Die Suche nach meinem Vater Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Maria Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg
Die Suche nach meinem Vater Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg
Vortrag von Dr. Maria Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer der Mordaktionen zwischen dem 22. und 24.April 1945
Das Kriegsende war eine Zeit der Suche. Die einen, die ihre Heimat verloren hatten, suchten nach einer neuen Bleibe, die anderen suchten nach Anverwandten, die sie vermissten, und die meisten hatten zusätzlich ihre Orientierung verloren. Ich komme aus Süddeutschland und hatte daher die Heimat behalten. Weder war meine Mutter verhaftet worden noch kamen wir unter anderem Namen nach Bad Sachsa in Sippenhaft.
Dass wir unseren Vater verloren hatten, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn bis kurz vor Kriegsende hatten meine Mutter sogenannte Kassiber aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße in Berlin erreicht. Das waren kurze Nachrichten, die die Gefangenen auf Papierfetzen schrieben und zwischen ihrer Schmutzwäsche versteckten. Diese Wäsche wurde an bestimmten Wochentagen von Verwandten oder Freunden aus dem Gefängnis abgeholt und durch frische Wäsche und auch Lebensmittel ausgetauscht. Diese Nachrichten blieben nun dank der zusammengebrochenen Postverbindungen aus, was noch nichts Schlimmes bedeuten musste. Wir warteten zunächst auf die Heimkehr unseres Vaters, denn jeden Tag kamen Menschen vorbei, die von weit her gewandert waren. Doch langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir nach unserem vermissten Vater suchen mussten.
Die erste Enttäuschung bildete der Besuch eines Mannes aus einem der Nachbardörfer, der berichtete, er sei Gefangenenwärter in der Lehrterstraße gewesen und habe mit meinem Vater ausgemacht, sie würden sich nach der Befreiung gemeinsam auf den Heimweg machen. Er habe aber meinen Vater nicht getroffen und habe sich so einige Tage nach der Eroberung der Stadt selbständig auf den Weg gemacht. Hoffnung erweckten andere Durchkommende, die behaupteten, ihn gesehen zu haben oder zu wissen, dass er bald nach Hause kommen würde. Relativ bald kam man durch Gespräche mit anderen Bekannten darauf, dass dies eine Masche unter den Herumziehenden war, um sich etwas zum Essen, ein Nachtlager oder eine Anziehsache zu ergattern. Dann aber kamen im Laufe des Sommers der Gefängnispfarrer Harald Poelchau und Mitgefangene wie Fabian von Schlabrendorff, die meiner Mutter wenig Hoffnung machten, dass die Nazis meinen Vater am Leben gelassen hatten. Über das tatsächliche Schicksal meines Vaters konnten sie allerdings alle keine Auskunft geben.
Dann erreichte meine Mutter im Laufe des Sommers, der besonders heiß war, die Nachricht, mein Vater sei wahrscheinlich in einem Massengrab in Berlin beerdigt und sie solle dorthin kommen, um ihn zu identifizieren. Davon rieten ihr alle Verwandten ab. Bei dem Grab mag es sich wohl um die Stätte im Dorotheenstädtischen Friedhof gehandelt haben, in der u. a. Klaus Bonhoeffer begraben lag. Diese Version tauchte dann noch mal in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf. Dann verfolgte meine Mutter eine weitere Spur und fuhr auf der Suche nach meinem Vater – ebenfalls erfolglos – ins KZ Flossenbürg bei Weiden in der Oberpfalz. Auch kam aus Berlin die Nachricht – wohl anknüpfend an das Schicksal von Justus Delbrück – die Russen hätten meinen Vater verhaftet und nach Moskau verschleppt. Dort wäre er in der Ljublianka. Nun häuften sich die Aussagen von Menschen, die über ihn im Radio gehört haben wollten, die Menschen kannten, die ihn gesehen hätten.
Wir Kinder hatten an der Suche meiner Mutter wenig Anteil, wir waren auch nicht dabei, wenn Mitgefangene sie besuchten und aus der gemeinsamen Zeit berichteten. Meine Mutter stand auf dem Standpunkt, dass es das Leben meines Vaters war, das er gemeistert hatte, das aber nichts mit uns zu tun habe. Wir warteten weiter, in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Trauer schwankend, dem sich im Laufe der Jahre das schlechte Gewissen hinzugesellte, was für ein entsetzliches Leben, sofern er noch lebte, meinem Vater beschert wäre und dass, unter diesem Gesichtspunkt unsere Hoffnung, dass er lebte, doch eher egoistisch war. Es dauerte zehn Jahre bis meine Mutter, gezwungen durch vermögensrechtliche Vorgänge, sich dazu entschließen konnte, meinen Vater für tot erklären zu lassen, obwohl es über sein Schicksal nichts als Vermutungen gab.
