"Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten."

Walter Dreß

„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“

Predigt von Prof. Dr. Walter Dreß am 20. Juli 1959 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Einen Gedenkgottesdienst wollen wir halten, liebe Gemeinde, heute, da sich zum fünfzehnten Mal jener 20. Juli jährt, den wir einst handelnd, hoffend, wartend, bangend, leidend und mitleidend durchlebt haben.

Und wenn wir uns zusammenfinden, um zu gedenken, dann tun wir etwas, was nach der Heiligen Schrift gut biblisch und gut christlich ist. Es ist überraschend, wie oft uns in der Heiligen Schrift das Wort „gedenken“ begegnet. Das „Land, da man nicht gedenkt“ – wie es einmal in den Psalmen heißt (88,13) –, ist das Totenreich. „Im Tode gedenkt man Dein nicht“, sagt der Psalmist ein andermal. So lange aber die Menschen leben, so lange sie das Licht der Sonne schauen im Lande der Lebendigen, so lange sie in der von Gott geschaffenen Welt atmen als an Gottes Gebot Gebundene und auf Gottes Verheißung Trauende, sind die Menschen Geschöpfe, die gedenken, die sich erinnern, Wesen, denen das Vergangene, weil und soweit es Gottes Werk gewesen ist und Gottes Werk bleibt, nicht gleichgültig werden kann, die sich gedenkend in Treue und Dankbarkeit, in Glaube, Hoffnung und Liebe zu dem bekennen, was Gott getan und verhängt hat.

Wie oft heißt es in den Psalmen und bei den Propheten, aber auch im Neuen Testament: „Ich gedenke an die vorigen Zeiten; ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände“ (Ps. 143,5). Und im Lied des Mose, der sich auf seinen Tod vorbereitet, wird das ganze Volk aufgefordert: „Gedenke der vorigen Zeit bis daher, und betrachte, was er getan hat an den alten Vätern. Frage deinen Vater, der wird dir's verkündigen, deine Ältesten, die werden dir's sagen. Da der Allerhöchste die Völker zerteilte und zerstreute der Menschen Kinder – O dass sie weise wären und vernähmen solches, dass sie verstünden, was ihnen hernach begegnen wird! Wie gehet's zu, dass einer wird ihrer tausend jagen, und zween werden zehntausend flüchtig machen? – Die Rache ist mein, ich will vergelten. –Sehet Ihr nun, dass Ich's allein bin und ist kein Gott neben mir? Ich kann töten und lebendig machen, Ich kann schlagen und kann heilen, und ist niemand, der aus meiner Hand errette.“ (5. Mos. 32,7.8.29.30.35.39)

Alles Gedenken soll und muss eben dazu führen, dass die Gedenkenden sich aufs Neue der Allmächtigkeit Gottes und der Unentrinnbarkeit der von ihm beschlossenen Verhängnisse bewusst werden. Das ist furchtbar, dass man ihm nicht entgehen kann, dass niemand, er sei so klug oder so gut, wie er wolle, davor sicher ist, von Gottes Hand gepackt und in den Schmelztiegel der Schicksale geworfen zu werden. Es ist aber auch der einzige wirkliche Trost, den Menschen finden können, die sich ihrer Sterblichkeit und den unerfindlichen Launen des Bösen in dieser Welt ausgeliefert wissen, dass sie sich sagen dürfen: Er, Gott selbst, der Allmächtige und allein Wirksame, ist schließlich der allein Bestimmende; und so, wie es gewesen ist, – dass er beschlossen und entschieden hat –, so wird es bleiben, und so wird es gewiss auch wieder sein! Darum wird alles Gedenken immer wieder zu neuem Anruf und dringlicher Bitte; und aus dem Gedenken an die vorigen Zeiten, aus den Zweifeln und Verzweiflungen des Jetzt, aus dem Hilferuf in quälender Rat- und Hilflosigkeit wird neues, unmittelbares, persönliches Bekenntnis: Erweise dich doch wieder – um deinetwillen – als der, als der du den Vätern erschienen bist; du kannst ja doch nicht anders! So heißt es dann etwa bei dem dritten Jesaja: „Und sein Volk gedachte wieder an die vorigen Zeiten, an Mose: Wo ist denn nun, der sie aus dem Meer führete, samt den Hirten seiner Herde? Wo ist, der seinen heiligen Geist unter sie gab? Der Mose bei der rechten Hand führte? – Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser; von alters her ist das dein Name.“ (Jes .63,11.12.16.)

Wenn also vom Gedenken die Rede ist, dann handelt es sich zunächst darum, dass die Menschen gedenken. Sie gedenken dessen, was einmal gewesen ist, was Gott an den Vätern getan hat, wie Gott sich handelnd in der Geschichte bezeugt hat. Es kann deshalb bei solchem Gedenken nicht um Heldengedächtnis und Heldenverehrung in irgendeinem Sinn gehen. Der eine Held, der durch diese Gedenken gepriesen werden will, der geehrt, gelobt, bedankt werden darf, ist der eine, einzige, allmächtige Gott, der von sich, der allein von sich sagen kann: „Ich kann töten und lebendig machen. Ich kann schlagen und heilen, und ist niemand, der aus meiner Hand errette.“

So dürfen und wollen wir nun auch gedenken, dessen gedenken, was Gott an den Vätern getan hat, was er uns mit ihnen und durch sie an Bestärkung unseres Glaubens zu seiner Ehre hat erfahren lassen. Was von einem galt, mag für viele stehen. Als nach dem 20. Juli 1944, nach all dem, was wir erhofft hatten und nun befürchten mussten, an dem folgenden Sonntag, am 23. Juli 1944, ohne Zweifel in dieser Kirche Gottesdienst zu halten war, Gottesdienst, da haben wir, noch mitten im Geschehen, zum ersten Mal vor Gott der Männer des Aufstandes gedacht und ihnen hier den ersten Gedenkgottesdienst bereits im Hochsommer 1944 gehalten. Ich habe mir lange überlegt, welches Wort der Heiligen Schrift wohl an diesem Tage als Text der Predigt ergriffen werden dürfe und schließlich von dieser Kanzel aus den 126. Psalm verlesen:

