Verschwörung einen Sieg im Felde aufs Spiel setzte. Fraglos bewegte sich der deutsche Widerstand in der „Landschaft des Verrats“, wie Margret Boveri es formuliert hat. Selbst wenn wir uns einig sind, dass aller Widerstand an Hochverrat grenzt, so bleibt im deutschen Fall noch die Frage des Landesverrats, d.h. die Bedrohung der Sicherheit des Staates nach außen hin. Man wird ja wohl kaum behaupten können, dass Ewald von Kleist-Schmenzin mit seiner Englandreise im August 1938, als er seine Gesprächspartner vor den deutschen Kriegsplänen warnte und auf eine deutliche Stellungnahme zu diesen drang, dem unmittelbaren nationalen Interesse seines Landes diente, oder dass Dietrich Bonhoeffers Reisen in die Schweiz vom März und September 1941 und seine Reise nach Norwegen vom April 1942, anlässlich derer er sich um Friedensanbahnung mittels ökumenischer Verbindungen bemühte, nicht im Konflikt mit den offiziellen außenpolitischen Interessen des Dritten Reiches standen. Dem juristischen Tatbestand des Landesverrats am nächsten kam jedoch der Fall des Obersten Hans Oster und seiner Informationen an den holländischen Militärattaché zwischen Oktober 1939 und Mai 1940 über den bevorstehenden Angriff deutscher Truppen auf die Niederlande. Oster verstieß eindeutig gegen das unmittelbare Interesse des Reiches an einem entscheidenden Sieg im Westen.

Was also bleibt dann, wenn nicht das unmittelbare nationale Interesse, zu einer Rechtfertigung des Widerstehens? Wie also kann, was vordergründig Verrat ist, zur heldenhaften Tat werden? Dies führt mich zur Frage zurück, warum ich mich so an den Widerstand gebunden fühle. Ich sprach gerade von dem Generationsbewusstsein, das mich mit den Menschen im deutschen Widerstand – und ich will hier die Menschen im österreichischen Widerstand einschließen – zusammenbrachte.

Auf dieses Generationsbewusstsein möchte ich jetzt eingehen. Eine ganz wesentliche Rolle hat dabei die Spannung zwischen einer jugendlich-idealistischen Sehnsucht nach einer ganzheitlichen Welt und der Einsicht in eine ungastliche Wirklichkeit gespielt. Es war Max Weber, der schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges die deutsche Jugend vor dem Streben nach dem großen „religiösen Erlebnis“ warnte. In seiner bedeutenden Münchener Rede „Wissenschaft als Beruf“ vom 7. November 1917 bot er seinen ganzen Ernst auf, eine Wissenschaft, die sich als „Weg zum wahren Sein“ verstand, als „Weg zur wahren Kunst“, zur „wahren Natur“, ja „zum wahren Gott“ und zum „wahren Glück“, als „Illusion“ zu entlarven. Das „Schicksal“ der jungen Generation war es, so verkündete er mit schonungslosem Realismus, „in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit“ zu leben.

Damit gab Max Weber einen Einblick in jene „Entzauberung“ der modernen Welt, die die Menschen in das, wie er sich ausdrückte, „stahlharte Gehäuse“, einsperrte. Die „Forderung des Tages“ war daher, das „Schicksal der Zeit“ ... männlich (zu( ertragen“. Letzten Endes war es für den modernen Menschen eine Frage der Reife, die Wirklichkeit einer unwiderruflich zersplitterten Welt anzuerkennen. Wer dies nicht könne oder wolle, wer auf der Suche nach dem Absoluten und spirituellem Einklang bestehe und auf Erlösung durch prophetische Intervention hoffte, der sei ein Drückeberger und Romantiker. Max Weber, der Stoiker, hatte, wie Karl Jaspers schrieb, „die Kraft des Selbstseins in der Glaubenslosigkeit“.

Mein Generationsbewusstsein also war und ist in dieser Problematik, dieser Spannung zwischen Träumerei und Wirklichkeitssinn, befangen, und das war auch, wie ich es sehe, das grundlegende Problem des deutschen Widerstands. Das „nationale“ Interesse konnte dabei nicht den Ausschlag geben. Stauffenbergs „heiliges Deutschland“ bedeutete viel mehr als ein Bekenntnis zur Nation. Es war eine letzte Antwort auf die schändliche Ideologie und Schreckensherrschaft des „Dritten Reiches“. Wie sehr auch die sogenannten „Nationalkonservativen“ im Widerstand – etwa ein Carl Goerdeler, ein Ulrich von Hassell, ein Johannes Popitz – ja, wie sehr auch ein Adam von Trott, der ja nicht zu dieser Gruppe gehörte, auf den nationalen Prärogativen ihres vom Nationalsozialismus befreiten Vaterlandes bestehen wollten, so konnten diese Forderungen dem übergeordneten Ethos des Widerstands keineswegs gleichgesetzt werden. Das Pochen der Nationalkonservativen auf ein deutsches „nationales“ Interesse hatte ohnehin keine Aussicht, sich gegen das Beharren des englischen Außenministers Anthony Eden auf dem „nationalen Interesse“ Großbritanniens durchzusetzen, und so konnte es auch nicht zu einem Ausgleich oder einer Verständigung kommen zwischen dem Foreign Office, geschweige denn dem amerikanischen State Department, und den Emissären des deutschen Widerstands.