Dieses Datum ist in meiner Erinnerung kein wirklicher Einschnitt und beendete für mich weder die Hoffnung auf seine Wiederkehr noch war damit der Moment für echte Trauer gefunden. Wirklich Abschied haben wir eigentlich nie von ihm genommen. Es hat für meinen Vater weder einen Trauergottesdienst gegeben noch einen Gedenkstein. Ich glaube, wir haben nie aufgehört, zu trauern und nie aufgehört zu suchen.
Schon vorher hatte die Suche nach dem mir unbekannten Vater begonnnen. Ich hatte, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern dieser Zeit, die lebhaften Erinnerungen einer 14-Jährigen. Das bedeutete aber nicht, zu wissen, was er eigentlich gedacht, was ihn in den Widerstand gebracht hatte. Heranwachsend begann ich etwas zaghaft zu versuchen, mir ein Bild von meinem Vater zu machen, die Frage zu stellen, wer er eigentlich gewesen war. Die Antworten kamen zunächst aus seinem Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis und hatten wenig mit seinen politischen Vorstellungen zu tun, sondern bezogen sich auf seinen Charakter und den Grad seiner Beliebtheit. Der Tochter Kritisches zu vermitteln, hüteten sich die meisten und da ich ihn aus meiner Erinnerung ohnedies sehr verehrte, bekam ich für diese Sicht der Dinge neue Nahrung. Das weitere Umfeld sprach entweder gar nicht oder mit großer Hochachtung von ihm. Richtige Abwertung des Widerstands ist mir persönlich in dieser Zeit nicht begegnet. Die Amerikaner, Bayern lag ja in der amerikanischen Zone, begegneten uns freundlich und auch interessiert. Mein Vater war ein Held. Ich erinnere eine meiner Lehrerinnen, die mich, als ich einer Mitschülerin, die bei einer Klassenarbeit abgeschrieben hatte, in einer Auseinandersetzung entgegen hielt, mein Vater habe im Abitur mehrere billige Taschenuhren bei sich gehabt, in deren aufklappbaren Deckel er je nach Bedarf Spickzettel mit mathematischen Formeln oder Vokabeln eingefügt hatte, voll Entsetzen abwehrte: „Theodora, das dürfen Sie nicht über Ihren Vater sagen.“ Ich fand das reichlich übertrieben, ja, ich hatte eigentlich eher das Gefühl, dass dieser fabelhafte Vater auf diese Weise langsam etwas erdrückend wurde.
Dem entzog ich mich schnell durch eine äußerst vergnügte Studentenzeit, in der ich immer wieder versuchte, an die Gedankenwelt meines Vaters heranzukommen. Was allerdings nicht bedeutete, dass ich mich besonders mit dem Nationalsozialismus oder mit dem direkten Schicksal meines Vaters auseinandersetzte. Es war alles ein bisschen ambivalent. Ich kreiste an der Peripherie des Lebens meines Vaters herum und wollte vor allem gar nicht genau wissen, was ihm im Gefängnis widerfahren war.
Erst viele Jahre später machte mir Peter Steinbach Mut, dies zu tun, mit der Begründung, dass Menschen Erinnerungen oder Situationen verdrängten, nicht über sie sprächen, weil sie vor den verdrängten Schmerzen und der Trauer Angst hätten, die sie damit hervorrufen würden. Schmerz und Trauer kämen tatsächlich, aber könnten nur so bearbeitet und damit erträglich werden. Diese Erfahrung, die ich dann tatsächlich gemacht habe, möchte ich allen weitergeben, denen im Leben Schweres widerfahren ist: Darüber sprechen kann sehr befreiend sein.
Aber es dauerte eine lange Zeit, bis es endlich so weit war, dass ich mich wirklich mit dem Schicksal und der Gedankenwelt meines Vaters auseinandersetzte. Zu den Gedenkfeiern in Berlin kam ich mit meinem Mann erst, als sich der 20. Juli 1944 zum 25. Mal jährte.