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Rühmens sein... Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten...“

Einer von den unmittelbar Beteiligten saß unter der Kanzel. Er nahm noch einmal teil am heiligen Abendmahl. Wir erwarteten ihn abends als Ausgebombte in unserer Notwohnung. Er kam nicht; er konnte nicht mehr kommen, weil er inzwischen von der Staatspolizei abgeholt worden war. Aber er ging in die Haft, in den Tod mit den Worten des Psalms, der wie kein anderer die unfassliche Herrlichkeit der Erlösung verkündigt; er blieb in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, die er noch in diesem Leben am Tisch des auferstandenen Herrn gesucht und gefunden hatte. Mit ihm gedenken wir all der anderen Brüder und Väter. Wo und wann auch sie als sündige Menschen gefehlt haben mögen –, wir bekennen, dass wir sie lieb gehabt haben und dass ihnen unsere besondere Liebe gilt um des Opfers willen, das zu bringen sie bereit waren. Wir sind dem barmherzigen Gott dankbar: er hat sie die Sorge um das Rechte so tief empfinden lassen, dass sie ihr Leben daranzusetzen entschlossen waren; er hat ihnen Kraft, Mut und Freudigkeit gegeben, ihren Weg nicht zu Ende, sondern zum Ziel zu gehen.

Die heilige Schrift redet zweitens, wenn sie vom Gedenken spricht, davon, dass der Mensch Gott bittet, er möge in Gnaden unser und unserer Brüder gedenken. Das ist das Reminiscere des zweiten Sonntages in der Fastenzeit: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist?“ (Ps. 25,6).

Wir können, meine lieben Freunde, an diesem Tage nur einen Gedenkgottesdienst halten, wenn wir ernstlich willens sind, den ewigen Gott miteinander zu bitten, er wolle unser und unserer Brüder um Jesu Christi willen in Barmherzigkeit und in Treue zu seinen Verheißungen gedenken. Und ich bin sicher, dass wir, die wir das Wort der Schrift gehört und uns im Bekenntnis des Glaubens an den dreieinigen Gott gesammelt haben, und in diesem innersten Anliegen unserer Herzen begegnen und finden. Wie wir, wenn wir von einem der Unsrigen letzten Abschied nehmen, mit unseren Vätern Gott anrufen: „Sei ihm ein gnädiger Richter“, so bitten wir auch in dieser Stunde für sie alle, derer wir gedenken, wir waren ja auch für sie verantwortlich, und wir haben die Pflichten, die wir ihnen gegenüber hatten, die menschlichen und christlichen Pflichten, nicht alle und nicht immer erfüllen können, da sie uns so früh und so unerwartet genommen wurden; auch von dem, was wir hätten tun können, ist so manches ungetan geblieben, und was nicht sein sollte, ist so manches Mal geschehen. Sie waren sündige Menschen und bedürfen der göttlichen Gnade, die wir schuldig sind, ihnen zu erbitten. Wir haben gefehlt, und wenn sie fehlten, dann waren wir nicht ohne Schuld daran. Gedenkgottesdienst ja, auch und vor allem in diesem Sinn, in allem Ernst, aus Christenliebe und in christlichem Glauben: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist.“

Schließlich aber geht es doch auch darum, zuletzt und zuerst, dass die Heilige Schrift uns feierlich bezeugt, Gott gedenke seines Bundes, Gott gedenke in Treuen der Menschen, mit denen er einen Bund geschlossen hat. Nur weil Gott seines Bundes gedenkt und der Menschen, mit denen er seinen Bund geschlossen hat, darum können und dürfen wir ihn auch bitten, er möge uns und den uns im Tode Vorangegangenen gegenüber an seine Barmherzigkeit und seine Güte gedenken, darum haben auch wir ein Recht und eine Pflicht, ihrer zu gedenken, Gedenkgottesdienst ja, auch und vor allem insofern, als wir uns dessen gewiss machen dürfen, dass Gott ihrer gedenken will.

Im Sakrament der heiligen Taufe sind sie ihm einst als ihrem himmlischen Vater, ihrem Schöpfer und Erlöser anvertraut worden. In der Taufe hat er seinen Bund mit ihnen geschlossen und sie für Zeit und Ewigkeit als seine Kinder und Erben angenommen: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!” Was Gott damals beschlossen und besiegelt hat, das gilt durch die Zeiten hindurch, das gilt über den irdischen Tod hinaus, denn Gott ist ein Gott, der gedenkt und der will, dass wir seiner und unsrer Brüder gedenken.

Lasst es mich noch einmal mit Worten der Heiligen Schrift zusammenfassen – und wir werden wieder spüren, was wir damals so lebendig und deutlich erfahren haben: dass uns diese Sätze berühren, als seien sie unmittelbar zu und von uns gesprochen:

„Und Gott sprach: – Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Der Herr, eurer Väter Gott, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name ewiglich; dabei soll man mein gedenken für und für. Darum so gehe hin und versammele die Ältesten ... und sprich zu ihnen: Der Herr, eurer Väter Gott, ist mir erschienen ... er hat gesagt: Ich habe euch heimgesucht und gesehen, was euch ... widerfahren ist und habe gesagt: Ich will euch aus dem Elend führen. So lasst uns nun gehen ... dass wir opfern dem Herrn, unserm Gott.“ (2. Mos. 3,15.16.17.18.)

Amen.