Wenn sich also besonders die Nationalkonservativen auf traditionelle Werte beriefen, konnte das übergeordnete Ethos des deutschen Widerstandes nicht das „nationale Interesse“ sein. Auch Goerdeler, ursprünglich ein Nationalist, war, wie er in seiner Gefängnisschrift vom Dezember 1944 beteuerte, auf der Suche nach einer „Verbindung mit der großen Welt“.

Darüber hinaus aber bedeutete die Fügung in die „entzauberte“ Welt und ein Überwinden aller ganzheitlichen Träume letzten Endes die Herausforderung des Widerstands. Für einen so traditionsgebundenen und zugleich positiven Menschen wie Helmuth James von Moltke muss es eine bittere Erkenntnis gewesen sein, die ihn dazu brachte, nur der „Sinnlosigkeit allen Handelns“ noch Sinn abgewinnen zu können. Und Dietrich Bonhoeffer hat aus seiner theologischen Perspektive schonungslos das „verantwortliche Handeln“ in der Ungereimtheit der „mündig gewordenen Welt“ jeder noch so verführerischen Ideologie gegenübergestellt. So musste das Zurechtkommen mit der „entzauberten“ Welt, wie ungastlich sie auch war, das Mandat des Widerstandes werden.

Zugleich galt es, der Versuchung der Ideologie als Allheilmittel zu widerstehen. Deutscher Widerstand, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, war grundsätzliche Auflehnung gegen jede Ideologie, das heißt gegen alle jene politischen Religionen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die einen totalitären Geltungs- und Machtanspruch besaßen.

Das frühe Zwanzigste Jahrhundert war die Blütezeit dieser Ideologien. Es war ein Zeitalter in dem unter dem Eindruck der Säkularisierung diesseitige Heilslehren die religiöse Leere, das „abendländische Nichts“, wie Dietrich Bonhoeffer es bezeichnete, auszufüllen suchten. Während in früheren Jahrhunderten eine unvollkommene Wirklichkeit von christlichen transzendentalen Erwartungen und Hoffnungen überhöht wurde, blieb nun zur Erwartung und Hoffnung nicht viel mehr als Diesseitigkeit übrig, die ihren entschiedenen Ausdruck in der europäischen Aufklärung und deren geistigen und politischen Auswirkungen gefunden hatte. Doch gerade diese Diesseitigkeit, ursprünglich durchaus weltoffen, wurde im Zwanzigsten Jahrhundert unter dem Eindruck der totalitären Bewegungen und Herrschaftssysteme zum Absoluten erhoben und bestand dementsprechend auf einem Absolutheitsanspruch, der zu der Fehlbarkeit menschlichen Verhaltens in krassem Widerspruch stand. Demokratie, schrieb Karl Dietrich Bracher, ist die Staatsform der „Selbstbeschränkung“, während Ideologie die Denkform der „Selbstüberhebung“ ist. Bracher fuhr fort, dass die Spannung zwischen diesen beiden Polen die Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert geprägt habe. Diese Spannung fand dann in der Tat im Zusammenstoß zwischen politischer Religion und Widerstand in Deutschland einen besonderen Ausdruck. Im Laufe der Machtergreifung und der fortschreitenden Machterweiterung totalitärer Herrschaft wurden all diese widerständischen Regungen in eine verzweifelte Defensive gedrängt, die alle ganzheitlichen Träume zu Alpträumen machte.

Ob nun der Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch unbedingt auf eine Identifizierung mit Demokratie hinauslief, ist eine Frage, der ich mich ganz persönlich und ebenso historisch stellen muss. Damals in Wien in den fieberhaften Jahren vor dem „Anschluss“ 1938, als ich mich zusammen mit meinen Freunden in den Straßen mit den Nazis herumbalgte, wussten wir recht wenig davon, was Demokratie bedeutete. Von demokratischer Tradition war im Lande nicht viel zu spüren; von der Schule hatten wir viel Wissen und wenig Sinn für „fair play“ mitbekommen, das man doch anderswo im Sport, sei es beim Kricket in England oder beim Baseball in Amerika, mitbekommt. Und was bedeutete uns schon ein John Locke oder John Stuart Mill? Und das Regime in Wien, für das wir uns einsetzten, war doch auch nicht „demokratisch“. War es nicht der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der im Februar 1934 die Wiener Arbeitersiedlung im Karl-Marx-Hof mit seiner Artillerie beschossen hatte, um so den Aufstand der Sozialisten niederzuwerfen? Und sein Nachfolger Kurt Schuschnigg hatte doch auch, wie Dollfuß selbst, unter Ausschaltung des Parlaments regiert.