Meine Mutter war der Meinung gewesen, dass es wenig bis nichts an Schriftlichem gäbe, was über die Zeit meines Vaters im Widerstand und seine Vorstellungen Auskunft geben könnte. So lehnte sie auch ab, mit Ger van Roon, der als erster über den Kreisauer Kreis forschte, zu reden. Allerdings brachte auf ihre Veranlassung hin der Münchner Historiker Anton Ritthaler, der meinen Vater seit Studentenzeiten kannte, im Rahmen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte eine sehr gute Lebensbeschreibung heraus. Die für die heutige Forschung sehr interessanten Tagebuchnotizen aus den Jahren 1942-1944, die die Netzwerke, die zwischen den einzelnen Widerständlern bestanden, aufzeigen, gelangten allerdings erst nach 1955, nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags zwischen Österreich und Russland in Wien, in ihre Hände. Mein Vater hatte sie vor seiner Verhaftung einem aus Österreich stammenden und bei den Kosaken in Agram, heute Zagreb, dienenden Verwandten zur Aufbewahrung gegeben, der vor diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit sah, sie meiner Mutter zurückzugeben. Diese Aufzeichnungen meines Vaters sah ich erst nach ihrem Tod im Jahre 1976.
Ich war schon lange verheiratet und unser Sohn erwachsen als mit dem Auftrag, für die Gedenkstätte eine Broschüre über die „Weißen Blätter“ zu schreiben, der Durchbruch kam. Die „Weißen Blätter“ waren eine Zeitschrift, die mein Vater, überzeugter Monarchist seit 1934, herausgegeben hatte, um zunächst den monarchischen Gedanken am Leben zu erhalten und die dann mehr und mehr in Widerspruch zum Nationalsozialismus gerieten und ihm letztlich den Weg in den Widerstand ebneten. In der frühen Literatur über den Widerstand wird diese Zeitschrift als „Kristallisationspunkt des Widerstands“ apostrophiert und genauso sah ich sie auch. So arbeitete ich alles aus ihrer Geschichte und ihrem Inhalt heraus, was diese These unterstrich. Etwas indigniert stellte ich im Vorwort Ekkehard Klausas zu meiner Schrift fest, dass auch in den widerständischen Texten Dinge enthalten waren, die nicht nur missverständlich waren, sondern sogar eigentlich nationalsozialistischen Vorstellungen entsprachen. Ekkehard Klausa ist ein uralter Freund und so nahm ich seine Kritik ernst. Ich stieß zum ersten Mal in milder Form auf einige der zahlreichen Vorwürfe, die im Zusammenhang mit der Kritik an den der sogenannten Konservativen Revolution zugehörenden Widerständlern schon früher erhoben wurden und die auch meinen Vater mit einbezogen. Also las ich meine Quellen neu und fing langsam, sehr langsam an, zu akzeptieren, dass auch viele Ideen meines Vaters in der damaligen Zeit durchaus den nationalsozialistischen entsprachen. Eine neue Sichtweise, die aber bald dazu führte, diesen Vater noch mehr zu bewundern. Trotz dieser nicht nur scheinbaren, sondern durchaus ernstzunehmenden Gemeinsamkeiten hatte er es fertig gebracht, im Laufe der Zeit und zwar zum Teil schon vor der sogenannten Machtübernahme Hitlers dessen Gefährlichkeit zu erkennen und sein Programm abzulehnen.
Die Vorwürfe an diejenigen, die der Konservativen Revolution zugerechnet wurden, waren vielseitig. So wurde ihnen angerechnet, dass sie den Kommunismus abgelehnt hätten. Tatsache ist, dass mein Vater die sozialistischen Tendenzen im Nationalsozialismus bekämpfte, die er aus der Beschäftigung mit dem Kommunismus kannte. Der Kommunismus als etwas Furchterregendes und Schreckeinflößendes hat auch meine Jugend bestimmt und das nicht zu Unrecht. Denn mein Vater kannte viele Balten, aber auch russische Emigranten, die die Revolution überlebt und aus Russland geflohen waren. In seinem Bücherschrank stand reihenweise Literatur über deren Schicksal und ihre Lebenserinnerungen, Erlebnisse, die berechtigterweise nicht dazu angetan waren, Angehörige bürgerlicher Kreise dem Kommunismus in die Arme zu treiben. Mit dem Vorwurf, mein Vater habe den Kommunismus nicht nur abgelehnt, sondern auch bekämpft, konnte ich gut leben. Diese Einschätzung verband ihn zwar mit Alfred Rosenberg, der ja auch Balte war, verleitete ihn aber nicht zu dessen Grausamkeiten gegen die Russen. Der Kommunismus war abzulehnen, die Russen aber weder Untermenschen noch Freiwild.
