Die Nachkriegsgeschichte wird beendet

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ingrid Stahmer

Die Nachkriegsgeschichte wird beendet

Gedenkrede der Berliner Bürgermeisterin und Senatorin für Soziales Ingrid Stahmer am 19.07.1990 im Rathaus Schöneberg, Berlin

Im Namen des Senats von Berlin begrüße ich die angereisten Beteiligten und Hinterbliebenen des Widerstands und heiße Sie alle herzlich willkommen. Es ist schon eine Tradition, dass der Senat von Berlin am Vorabend der Gedenkveranstaltung aus Anlass des 20. Juli 1944 zu einem solchen Empfang lädt.

Doch diesmal steht dieser Gedenktag unter einem besonderen Vorzeichen. Denn der 46. Jahrestag des verzweifelten Versuchs, die Barbarei des nationalsozialistischen Systems abzuschütteln, fällt mitten in den Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten. Die Freude darüber, dass die jahrzehntelange Trennung zu Ende geht, ist groß. Aber als politisch bewusste Bürger unseres Staates, als Demokraten und als verantwortliche Politiker wissen wir auch, dass es Gründe für die deutsche Teilung gegeben hat. Es ist unsere Aufgabe und Pflicht, die Erinnerung an die Geschichte, an den Krieg, an Verfolgung und an den Widerstand wach zu halten. Denn nur so können wir verhindern, dass aus Ignoranz und übersteigertem Nationalismus neues Unheil entsteht.

Wir wollen die Geschichte im Bewusstsein wach halten. Wir wollen niemandem etwas aufzwängen. Denn wir wissen, dass der Mensch unter Zwang nicht gern lernt. Und wir erleben gerade jetzt, dass der staatlich verordnete Antifaschismus in der DDR nur aufgesetzt war und nicht von innen aus Überzeugung vertreten wurde. Gerade die nicht aufgearbeitete Geschichte führt dazu, dass als Reaktion Rechtsradikalismus, Rassismus und Minderheitenhass sich ausbreiten. Ich will damit nicht verharmlosen oder verstecken, welche üblen Erscheinungen es bei uns gibt. Aber die Art und Weise, wie in der DDR längst verloren geglaubtes altes Ideengut sich wieder ausbreitet, ist erschreckend.

Auch hier im Westen haben wir noch viel zu bewältigen. Wir haben bei uns Tendenzen des Verdrängens und Vergessens gehabt - und es gibt sie immer noch. Wir mussten und wir müssen dagegen politisch angehen. Aber wir müssen es auch im Gebiet der Noch-DDR.

Zu diesem Prozess des Verdrängens gehört heute auch, dass man versucht, Berlin als die Stadt hinzustellen, die die Hauptlast der Schuld des Dritten Reiches trägt. Ja, es stimmt wohl, dass sich in dieser Stadt die Schaltstellen des Terrors befanden. Aber es ist auch wahr, dass Berlin die Hauptstadt des deutschen Widerstandes war. Auch das gehört zum wahrhaftigen Umgang mit der deutschen Geschichte.

Berlin, Deutschland und Europa wachsen jetzt auf neue Weise zusammen. Die Nachkriegsgeschichte wird beendet. Gerade als Deutsche haben wir allen Grund, uns unseren europäischen Nachbarn mit Zurückhaltung und Vorsicht zu präsentieren. Wir sind ein wirtschaftlich und politisch sehr gewichtiger Faktor in diesem neuen Europa. Das gibt uns eine große Verantwortung vor der Geschichte und für die Zukunft unseres Kontinents, in dessen Zentrum wir liegen. Niemand hat so viele Nachbarn wie wir. Niemand ist so sehr auf ein gedeihliches Miteinander angewiesen wie wir. Dazu gehört die unumstößliche Garantie bestehender Grenzen genauso wie die Achtung nationaler Eigenheiten. Toleranz soll uns auszeichnen, nicht kleinbürgerliche Besserwisserei. Weil wir darum wissen, werden wir unseren Teil dazu beitragen, dass in dem künftigen Europa alle Menschen in Frieden, Freiheit und wirtschaftlichem Wohlergehen und ohne Furcht vor ihren Nachbarn leben können.

Ich wünsche Ihnen allen einen noch recht angenehmen Abend, und ich hoffe, die Gelegenheit zu dem einen oder anderen persönlichen Gespräch nutzen zu können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.