Sicher war der österreichische Ständestaat ein restaurativer, autoritärer Staat, der vor repressiven Regierungsmethoden nicht zurückschreckte – doch war er ein letztes Bollwerk gegen die Flutwelle des Nationalsozialismus. Die Weisheit des Wiener Satirikers Karl Kraus, der einmal schrieb, dass, vor die Wahl zwischen zwei Übel gestellt, man keines von beiden wählen solle, hatten wir junge Studenten nicht, und den nötigen Spielraum dafür hatten wir damals bestimmt nicht. Des einen aber bin ich mir sicher: wir wussten recht wohl, von wo die große Gefahr drohte und wir waren bereit, alle unter den gegebenen Umständen möglichen Wege auszuschöpfen, um sie abzuwehren. Dies also versuchten wir zu tun. Auch wenn wir streng genommen von Demokratie nicht viel verstanden, so war unser Ethos zweifellos freiheitlich.

Jene Nacht des 11. März 1938 war wohl eine der schlimmsten meines jungen Lebens, als der erzwungene „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich ein fait accompli wurde. Meine Freunde und ich wurden in eine Kaserne eingezogen, und eine Art Museumswärter erschien, um Gewehre an uns zu verteilen, mit denen wir uns gegen das Unvermeidliche stemmen sollten. Man hätte meinen können, dass diese Gewehre aus dem Arsenal des Dreißigjährigen Krieges stammten. Jedenfalls hatte ich noch nie ein Gewehr gehandhabt und hatte keine Ahnung, wie man schießt. Doch bald stellte jemand ein Radio an, und wir hörten die Stimme des Bundeskanzlers, der Bundespräsident hätte ihn beauftragt, dem österreichischen Volk mitzuteilen, „dass wir der Gewalt weichen“. Dann wurden die Gewehre wieder eingesammelt, und wir, ein verlorener Haufen, stolperten in die Innere Stadt hinein, wo wir auf eine wilde, johlende Masse Mensch stießen, wie ich sie noch nie, nicht einmal am 30. Januar 1933, der sogenannten „Machtergreifung“ in Berlin, erlebt hatte. Da kam mir das alte Landsknechtslied über Florian Geyer in den Sinn, den fränkischen Ritter im Bauernkrieg, das wir, früher noch ganz unbeschwert, so oft gesungen hatten:

Wir sind des Geyers schwarze Haufen, hei-a o-ho!

Und wollen mit Tyrannen raufen, hei-a o-ho!

und das so endete:

Geschlagen ziehen wir nach Haus, hei-a o-ho!

Uns’re Enkel fechten’s besser aus, hei-a o-ho!

Diese mehr persönlichen Bemerkungen zu unserem Demokratieverständnis haben durchaus eine Relevanz für eine allgemeine Beurteilung des deutschen Widerstandes. Die sogenannten „Nationalkonservativen“, die ein ganz wesentliches Kontingent des Widerstandes darstellten, waren keine Stützen der Weimarer Ordnung. Für sie bedeutete die Weimarer Republik nicht viel mehr als ein Interregnum. Darüber hinaus waren sie – wie Pater Max Pribilla S.J. es formulierte – in die „Schwäche des Anfangs“ verwickelt und ließen sich erst einmal von der „nationalen Erhebung“ hypnotisieren. Von demokratischem Engagement war bei ihnen kaum die Rede, was jedoch mitnichten auf ein fehlendes Freiheitsethos wies. Sogar die Verfassungspläne des Kreisauer Kreises um die Grafen Moltke und Yorck waren streng genommen im heutigen Sinn nicht „demokratisch“; sie waren stark romantisch und ständestaatlich orientiert und wären den Bedingungen einer modernen industriellen Gesellschaft nicht gewachsen gewesen. Doch wer wollte dieser Gruppe herrlicher Menschen, ihren Mut und ihr Einstehen für die höchsten menschlichen Werte in Zeiten der Not anzweifeln?

Wir sollen uns immer vor Augen halten, dass diejenigen, die sich zum Widerstehen entschließen, auch nur Menschen sind. Und dass sie menschlich, allzu menschlich sind, gereicht ihnen das nicht zur Ehre? Zunächst einmal ist der Weg in den Widerstand ungeebnet und hängt nur in den seltensten Fällen von einem bewussten Entschluss ab. Nicht einmal das Wort „Widerstand“ war damals im Umlauf. Wohl riefen die Flugblätter der „Weißen Rose“ zum Widerstand auf; doch war dies eine Ausnahme. Wenn auch im allgemeinen die ethischen Vorbedingungen zum Widerstand fraglos gegeben waren, so war das eigentliche Mitmachen, das eigene Handeln, meistens ein Ergebnis eines „Hineinstolperns.“ Der Historiker des holländischen Widerstands, Louis de Jong, bemerkte ganz treffend, dass in jener ganz verflixten Lage extremen obrigkeitlichen Zwanges fast alle Menschen gleichzeitig Widerstand und Kollaboration leisteten, einmal mitmachten und einmal nicht. Das Aussondern von Freund und Feind kam oft erst im Laufe der Zeit. Verhielt sich nicht Carl Goerdeler, einer der leitenden Männer des zivilen Widerstandes, anfänglich abwartend dem NS-Regime gegenüber, bevor er am Ende zum konspirativen Wagnis überging?

Mein Freund Fritz Stern hat einmal einen sehr ehrlichen und bedeutsamen Aufsatz mit dem Titel: „National Socialism as Temptation“ (Der Nationalsozialismus als Versuchung) geschrieben. Sogar für die Geschwister Hans und Sophie Scholl war er eine Versuchung – mit all den Uniformen der HJ und des BDM, den flatternden Fahnen, den Liedern („Uns’re Fahne flattert uns voran ...“), mit den Freuden auf Fahrt und all der Gemeinschaftsduselei, bis sie und ihre Freunde von der „Weißen Rose“ sich dann von der Verlogenheit des NS-Regimes überzeugten und zum Widerstand schritten, für den sie ihr Leben ließen.