Mein Vater wurde für mich zu einem überzeugenden Beispiel für das, was die Wissenschaft im Laufe der Zeit über die Kirchen und andere Institutionen im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus herausgearbeitet hat, nämlich, dass es nicht die Institutionen waren, die Widerstand leisteten, sondern immer einzelne mutige Individuen, die allerdings fest in den jeweiligen Wertvorstellungen solcher Institutionen verankert waren. Nach dem Krieg wurden diese Einzelnen dann häufig gerade von ihrer Institution, die sie nachgewiesenermaßen während der Zeit des Nationalsozialismus oft als lästig und gefährdend empfunden hatte, zur Rechtfertigung der Institution vereinnahmt. Bis dahin alles was man mir sagte gern glaubend, wurde ich gerade durch die Beschäftigung mit dem Widerstand zunehmend kritischer, hörte genauer hin, vor allem bei den Gedenkreden zu den Feiern anlässlich der Wiederkehr des 20. Juli 1944 und der Vereinnahmung unserer Väter durch die heutigen Politiker.
Die Rezeption der Geschichte des Widerstands hielt für die Nachkommen manches Wechselbad der Gefühle bereit. Da war die rückschauend an sich notwendige Diskussion der 68er, die aber die ganze Gesellschaft, auch die Widerständler und hier vor allem die Konservativen unter ihnen mitschuldig dafür sprach, dass der Nationalsozialismus überhaupt hatte aufkommen können. Ideale als Beweggrund, sich dem Widerstand anzuschließen, schienen nicht mehr anerkannt zu werden. Der Widerstand war etwas, das aus dem egoistischen Bestreben entstanden war, den eigenen Besitzstand, sei es den persönlichen aber auch den Deutschlands zu erhalten und sich erst formierte als nach Stalingrad diese Bestrebungen in Frage gestellt wurden. Demnach waren alle Deutschen Antisemiten und wenn vielleicht nicht gerade einverstanden, so doch mitverantwortlich für den Holocaust.
Ich überzeichne hier bewusst, um darauf zu verweisen, dass für viele der Hinterbliebenen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Beweggründen ihrer Lieben sehr schmerzlich verlief. Denn man darf im Allgemeinen nicht vergessen, dass die breite Anerkennung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus durch die Bevölkerung lange auf sich warten ließ und auch heute noch von manchen sehr ambivalent gesehen wird. Nicht nur die Adenauerregierung, sondern auch die untergeordneten Behörden waren, da sie letztlich über das know how verfügten und nur wenige Widerständler überlebt hatten, an vielen Stellen von alten Nazis besetzt. Ich behaupte, zugegebenermaßen sehr holzschnitthaft, dass die Richter, die dereinst unsere Väter verurteilt hatten, nun darüber befanden, ob unsere Mütter eine Rente bekamen. Die Anwürfe der Forscher führten oft zu schmerzhaften Verletzungen der Hinterbliebenen, die sich nun aufgerufen fühlten, ihre toten Verwandten und Freunde zu verteidigen. Das ließ die Diskussionen sehr emotional und nicht ohne weitere Verletzungen auf beiden Seiten verlaufen. Sie führten aber auch dazu, dass ich als Angehörige zunächst nicht mehr fähig war, in vielen Texten die Stellen zu entdecken, die durchaus positive Schlüsse aus den scheinbar negativen Erkenntnissen zogen.
Dank meines Privilegs, in der Jugend Geschichte studiert haben zu dürfen, nahmen dann doch mit der Zeit die dort erlernten Mechanismen wieder überhand, die mir halfen, die Kränkungen auszuhalten. Eine große Hilfe bei diesem Prozess waren für mich Gespräche mit Vertretern und Mitgliedern von Einrichtungen wie die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“, danke, Herr Tuchel, der „Stiftung 20. Juli“ und last not least der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ mit ihren Tagungen in Königswinter und vor allem der Austausch mit Herrn Tobias Korenke. In diesem relativ geschützten Raum war es, umgeben von anderen Hinterbliebenen, einfacher sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen der Historiker auseinanderzusetzen.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass, als Angehörige der Kindergeneration beschlossen, die Forschungsgemeinschaft zu gründen, dies seitens einiger Überlebender vehement abgelehnt wurde, mit dem Hinweis, sie hätten alles gesagt, was die Forschung wissen müsste und nun könnte man das Thema ruhen lassen. Mir persönlich war aus den genannten Gründen diese Tagung jedes Jahr unendlich wichtig und ist es auch heute noch. Dort habe ich für mich gelernt, dass auch die Geschichte einem Kaleidoskop ähnelt, diesem geliebten Kinderspielzeug, in dem die immer gleichen Glasscherben durch ein Guckloch betrachtet neue Formen bilden, so dass sich das Bild immer wieder ändert und neu formiert. So entstehen auch in der Geschichte aus den gleichen Tatsachen über die Jahre und Generationen neue Fragen und Sichtweisen.
