Die Einsamkeit des Widerstands

KIaus von Dohnanyi

Die Einsamkeit des Widerstands

Gedenkrede des Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg Dr. Klaus von Dohnanyi am 20. Juli 1984 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstrasse, Berlin

Wir sind zusammengekommen, um der Männer und Frauen zu gedenken, die heute vor vierzig Jahren einen letzten, vergeblichen Versuch machten, um ihr Vaterland aus eigener Kraft von der nationalsozialistischen Diktatur zu befreien.

Der Krieg war verloren; ein Verhandlungsfriede nicht mehr erreichbar. Die Verschwörer wussten, dass sie zu spät kamen. Sie unternahmen den Versuch der Befreiung dennoch, wie Henning von Tresckow seinem Kameraden Stauffenberg geschrieben hatte, weil es nun darauf ankam, „daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt“ hatte. Denn allzu lange hatte man gezögert; zu viele Gelegenheiten wurden verpasst.

In der ersten Stunde ließ die gespaltene Arbeiterbewegung die Chance des Generalstreiks ungenutzt. Der Reichstag – die kommunistische Partei war bereits verboten – beschloss im Frühjahr 1933 gegen die Sozialdemokraten seine eigene Entmachtung. Dann zerschlugen die Nazis – ganz wie es zu erwarten war – alle Instrumente einer organisierten politischen Opposition: Parlament, demokratische Parteien, freie Gewerkschaften und freie Presse. Sie beseitigten brutal ihre härtesten politischen Gegner aus den Jahren der Republik, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, missliebige Politiker anderer Parteien, Mitglieder der Kirchen und republikanische Intellektuelle wurden verhaftet, gefoltert, ermordet.

Durch den Abbau der Arbeitslosigkeit und durch außenpolitische Erfolge erwarb Hitler immer breiteres Vertrauen. Trotz der Rechtsbrüche, trotz der Judenverfolgung, trotz der Aufrüstung. Nun stand die große Mehrheit des deutschen Volkes hinter Hitler. Kritische Stimmen wurden in der Nachbarschaft nur noch ungern gehört. Und wo sie die Meinungen nicht beherrschten, dort herrschten die Nazis mit der Gestapo.

Nur noch die bewaffneten Streitkräfte konnten Hitler die Macht entreißen. Und sie hätten es tun müssen angesichts des politischen Terrors und der offenen Vorbereitung eines Angriffskrieges.

Aber Offizierskorps und Führungsspitze standen mehrheitlich rechts. Sie stimmten folglich mit Hitlers revanchistischen Zielen grundsätzlich überein. Aufrüstung und militärische Erfolge verstärkten diese Zustimmung. Die wenigen weitsichtigen und mutigen Offiziere, die zum Teil seit 1933, spätestens aber seit 1937, die Katastrophe kommen sahen, blieben einsam.

Es ist diese Einsamkeit, die wir bedenken müssen, wenn wir vom Widerstand sprechen. Denn Widerstand in Deutschland forderte eine andere Haltung als Widerstand in den danach von uns besetzten Ländern. Dort kämpfte man gegen den äußeren Feind, hier gegen die eigene Regierung; dort wurde man getragen von der Zustimmung des Volkes, hier aber war der Widerstandskämpfer unendlich einsam. Ich war dreizehn Jahre alt, als Paris im Juni 1940 fiel. Unvergesslich bleibt mir aus jenen Tagen das abgehärmte, enttäuschte, ja verzweifelte Gesicht meines Vaters inmitten der fahnenbunten Jubelstimmung.

Das Gebet für die Niederlage des eigenen Volkes, der notwendigen Niederlage aus moralischen, politischen und aus historischen Gründen, dieses Gebet muss wohl das schwerste sein, das einem Patrioten zu sprechen abverlangt werden kann.

Denn sie waren Patrioten, die Frauen und Männer des Widerstandes. Wo immer sie für Menschlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit eintraten, sind sie zugleich für ein besseres Deutschland eingetreten. Die Nazizeit hat uns gelehrt – oder sollte uns mindestens gelehrt haben – Vaterlandsliebe kritischer, aber auch tiefer zu verstehen.

Heute wissen wir – und sollten niemals vergessen: Nicht die Mahner und Kritiker haben das „Nest beschmutzt“, sondern die fahnenschwingenden Spießer. Nicht die Attentäter haben den Eid gebrochen, sondern Hitlers Gefolgschaft.

Es hat in Deutschland keine umfassende Widerstandsbewegung gegeben, konnte sie wohl auch nicht geben. Aber es hat vielfältigen Widerstand gegeben. Aus politischen, aus ethischen, aus religiösen Gründen. Wenn wir des 20. Juli gedenken, dann gedenken wir deshalb zugleich all der ungezählten tapferen Frauen und Männer, die gegen den Nationalsozialismus und für eine freie und gerechte Gesellschaft gekämpft und gelitten haben; vom Anfang der Nazibewegung während der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. In Deutschland, in der Emigration, aber auch zum Beispiel im Kampf für die spanische Republik.

Zu diesem Widerstand gehörten auch diejenigen, die oft unter Gefahr für ihr eigenes Leben und das ihrer Familien den Verfolgten zu Hilfe kamen.