Das erste Gebot bei der Beurteilung eines so ungewöhnlichen Kapitels der Geschichte, wie es der Widerstand in einem totalen Staat darstellt, ist die Frage an uns selbst: Wie hätten wir uns unter ähnlichen Umständen verhalten? So sprach Theodor Heuss von der „Grenzsituation“ zwischen den Ansprüchen der nationalen Loyalität und denen der menschlichen Gerechtigkeit, in der die Verschwörer sich befanden. Demgemäß war die Trennungslinie zwischen Anpassung und Widerstand besonders anfangs nicht so scharf, wie deren „Idealtypen“ vermuten lassen würden. Fehler hätten wir alle sicher auch begangen.

Vom amerikanischen Football stammt ein Ausdruck des „Monday Morning Quarterbacks“. Der Quarterback ist der Stratege der Mannschaft, der den anderen Spielern die Direktiven für die nächsten Schritte gibt. Football wird Samstags und Sonntags gespielt. Dann kommt aber am Montagmorgen der Zuschauer, der im Nachhinein also alles besser weiß: „Ja, der (Quarterback( hätte doch alles besser machen sollen ...“ Und die Moral von der Geschicht’: „Den Monday Morning Quarterback spiel nicht!“. Besonders dem Historiker steht diese Anweisung gut zu Gesicht.

Es wird in unserer Zeit, der Zeit nach der deutschen Katastrophe, allzu viel abgeurteilt, in der fälschlichen Annahme, dass damals die Optionen ganz offensichtlich gewesen seien. Das waren sie nicht immer, und um so eindrucksvoller ist es, dass die Verschwörer die Entscheidung trafen, den Geboten menschlicher Gerechtigkeit und menschlichen Anstandes zu folgen. Der Versuchung der verführerischen Ideologie sind sie am Ende nicht erlegen. Ganz in diesem Sinne entlarvte Hans Bernd von Haeften die „säkularisierenden Weltanschauungen“ als einen „bösen Irrweg“.

Wenn ich nun so entschieden für ein Verständnis des Dilemmas der Männer und Frauen des konservativen Widerstands plädiere, so schulde ich Ihnen doch noch Rechenschaft über den Widerstand von kommunistischer Seite. Anfangs, kurz nach dem Reichstagsbrand, als die Mitglieder der Oberschichten, die erst später die Notwendigkeit des Widerstehens erkannten, sich noch in Hoffnungen auf die Segnungen der „nationalen Erhebung“ wiegten, stellte das neue Regime die deutschen Kommunisten sogleich vor das nationalsozialistisch-revolutionäre fait accompli, auf das sie keineswegs vorbereitet waren. Brutal konzentrierte sich der NS-Terror auf die Kommunisten: die KPD musste zerschlagen werden. Demgemäß wurden von den 300.000 registrierten Parteimitgliedern (nach dem Stand von 1932) ungefähr die Hälfte mehr oder weniger lange inhaftiert. Bereits in den ersten Jahren der NS-Diktatur hatte die Partei 2.000, und insgesamt 20.000 Menschenopfer zu beklagen. Das Gros des deutschen Widerstands kam in den ersten Jahren von der kommunistischen Seite. Trotz aller Opfer, trotz wiederholter Razzien und Verhaftungswellen setzte die Partei den Kampf im Untergrund fort.

Doch wenn auch die Kommunisten nicht an der „Schwäche des Anfangs“ teilhatten, die die konservativen Gruppen kennzeichnete, so war der zweifellos mutige Stand, den sie von Anfang an einnahmen, doch schwer belastet, weil die Partei unter der Hegemonie der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau stand und ihren Kurs von dort her steuern lassen musste. So folgte die KPD blind der Moskauer Linie, nach der sie insbesondere die Sozialdemokraten zu bekämpfen hatte, die als „Sozialfaschisten“ angeprangert wurden. Dies machte die Bildung einer Volksfront, die eine wirksame Waffe gegen den Nationalsozialismus hätte sein können, unmöglich; wenigstens bis zum Oktober 1935, als die Komintern ihre Taktik änderte und sich in verspäteter Großzügigkeit der Sozialdemokratie zuwandte. Dazu kam noch, dass der Stalin-Hitler-Pakt vom August 1939 der KPD wiederum neue Fesseln anlegte. Die kommunistische Parteiführung befand sich infolgedessen in einem schwierigen Konflikt: Waren die Faschisten immer noch die zu bekämpfenden Gegner oder waren sie nun – nach dem neuesten Stand der Dinge – Alliierte?