Langsam über die Jahre konnte auch ich akzeptieren, dass mein Vater in jungen Jahren als Student, politisch interessiert wie er nun einmal war, den Nationalsozialismus mit mehr als nur wohlwollendem Interesse verfolgte, sich aber schon nach dem Hitlerputsch von 1923 kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte und 1930 das Programm Hitlers ablehnte. So las ich mit großem Interesse das Buch Stephan Malinowskis „Vom König zum Führer“ und stellte dort mit wachsendem Erstaunen weitere Gemeinsamkeiten im Denken der Konservativen und der Nationalsozialisten fest. Immer deutlicher wurde so die Erkenntnis, dass trotz der weltanschaulichen Verflechtungen der Ansichten, die Vorstellungen über deren Ausführung divergierten und so in den Widerstand führten.
Ich habe in München bei dem Historiker Franz Schnabel studiert, dem ja im vergangenen Jahr hier in der Gedenkstätte eine Ausstellung gewidmet war. Im Zusammenhang mit der Französischen Revolution hatte er uns – hier vereinfacht wiedergegeben – erklärt, dass den Enkeln für die Gedanken der Großväter die Köpfe abgeschlagen worden waren. Jeder seiner ein Jahrhundert behandelnden Vorlesungszyklen während eines Semesters begann mit der ausführlichen Darlegung der Geistesgeschichte des vorhergehenden Jahrhunderts. Diese damals als interessant empfundene Sichtweise wurde nun zum Schlüsselerlebnis. Viele Vorstellungen, eigentlich fast alle Vorstellungen der Konservativen in der Generation meines Vaters, wurzelten im 19. Jahrhundert, waren dort gedacht und entwickelt worden und bestimmten nun die Gedankenwelt und natürlich auch die Taten dieser Generation. Hinzu kamen dann noch die Lebenserfahrungen der Vätergeneration. Sie hat ihre Kindergeneration auf Grund ihrer Erfahrungen und Vorstellungen erzogen. Und es war eine sehr selbstbewusste und von ihren Vorstellungen überzeugte Generation. Wir wissen heute, dass Kinder wie Wachstafeln sind, in die das was sie lernen, unwiederbringlich eingekratzt wird. Die Erziehungsmethoden waren damals, auch das wissen wir, sehr vehement und entsprechend tief ging das Einkratzen. Ich will hier weder anklagen noch beschönigen, ich will einfach nur erzählen. Vor diesem Hintergrund werden nach meiner Vorstellung Traditionen weitergegeben und Zeitgeist gebildet. Hier liegt die Chance der Stütze, aber auch die Gefahr der Behinderung. Jonathan Swift beschreibt in seinem heute oft als Kinderbuch missverstandenen „Gullivers Reisen“ wie sein Protagonist einmal im Reiche der Zwerge mit tausend kleinen Fäden an den Boden gefesselt wurde und ihm dann im Reiche der Riesen mit dicken Stricken das Gleiche noch einmal widerfahren war. Er beschreibt die Mühen und auch die Schmerzen, die es gekostet hat, bis sich der Reisende von seinen jeweiligen Fesseln befreien und wieder aufstehen konnte. Für mich ist heute das Faszinierende am Widerstand, dass es hier einzelnen Menschen gelungen ist, sich aus den Bindungen an Tradition und Zeitgeist zu lösen, ihre Gefahren zu erkennen, sie nicht nur abzulehnen, sondern ihnen sogar entgegenzutreten. Und das in einem oft noch sehr jugendlichen Alter.