Es war im Winter 1942/1943. Die Verhaftung meiner Eltern stand unmittelbar bevor. Meine Mutter und ich warteten von Einkäufen kommend auf den Autobus. Ein älterer Jude, den gelben Stern auf seinem abgerissenen Mantel, kehrte vor uns die Straße. Mehrere Male hatte er angestrengt versucht, den Schubkarren über die Bordschwelle zu schieben. Er war zu schwach. Teilnahmslos sahen die vielen wartenden Menschen zu. Ich werde es nie vergessen, wie meine Mutter, aschfahl geworden, ihre Hände öffnete, die schweren Einkaufsnetze achtlos fallen ließ, den Schubkarren zur Hand nahm und ihn auf den Bürgersteig schob. Es war dies, so glaube ich heute, die nachdrücklichste moralische Ermahnung zur Menschlichkeit, die ich in meinem Leben erfahren habe.

Der deutsche Widerstand hat das Vaterland nicht bewahren, die Freiheit nicht zurückgewinnen können. Leiden und Sterben hinterließen uns politischen Auftrag und moralisches Vermächtnis.

Der politische Auftrag lautet: Für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde politisch zu arbeiten. Denn der Held des Widerstandes, bereit für die Freiheit zu sterben, kann uns, die wir heute in Freiheit leben, nicht konkretes Vorbild sein.

Aber der Tod der deutschen Widerstandskämpfer weist auch auf diejenigen, die zuvor in den Jahren der Republik den mühevollen – und vergeblichen – Versuch gemacht hatten, die erste deutsche Demokratie zu schaffen und zu bewahren. Sie sind tragische Geschwister: die mutigen Männer und Frauen des verspäteten 20 Juli und die frühen, vergeblichen deutschen Demokraten.

Sie ermahnen uns, nicht zu vergessen, wie die Weimarer Demokratie verspielt wurde, wie das deutsche Bürgertum gegenüber der ersten Republik versagte. Dass es keine Alternative zur mühevollen und immer auch von menschlichen Fehlern gekennzeichneten politischen Tagesarbeit gibt. Mir scheint, es sind auch heute zu viele, die sich bequem fernhalten und kritisieren, anstatt selbst politisch Hand anzulegen. Sich über Parteipolitik naserümpfend zu erheben, ist wenig demokratisch. Parteien immer wieder von innen zu erneuern, ist die demokratische Aufgabe.

Auch Demokratie ist der Veränderung unterworfen. Während man aber bei unseren westlichen Nachbarn den Wechsel politischer Strömungen gelassen als Anzeichen wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Veränderungen hinnimmt, hören wir bei uns schon wieder Stimmen, die mit dem Wort „Weimar“ Krisen- und Untergangsstimmung verbreiten. Demokratie braucht nicht nur die Mitarbeit der Bürger, sondern auch Selbstvertrauen.

Die Krise der Industriegesellschaft hat ja erst begonnen. Niemand kann doch übersehen, wie die Armut der Dritten Welt wächst, mit großen Risiken auch für uns. Niemand kann übersehen, dass Massenarbeitslosigkeit in den Industriestaaten droht und dass eine neue Armut beginnt, sich auch bei uns breit zu machen. Niemand kann übersehen, dass der ungezügelte, kommerzielle Wettbewerb der Unternehmen und Nationen die Natur, von der der Mensch lebt, immer tiefer zerstört. Und niemand kann die Risiken des ungebrochenen Wettrüstens übersehen.

Die Bewährung der Demokratie in der kommenden Krise, das ist der politische Auftrag des deutschen Widerstandes an uns heute. Unser Land, Europa, diese Erde in Frieden und Freiheit bewohnbar zu erhalten. Hierfür die notwendigen Entschlüsse mutig und wirkungsvoll zu fassen. Und nicht wieder zu warten, bis jemand kommt, der uns zeigt, um ein Beispiel von damals zu wählen, dass man Autobahnen nicht nur planen, sondern auch bauen kann!

Wir haben aber auch ein moralisches Vermächtnis zu erfüllen.

Tragisch hatten sich nach 1848 unsere wissenschaftlichen Fähigkeiten mit unserem Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung verschmolzen. Hieraus erwuchs unsere große Begabung für das industrielle Zeitalter: die Verbindung von technischer Phantasie mit der Befähigung zu effektiver betrieblicher Organisation. Diese Fähigkeit entwickelte ihre schrecklichste Perversion in Auschwitz. Und auch die Ideologie vom „Herrenmenschen“ war Ausdruck eines zur Absurdität gesteigerten Leistungsstrebens.

Wir sind mit unseren geistigen Anlagen und psychischen Strukturen offenbar ein gefährdetes Volk. Es ist das moralische Vermächtnis des Widerstandes an uns, dieser deutschen Gefährdung endgültig Herr zu werden. Durch Erziehung, durch Besinnung auf die wahren menschlichen Werte. Durch mehr Liberalität, mehr Toleranz, mehr Geduld. Und durch weniger Angst.

Für mich bedeutet dieses Vermächtnis politisch, dass unsere deutsche Stimme heute und zukünftig auf der Seite der Verfolgten und Entrechteten immer deutlich zu hören sein muss; auf der Seite der Befreiungsbewegungen in einer unterdrückten Welt; auf der Seite der verfolgten Rassen und der Minderheiten; und auf der Seite derjenigen, die bei uns und anderswo politisches Asyl suchen. Denn der Aufstand der Männer und Frauen des 20. Juli war im Kern ein Aufstand des menschlichen, des sozialen, des christlichen Gewissens.

Die Täter des 20. Juli 1944, in denen wir den ganzen deutschen Widerstand ehren, haben sich um die Demokratie unseres heutigen Staates verdient gemacht. Wir selbst müssen uns die Männer und Frauen des Widerstandes als Vorbilder erst noch verdienen.







Weitere Reden

20.07.1984
Dr. Helmut Kohl
Dr. Helmut Kohl
20.07.1984
 Eberhard Diepgen
Eberhard Diepgen