Im Juli 1994 fand im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek eine sehr erhitzte Debatte über die Frage statt, ob die Kommunisten, also Männer wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, einen Platz in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand einnehmen sollten. Damals war meine Antwort positiv, und sie ist es noch heute. Ohne sie wäre das Spektrum des Widerstandes in Deutschland unvollständig. Doch gebe ich mich keinerlei Illusionen hin: Ich sagte bereits, dass deutscher Widerstand Auflehnung gegen Ideologie war. In diese Definition passen die Kommunisten bestimmt nicht. Deren Geschichte hat uns einen Einblick in die Hexenküche der Moskauhörigkeit eröffnet und eine deutliche Trennungslinie zwischen Widerstand und Ideologie gezogen.

Eine andere, auch schwierige und umstrittene Frage ist die Einordnung der „Roten Kapelle“ und des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ (NKFD) sowie des Bundes deutscher Offiziere (BDO) in die Widerstandslandschaft. Mit Ideologie hatte das wenig zu tun. Die Einstufung der „Roten Kapelle“ als „kommunistischer Agentenring“, die von der Gestapo stammt, trifft nicht das Wesentliche an dieser Gruppe. Was sie bewegte, war, wie Harro Schulze-Boysen, einer ihrer führenden Köpfe, es in seinem Flugblatt vom Februar 1942 ausdrückte, „die Sorge um Deutschlands Zukunft“. Ich denke gerade daran, dass Harro Schulze-Boysen nur sieben Jahre älter war als ich, also doch zur selben Generation gehörte, und dass die Geschwister Scholl nach mir geboren waren – Hans 1918 und Sophie 1921 – und beide wurden im Februar 1943 hingerichtet.

Was nun die Kriegsgefangenen der Sechsten Armee betrifft, die bei Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft gerieten und sich später zu NKFD oder BDO bekannten, so ist auch ihre Einordnung in den Widerstand umstritten. Zweifellos betrachtete sich ein großer Teil von ihnen als Mitglieder einer Widerstandsbewegung und sah es als besondere Aufgabe, die Opposition in Deutschland zum Handeln zu ermutigen. In der Gefangenschaft in der fernen Sowjetunion konnte den deutschen Offizieren und Soldaten sogar die Zusammenarbeit mit dem früheren Feind als patriotische Tat erscheinen. Wie der Historiker Alexander Fischer dargelegt hat, gibt es gute Gründe, das Spektrum des militärischen Teils des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu erweitern. Ihm sollten auch jene zugerechnet werden, die hinter Stacheldraht, aus sittlichem Gebot und aus Liebe zum Vaterland, die schlimmste Katastrophe, den Sieg Hitlers, zu verhindern suchten. Also kann das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ nicht aus dem Gesamtbild des Widerstands ausgeblendet werden.

Doch soll diese Deutung nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele der gefangenen Offiziere und Mannschaften die Gründung des Komitees sowie des Bundes Deutscher Offiziere ein „plumper bolschewistischer Schwindel“ blieb und dass sie in dem General Walther von Seydlitz-Kurzbach, dem Präsidenten des BDO und Vizepräsidenten des NKFD, einen Überläufer und Verräter sahen. Dies erklärt sich nicht nur aus dem strikten Festhalten an dem soldatischen Treueeid, sondern auch aus der Einsicht, dass die „Waffenbrüderschaft im Kampf gegen den Faschismus“, die ihnen vorgegaukelt wurde, doch nur den sowjetischen Zielen diente. Sie mussten dann erfahren, dass ihrer Schutzmacht, der Sowjetunion, die hochtrabend deutsch-patriotischen Töne schließlich nur als Köder gedient hatten. Widerstand also? Oder Verrat? Es ist wohl offensichtlich: die Landschaft des Widerstandes ist voller Unebenheiten. Peter Steinbach hat einmal den Begriff des „umstrittenen Widerstands“ geprägt, und die „Rote Kapelle“ und das „Nationalkomitee“ werden sicher immer in der Geschichtsschreibung „umstritten“ bleiben.

Nun lassen Sie mich ein weiteres Kapitel des „umstrittenen“ Widerstands aufgreifen und in das Labyrinth des Exils und der Emigration einsteigen. Sie werden sich fragen, was diese überhaupt mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu tun haben. Widerstand ist doch eine Tat und ein Wagnis, ein extremer Akt im Sinne von Schillers Stauffacher, in einer Lage, in der der Opposition kein anderer Ausweg bleibt als Rechtsbruch, wenn nicht Gewaltanwendung. Dies war der Fall, als der Preuße Ferdinand von Schill, als der Tiroler Andreas Hofer 1809 zum Freiheitskampf gegen die Übermacht Napoleons ausrief und entschlossen in den Tod ging.

Bedeutet dagegen Exil nach 1933 nicht eine Absonderung, eine Separation, eine Verbannung aus vorwiegend politischen Gründen, und ist Emigration nicht eine politisch, religiös oder rassistisch begründete Flucht? Das ökonomische Motiv, das sonst bei Auswanderungen von großer Bedeutung ist, spielte bei dieser Emigration nur eine untergeordnete Rolle. Die Auswanderer aus dem nationalsozialistischen Deutschland waren einfach Verfolgte oder von Verfolgung bedrohte Menschen.