Vor nicht allzu langer Zeit hat man auf europäischer Ebene dem deutschen Widerstand die Eigenschaft abgesprochen, eine Vorbildfunktion zu übernehmen. Er sei nicht demokratisch genug gewesen. Vordergründig waren viele von ihnen das auch nicht. Mein Vater war bis wenige Jahre vor seinem Tod ausschließlich Monarchist, für ihn war der Ständestaat das Ideal, das entspricht dem Gesellschaftsbild einer stufenweisen Pyramide, auf der jeder Mensch auf seiner Stufe den für ihn von Gott vorgesehenen Platz findet. Noch heute kennt man ja die alten Abbildungen dieser Pyramide. Auf der untersten Stufe steht der Bauer, dann kommt der Soldat, der Bürgerliche, der Adelige, der Kirchenmann, der König, der Kaiser und endlich thront über allem Gott Vater. Vor diesem Hintergrund wurde das Sprichwort „Schuster bleib bei Deinem Leisten“ gern zitiert. Diese Pyramide, die ja letztlich ein Kastendenken war, wurde in diesem Weltbild, das darf nicht verschwiegen werden und das erklärt auch vieles, sowohl auf Völker wie auch auf Rassen angewandt. Also auf der ganzen Linie alles andere als demokratisch und daher ist die europäische Ablehnung vordergründig verständlich. Und doch: Wenn man sich die Angehörigen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus genauer anschaut, dann waren sicher viele von ihnen keine lupenreinen Demokraten, aber sie hatten Eigenschaften, auf die kein Demokrat verzichten kann: sie waren mutig, sie waren kritisch und sie haben auf ihre Umwelt und ihre Mitmenschen geachtet, sich nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der Probleme anderer angenommen. Sie haben vor allem für die Majestät des Rechts gekämpft, vor dem, und das wollten sie, alle Menschen gleich sind. Sie alle hatten feste, oft tiefe religiöse Bindungen, und fühlten sich daher für ihr Tun und ihre Umwelt verantwortlich. Keine Demokratie kann ohne diese Eigenschaften ihrer Mitglieder existieren.
Ich habe vor Jahren die Biographie meines Vaters mit einem Gedicht Erich Frieds begonnen und möchte diesen Vortrag mit eben diesem Gedicht schließen:
Es ist wichtig,
daß der Mensch
das Richtige denkt
Es ist wichtig,
daß der, der das Richtige denkt
ein Mensch ist.
Maria Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg
Die Suche nach meinem Vater Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg
Vortrag von Dr. Maria Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer der Mordaktionen zwischen dem 22. und 24.April 1945
Das Kriegsende war eine Zeit der Suche. Die einen, die ihre Heimat verloren hatten, suchten nach einer neuen Bleibe, die anderen suchten nach Anverwandten, die sie vermissten, und die meisten hatten zusätzlich ihre Orientierung verloren. Ich komme aus Süddeutschland und hatte daher die Heimat behalten. Weder war meine Mutter verhaftet worden noch kamen wir unter anderem Namen nach Bad Sachsa in Sippenhaft.
Dass wir unseren Vater verloren hatten, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn bis kurz vor Kriegsende hatten meine Mutter sogenannte Kassiber aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße in Berlin erreicht. Das waren kurze Nachrichten, die die Gefangenen auf Papierfetzen schrieben und zwischen ihrer Schmutzwäsche versteckten. Diese Wäsche wurde an bestimmten Wochentagen von Verwandten oder Freunden aus dem Gefängnis abgeholt und durch frische Wäsche und auch Lebensmittel ausgetauscht. Diese Nachrichten blieben nun dank der zusammengebrochenen Postverbindungen aus, was noch nichts Schlimmes bedeuten musste. Wir warteten zunächst auf die Heimkehr unseres Vaters, denn jeden Tag kamen Menschen vorbei, die von weit her gewandert waren. Doch langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir nach unserem vermissten Vater suchen mussten.
Die erste Enttäuschung bildete der Besuch eines Mannes aus einem der Nachbardörfer, der berichtete, er sei Gefangenenwärter in der Lehrterstraße gewesen und habe mit meinem Vater ausgemacht, sie würden sich nach der Befreiung gemeinsam auf den Heimweg machen. Er habe aber meinen Vater nicht getroffen und habe sich so einige Tage nach der Eroberung der Stadt selbständig auf den Weg gemacht. Hoffnung erweckten andere Durchkommende, die behaupteten, ihn gesehen zu haben oder zu wissen, dass er bald nach Hause kommen würde. Relativ bald kam man durch Gespräche mit anderen Bekannten darauf, dass dies eine Masche unter den Herumziehenden war, um sich etwas zum Essen, ein Nachtlager oder eine Anziehsache zu ergattern. Dann aber kamen im Laufe des Sommers der Gefängnispfarrer Harald Poelchau und Mitgefangene wie Fabian von Schlabrendorff, die meiner Mutter wenig Hoffnung machten, dass die Nazis meinen Vater am Leben gelassen hatten. Über das tatsächliche Schicksal meines Vaters konnten sie allerdings alle keine Auskunft geben.
