Die Schauprozesse nach dem 20. Juli 1944

Helmut Schmidt

Die Schauprozesse nach dem 20. Juli 1944

Erklärung von Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Gedenken an den 20. Juli 1944,

Bonn

Vor einigen Monaten hatte ich Gelegenheit, einige der Filmausschnitte von den Schauprozessen des sogenannten Volksgerichtshofs gegen die Frauen und Männer des 20. Juli zum ersten Mal zu sehen. Und ich wurde dabei ganz lebendig erinnert an die Erschütterung, die ich damals verspürte, als ich vor 35 Jahren als junger Soldat einmal für einen Tag als Zuhörer zu einem dieser Prozesse abkommandiert worden war.

Die nationalsozialistischen Machthaber haben sehr gut gewusst, warum sie nach der Rachejustiz an den Männern des 20. Juli diese mit verdeckten, getarnten Kameras aufgenommenen Filme zu einer geheimen Reichssache erklärt und nicht öffentlich gezeigt haben; denn die Unmenschlichkeit des Verfahrens, der böse Hass, die niedrige Rache, die hier zum Ausdruck kam, insbesondere in der Person des Gerichtsvorsitzenden Freisler – der zugleich ein übler Demagoge und zugleich ein Henker war in der Robe des Richters –, dies alles wäre, wenn die Filme gezeigt worden wären, damals auch jenen Deutschen durchsichtig geworden, die die Motive der Patrioten des 20. Juli noch nicht richtig würdigen konnten. Es wäre offenkundig geworden, wer in Wahrheit die Angeklagten und wer in Wahrheit die Ankläger waren. Durch ihre eigenen Verbrechen hatten die Machthaber den Anspruch auf Eidestreue zum Beispiel durch die Soldaten längst selbst verwirkt. Es waren vielmehr die Angeklagten jener Prozesse, die das eigentliche, das anständige Deutschland vertraten.

Mir ist wichtig, dass wir heute, zumal die Jüngeren unter uns, dass wir, die heute Lebenden, verstehen, warum wir die drückende Bürde jener Geschichte, die zu unserer jüngeren, jüngsten deutschen Geschichte gehört, nicht einfach abschütteln dürfen. Uns muss bewusst bleiben, dass Menschenwürde und Freiheit und Recht der einzelnen Person Werte sind, auf die man sich immer aufs Neue zurückbesinnen muss, für die man immer aufs Neue einzustehen hat, Werte, mit denen wir selbst uns innerlich identifizieren.

Nun ist es wahr, dass der demokratische Rechtsstaat, in dem wir in der Bundesrepublik seit 30 Jahren als freie Bürger leben, nicht genau jener Staat ist, den sich die Frauen und Männer des 20. Juli vorgestellt haben. Aber dies mindert nicht die Größe und die geschichtlich-moralische Bedeutung ihrer Taten. Weil sie erkannt hatten, dass Hitler Deutschland und Europa in die Katastrophe zu führen entschlossen und auf dem Wege war, wollten sie, von ihrem Gewissen dazu gedrängt, den Verderber unseres Volkes und anderer europäischer Völker an der Vollendung dieses Verbrechens hindern. Abertausende von Deutschen, von Menschen aus fast allen europäischen Völkern, haben im Widerstand dagegen ihr Leben geopfert.

Eine der entscheidenden Lehren aus dem deutschen Widerstand hat Kurt Schumacher ganz kurz nach dem Kriege gezogen, als er gesagt hat: „Wir müssen alles tun, damit sich die Schrecken der Vergangenheit niemals wiederholen können.“

Wenn man die Wiederholung der Schrecken verhindern will, dann verlangt das von uns die Wachsamkeit, die Wachsamkeit aller Demokraten; und es verlangt von uns allen die Abwehr jedweden Extremismus, egal ob von links oder von rechts.