Bedeutet dies nun, dass Emigration, um es einmal ganz drastisch und ungerecht zu sagen, einer Flucht und eines Sich-in-Sicherheit-bringens gleich kam? Allein das Wort und der Begriff „Emigrant“ sind zur Zeit der Naziherrschaft so massiv verunglimpft worden, besonders in Bezug auf die vom Regime ausgestoßenen Juden, Demokraten und Marxisten, dass er heute noch abfällig gebraucht wird. Sicher ist, dass weder Exil noch Emigration Widerstand sind. Dennoch haben sie eine bedeutsame Wechselbeziehung mit ihm.

Hier ist zunächst eine historische Besinnung angezeigt: wohin gehören die Hugenotten, die in Brandenburg, in Holland und in England, die Salzburger Protestanten, die in Ostpreußen und in Georgia landeten; die bourbonischen Bürger und Aristokraten, die sich vor den wildgewordenen Jakobinern retten mussten, oder die russischen Aristokraten, die sich vor den leninistischen Furien in Sicherheit bringen mussten?

Und nun wieder zurück zu unserer unglücklichen Zeit: wo reihen wir Willy Brandt ein, den späteren Bundeskanzler, der nach aktiver illegaler Betätigung in den ersten Jahren der NS-Herrschaft nach Norwegen ausweichen musste, wo er die norwegische Staatsbürgerschaft annahm und danach vom schwedischen Exil aus seine oppositionelle Tätigkeit fortführte, und auch zweimal mit Adam von Trott zusammenkam? Belief sich also Willy Brandts Tätigkeit im Ausland auf Widerstand? Oder haben wir es in seinem Fall einfach mit Exil oder mit Emigration zu tun? Und wo reihen wir Ernst Reuter, den späteren Oberbürgermeister von Berlin ein, der von seinem Exil in der Türkei die Bemühungen Helmuth James von Moltkes in Istanbul vom Juli 1943 mit großer Anteilnahme verfolgte? Als Ernst Reuter Thomas Mann im fernen Kalifornien aufforderte, als „die Stimme des geistigen, freien, menschlichen Deutschlands“ mit einer überzeugenden politischen Erklärung vor die Öffentlichkeit zu treten, holte er sich eine Abfuhr. Mit erstaunlicher Schärfe lehnte der prominente Emigrant diesen Vorschlag als einen „gewissen Emigrantenpatriotismus“ ab.

Adam von Trott, dessen zweite Heimat England war, hatte genug Anlass und Gelegenheit, sich für England zu entscheiden. Doch trotz aller Widrigkeiten, die ihm zu Hause drohten und bevorstanden, entschied er sich, in sein Heimatland zurückzukehren: „Ein Emigrant zu sein ist erniedrigend – und dies ist das letzte, was ich wünsche.“, schrieb er von England an seine englische Freundin Shiela Grant Duff im Juli 1933. Und Dietrich Bonhoeffer, dem anlässlich seines Amerikaaufenthalts vom Juni/Juli 1939 im Union Theological Seminary in Manhattan seine Freunde vorsorglich schon bei dem „American Committee for Christian German Refugees in the City of New York“ eine Stelle als Pastor für die New Yorker protestantischen Flüchtlinge zugesichert hatten, entschied sich dennoch, nach Deutschland zurückzukehren. An seinen Freund, den Theologen Reinhold Niebuhr, schrieb er: „Ich habe einen Fehler begangen, indem ich nach Amerika kam. Ich muss diese schwere Zeit unserer nationalen Geschichte mit den christlichen Menschen Deutschlands leben. Ich würde kein Recht haben, nach dem Krieg zu dem Wiederaufleben christlichen Lebens in Deutschland beizutragen, würde ich nicht die Sorgen dieser Tage mit meinem Volke teilen. Christen in Deutschland sehen sich vor einer furchtbaren Alternative, entweder die Niederlage der Nation in Kauf zu nehmen, so dass die christliche Zivilisation überlebe, oder den Sieg der Nation zu wünschen und damit unsere Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welche Alternative ich wählen muss; aber ich kann diesen Entschluss nicht in Sicherheit fällen.“

Als Arnold Brecht, der ehemalige preußische Ministerialdirektor und preußische Bevollmächtigte zum Reichsrat – ein vorbildlicher Staatsbeamter –, in seinem New Yorker Exil benachrichtigt wurde, dass er für einen wichtigen Posten in einer zukünftigen Exilregierung vorgesehen sei, entschied er sich zur Absage. Es sei ihm, so antwortete er, im tiefsten Herzen zuwider gewesen, „vom sicheren amerikanischen Hafen aus Heldentaten des Märtyrertums von denen zu fordern, die in Deutschland der furchtbaren Realität totalitären Terrors ausgesetzt waren“. So setzte auch er, ganz einfach aus kluger Selbstbeschränkung, die Scheidelinie zwischen Emigration und Exil auf der einen und Widerstand auf der anderen Seite.

Trotz alledem muss berücksichtigt werden, dass im totalen Staat die Instrumentalisierung der obrigkeitlichen Gewalt so vollkommen war und sich so weit in das tagtägliche Leben, wenn nicht in das Unterbewusstsein der Bürger erstreckte, dass wir Historiker auch den Widerstandsbegriff entsprechend zu verfeinern verpflichtet sind. Je umfassender die obrigkeitliche Unterdrückung ist, desto verfeinerter hat auch der an den Widerstand anzulegende Maßstab zu sein, und Widerstand bedeutet nicht nur die gewagte, spektakuläre Tat, sondern allein schon die Haltung derer, die sich der Gleichschaltung von oben zu entziehen versuchten. Alltagsunterdrückung hat im „Dritten Reich“ umgekehrt Alltagswiderstand hervorgerufen und, ähnlich hat sich unser Widerstandsbegriff vom aktiven zum passiven Widerstand und vom Handeln und Mithandeln zum Wissen und Mitwissen, ja auch zum Aufschrei der Verzweiflung ausgedehnt.