Dann erreichte meine Mutter im Laufe des Sommers, der besonders heiß war, die Nachricht, mein Vater sei wahrscheinlich in einem Massengrab in Berlin beerdigt und sie solle dorthin kommen, um ihn zu identifizieren. Davon rieten ihr alle Verwandten ab. Bei dem Grab mag es sich wohl um die Stätte im Dorotheenstädtischen Friedhof gehandelt haben, in der u. a. Klaus Bonhoeffer begraben lag. Diese Version tauchte dann noch mal in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf. Dann verfolgte meine Mutter eine weitere Spur und fuhr auf der Suche nach meinem Vater – ebenfalls erfolglos – ins KZ Flossenbürg bei Weiden in der Oberpfalz. Auch kam aus Berlin die Nachricht – wohl anknüpfend an das Schicksal von Justus Delbrück – die Russen hätten meinen Vater verhaftet und nach Moskau verschleppt. Dort wäre er in der Ljublianka. Nun häuften sich die Aussagen von Menschen, die über ihn im Radio gehört haben wollten, die Menschen kannten, die ihn gesehen hätten.
Wir Kinder hatten an der Suche meiner Mutter wenig Anteil, wir waren auch nicht dabei, wenn Mitgefangene sie besuchten und aus der gemeinsamen Zeit berichteten. Meine Mutter stand auf dem Standpunkt, dass es das Leben meines Vaters war, das er gemeistert hatte, das aber nichts mit uns zu tun habe. Wir warteten weiter, in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Trauer schwankend, dem sich im Laufe der Jahre das schlechte Gewissen hinzugesellte, was für ein entsetzliches Leben, sofern er noch lebte, meinem Vater beschert wäre und dass, unter diesem Gesichtspunkt unsere Hoffnung, dass er lebte, doch eher egoistisch war. Es dauerte zehn Jahre bis meine Mutter, gezwungen durch vermögensrechtliche Vorgänge, sich dazu entschließen konnte, meinen Vater für tot erklären zu lassen, obwohl es über sein Schicksal nichts als Vermutungen gab.
Dieses Datum ist in meiner Erinnerung kein wirklicher Einschnitt und beendete für mich weder die Hoffnung auf seine Wiederkehr noch war damit der Moment für echte Trauer gefunden. Wirklich Abschied haben wir eigentlich nie von ihm genommen. Es hat für meinen Vater weder einen Trauergottesdienst gegeben noch einen Gedenkstein. Ich glaube, wir haben nie aufgehört, zu trauern und nie aufgehört zu suchen.
Schon vorher hatte die Suche nach dem mir unbekannten Vater begonnnen. Ich hatte, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern dieser Zeit, die lebhaften Erinnerungen einer 14-Jährigen. Das bedeutete aber nicht, zu wissen, was er eigentlich gedacht, was ihn in den Widerstand gebracht hatte. Heranwachsend begann ich etwas zaghaft zu versuchen, mir ein Bild von meinem Vater zu machen, die Frage zu stellen, wer er eigentlich gewesen war. Die Antworten kamen zunächst aus seinem Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis und hatten wenig mit seinen politischen Vorstellungen zu tun, sondern bezogen sich auf seinen Charakter und den Grad seiner Beliebtheit. Der Tochter Kritisches zu vermitteln, hüteten sich die meisten und da ich ihn aus meiner Erinnerung ohnedies sehr verehrte, bekam ich für diese Sicht der Dinge neue Nahrung. Das weitere Umfeld sprach entweder gar nicht oder mit großer Hochachtung von ihm. Richtige Abwertung des Widerstands ist mir persönlich in dieser Zeit nicht begegnet. Die Amerikaner, Bayern lag ja in der amerikanischen Zone, begegneten uns freundlich und auch interessiert. Mein Vater war ein Held. Ich erinnere eine meiner Lehrerinnen, die mich, als ich einer Mitschülerin, die bei einer Klassenarbeit abgeschrieben hatte, in einer Auseinandersetzung entgegen hielt, mein Vater habe im Abitur mehrere billige Taschenuhren bei sich gehabt, in deren aufklappbaren Deckel er je nach Bedarf Spickzettel mit mathematischen Formeln oder Vokabeln eingefügt hatte, voll Entsetzen abwehrte: „Theodora, das dürfen Sie nicht über Ihren Vater sagen.“ Ich fand das reichlich übertrieben, ja, ich hatte eigentlich eher das Gefühl, dass dieser fabelhafte Vater auf diese Weise langsam etwas erdrückend wurde.