Ich möchte darauf bestehen, das auch das Exil und die Emigration ihre Würde und ihren Wert haben. Der Berliner Historiker Wolfgang Benz erinnert daran, dass die „politischen Emigranten“, wie er sich ausdrückte, „die ersten“ waren, die gegen den Nationalsozialismus als Ideologie und als Herrschaftssystem gekämpft hatten, um im Exil den Kampf fortzusetzen. So sprach er wiederholt vom „Exilwiderstand“, der sicher oft Jahre der Not, des Zornes und ohnmächtiger Verzweiflung mit sich brachte. Also gehören Exil, Emigration und Widerstand doch enger zusammen? Zweifellos bestehen da Beziehungen. Sie alle haben in der NS-Zeit ihren Beitrag zur Unterhöhlung der Tyrannei geleistet. So ist berichtet worden, dass Otto Wels, der letzte sozialdemokratische Parteivorsitzende, als er im Prager und dann Pariser und Londoner Exil Unterschlupf fand, wiederholt die Wendung „mit dem Gesicht nach Deutschland“ gebrauchte. Nur in den seltensten Fällen war das Exil ein auf die Dauer geplanter und gewollter Zustand. Exilanten träumen immer von einer Rückkehr in die Heimat – und Emigranten auch.

So spielten auch die Emigranten als „Hilfstruppen“ eine wichtige Rolle für ihre im Widerstand aktiven Freunde. Wenn ich hier kurz ein eigenes Erlebnis einfügen darf: Aus der Gruppe meiner Wiener Freunde ging nach dem Anschluss die „O5“, d.h. eine Organisation des österreichischen Widerstands, hervor. Ich ging in die Fremde – ich musste in die Fremde gehen -, aber die unter meinen Freunden, die zurückblieben – ich will hier nur einige ihrer Namen nennen, Helmuth Jörg, Otto Molden, Fritz Molden – hatten ein viel schwereres Los und landeten im Gefängnis oder Konzentrationslager. Einige fielen als Soldaten, andere überlebten irgendwie diese schlimmen Zeiten.

Eines Morgens dann, im Winter 1944 zur Zeit der deutschen Ardennenoffensive, als ich mit der amerikanischen Armee in Paris stationiert war, bekam ich einen Anruf vom Geheimdienst (OSS), ich solle mal rüber in die Champs Elysées kommen, jemand namens Gerhard Wieser warte auf mich. Gerhard Wieser? Jemanden dieses Namens kannte ich nicht. Doch ließ ich mich überreden, dennoch rüber zu gehen – und dort fand ich meinen Freund Fritz Molden, einer der aktivsten der O5, auf einer seiner verwegenen Auslandsmissionen. Er war in Caserta gelandet, wo er von einem amerikanischen Offizier, ganz zufällig ein Freund von mir, ausgefragt wurde: „Kennst Du irgend jemanden in Amerika?“, „Ja, den Klemens K.“; „Oh, wir waren zusammen in Camp Ritchie, und ich weiß, dass er jetzt in Paris stationiert ist; wenn Du also nach Paris kommst, musst Du Dich mit ihm in Verbindung setzen.“ So kam unser Wiedersehen zustande. In diesem und jenem habe ich Fritz wohl helfen können. Auch hatte er Gespräche mit Allen W. Dulles, dem amerikanischen OSS-Chef in der Schweiz. Dann noch ein kurzes gemeinsames Mittagessen, und Fritz verschwand wieder im Nebel der Geheimdienstwelt.

Diese Episode in meiner kleinen Welt hat mir geholfen, auch die große zu verstehen, so also die Hilfe, die der Ex-Reichskanzler Heinrich Brüning vom Exil in Amerika aus Adam von Trott sowie auch Carl Goerdeler zukommen ließ, den Beistand, den Wilfried Israel, Spross einer jüdisch-deutsch-englischen Familie und Erbe des allbekannten Berliner Kaufhauses N. Israel, von England aus seinem Freund Trott leistete, und die Unterstützung, die Gerhard Leibholz, der Rechtswissenschaftler und spätere Richter am Bundesverfassungsgericht, ebenfalls von England aus, seinem Schwager Dietrich Bonhoeffer zukommen ließ. Und der nach England emigrierte deutsche Pädagoge Kurt Hahn bemühte sich während des Krieges in unzähligen Denkschriften an das Foreign Office um Anerkennung der Interessen des deutschen Widerstandes. Alle drei, Gerhard Leibholz, Wilfried Israel und Kurt Hahn, berieten den Bischof George Bell von Chichester, der im House of Lords inmitten des Krieges unermüdlich die Unterscheidung zwischen Deutschen und Nationalsozialisten befürwortete und auf die Existenz eines deutschen Widerstands hinwies, was ihm dann auch im Foreign Office den spöttischen Beinamen „unser guter deutscher Bischof“ einbrachte.

Bei alledem denke ich auch an einen Brief, der kurz nach dem Krieg, am 21. Juli 1947 Friedrich Meinecke, der Doyen der deutschen Historiker, an seinen Kollegen Ludwig Dehio sandte: „Ich habe im ganzen von diesen jüdischen emigrierten Historikern (hier bezog er sich nicht ausdrücklich auf politische Emigranten( den Eindruck, dass sie nicht mit emigrantischem Ressentiment unser Schicksal betrachten, dass sie uns besser verstehen als die Amerikaner und dass sie als Vermittler in unserer Wissenschaft viel Gutes bedeuten könnten“. Er erwähnte besonders Hajo Holborn, Felix Gilbert und Hans Rosenberg, und dann auch Hans Rothfels – inwieweit diese nun jüdisch waren, ist eine Sache für sich. Sie alle lebten in ihrem adoptierten Land „mit dem Gesicht nach Deutschland“. Es kam auch nicht von ungefähr, dass Felix Gilberts Leistung mit der Auszeichnung des Pour le Mérite anerkannt wurde. Im Juni 1969, als Hajo Holborn, gerade von einer schweren Krankheit genesen, seine letzte Reise in die Bundesrepublik unternahm, überreichte ihm sein Verleger noch vor Abflug vom Kennedy Airport den dritten Band seines großen Werkes „A History of Modern Germany“. Dann, am 19. Juni 1969, wurde er in Bonn mit dem ersten Inter Nationes Preis ausgezeichnet, der, wie der Titel auch besagt, an einen Mann oder eine Frau verliehen werden sollte, die das Verständnis zwischen den Völkern der Welt gefördert haben. Dies war eine seinen Verdiensten angemessene Ehrung.

Nun noch zwei Bruchstücke aus meinem seltsamen Leben zwischen den zwei Kontinenten: Das erste führt uns zurück ins Jahr 1941, als mich im August die Nachricht erreichte, dass mein lieber Freund Friedrich an der russischen Front gefallen war. Friedrich, ein Spross einer alten preußischen Offiziersfamilie, starb „als Soldat und brav“, wie es in Goethes Faust heißt. Hier ist meine Tagebucheintragung vom 5. August: „Kannst Du Dich noch an unser letztes Gespräch erinnern, bevor ich nach Amerika ausreiste? Wir sprachen von einem besseren, gläubigen Deutschland. Und wenn dieser Tag mal kommen sollte, werde ich über Deinen Tod nicht mehr klagen.“

Das zweite Bruchstück ist eine Erinnerung an ein Sonntagsmahl in einer Wasserburg zwischen Bonn und Köln zur Zeit meiner ersten Rückkehr nach Deutschland nach dem Krieg. Unter den geladenen Gästen war eine Anzahl ehemaliger Wehrmachtsgeneräle. Einer unter ihnen konnte nicht umhin, mich zu fragen: „Wie kam es eigentlich, dass Sie im Krieg gegen Ihr eigenes Land kämpften?“ „Mit dem Gesicht nach Deutschland.“ – aber das war wiederum schwer, ihm zu verstehen zu geben.

So habe ich heute Ihnen eine Definition des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus als „Auflehnung gegen Ideologie“ gegeben, die nicht unmittelbar auf ihr Verständnis stoßen muss. Aber bitte denken Sie darüber und über meine Argumente nach. Darüber hinaus habe ich die Landschaft des Widerstands vom Zentrum zur Peripherie sehr weit gespannt, von Stauffenberg und Goerdeler, zu meinen Wiener Freunden bis zu Willy Brandt und Ernst Reuter. Dass diese Einordnung umstritten ist, dessen bin ich mir bewusst. Aber schließlich war auch das Deutschland, dem die Exilanten ihr Gesicht zuwandten, dasselbe wie das „heilige Deutschland“ Stauffenbergs, das „andere“ Deutschland. Sie alle waren sich einig in ihrer Ablehnung einer Wiederbezauberung der Welt mittels der verführerischen Ideologie des Nationalsozialismus.

Lassen Sie mich nun abschließend auf die Gedanken eines deutschen Theologen verweisen, der sein Leben für seine ganz grundsätzliche Ablehnung aller Ideologie einsetzte – nämlich Dietrich Bonhoeffer. Er stelle „verantwortliches Handeln“ aller ideologischem Gebundenheit gegenüber. In seiner „Ethik“ schrieb er: „Der ideologisch Handelnde sieht sich in seiner Ideologie gerechtfertigt, der Verantwortliche legt sein Handeln in die Hände Gottes ...“ Mit dieser Formulierung hat er, wohl von seiner theologischen Perspektive aus, für den deutschen – nichtkommunistischen – Widerstand eine Rechtfertigung geliefert, jede politische Ideologie und die sich daraus ergebende Zwangsherrschaft abzulehnen. Darüber hinaus wies er mit seiner Ablehnung ideologischer Selbstüberhebung den Weg zu jener demokratischen Normalität, die die deutsche Bundesrepublik dieser Tage aufweisen kann. Dies ist dann letzten Endes ein wichtiges Vermächtnis des deutschen Widerstandes für unsere Zeit.