Dem entzog ich mich schnell durch eine äußerst vergnügte Studentenzeit, in der ich immer wieder versuchte, an die Gedankenwelt meines Vaters heranzukommen. Was allerdings nicht bedeutete, dass ich mich besonders mit dem Nationalsozialismus oder mit dem direkten Schicksal meines Vaters auseinandersetzte. Es war alles ein bisschen ambivalent. Ich kreiste an der Peripherie des Lebens meines Vaters herum und wollte vor allem gar nicht genau wissen, was ihm im Gefängnis widerfahren war.
Erst viele Jahre später machte mir Peter Steinbach Mut, dies zu tun, mit der Begründung, dass Menschen Erinnerungen oder Situationen verdrängten, nicht über sie sprächen, weil sie vor den verdrängten Schmerzen und der Trauer Angst hätten, die sie damit hervorrufen würden. Schmerz und Trauer kämen tatsächlich, aber könnten nur so bearbeitet und damit erträglich werden. Diese Erfahrung, die ich dann tatsächlich gemacht habe, möchte ich allen weitergeben, denen im Leben Schweres widerfahren ist: Darüber sprechen kann sehr befreiend sein.
Aber es dauerte eine lange Zeit, bis es endlich so weit war, dass ich mich wirklich mit dem Schicksal und der Gedankenwelt meines Vaters auseinandersetzte. Zu den Gedenkfeiern in Berlin kam ich mit meinem Mann erst, als sich der 20. Juli 1944 zum 25. Mal jährte.
Meine Mutter war der Meinung gewesen, dass es wenig bis nichts an Schriftlichem gäbe, was über die Zeit meines Vaters im Widerstand und seine Vorstellungen Auskunft geben könnte. So lehnte sie auch ab, mit Ger van Roon, der als erster über den Kreisauer Kreis forschte, zu reden. Allerdings brachte auf ihre Veranlassung hin der Münchner Historiker Anton Ritthaler, der meinen Vater seit Studentenzeiten kannte, im Rahmen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte eine sehr gute Lebensbeschreibung heraus. Die für die heutige Forschung sehr interessanten Tagebuchnotizen aus den Jahren 1942-1944, die die Netzwerke, die zwischen den einzelnen Widerständlern bestanden, aufzeigen, gelangten allerdings erst nach 1955, nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags zwischen Österreich und Russland in Wien, in ihre Hände. Mein Vater hatte sie vor seiner Verhaftung einem aus Österreich stammenden und bei den Kosaken in Agram, heute Zagreb, dienenden Verwandten zur Aufbewahrung gegeben, der vor diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit sah, sie meiner Mutter zurückzugeben. Diese Aufzeichnungen meines Vaters sah ich erst nach ihrem Tod im Jahre 1976.
Ich war schon lange verheiratet und unser Sohn erwachsen als mit dem Auftrag, für die Gedenkstätte eine Broschüre über die „Weißen Blätter“ zu schreiben, der Durchbruch kam. Die „Weißen Blätter“ waren eine Zeitschrift, die mein Vater, überzeugter Monarchist seit 1934, herausgegeben hatte, um zunächst den monarchischen Gedanken am Leben zu erhalten und die dann mehr und mehr in Widerspruch zum Nationalsozialismus gerieten und ihm letztlich den Weg in den Widerstand ebneten. In der frühen Literatur über den Widerstand wird diese Zeitschrift als „Kristallisationspunkt des Widerstands“ apostrophiert und genauso sah ich sie auch. So arbeitete ich alles aus ihrer Geschichte und ihrem Inhalt heraus, was diese These unterstrich. Etwas indigniert stellte ich im Vorwort Ekkehard Klausas zu meiner Schrift fest, dass auch in den widerständischen Texten Dinge enthalten waren, die nicht nur missverständlich waren, sondern sogar eigentlich nationalsozialistischen Vorstellungen entsprachen. Ekkehard Klausa ist ein uralter Freund und so nahm ich seine Kritik ernst. Ich stieß zum ersten Mal in milder Form auf einige der zahlreichen Vorwürfe, die im Zusammenhang mit der Kritik an den der sogenannten Konservativen Revolution zugehörenden Widerständlern schon früher erhoben wurden und die auch meinen Vater mit einbezogen. Also las ich meine Quellen neu und fing langsam, sehr langsam an, zu akzeptieren, dass auch viele Ideen meines Vaters in der damaligen Zeit durchaus den nationalsozialistischen entsprachen. Eine neue Sichtweise, die aber bald dazu führte, diesen Vater noch mehr zu bewundern. Trotz dieser nicht nur scheinbaren, sondern durchaus ernstzunehmenden Gemeinsamkeiten hatte er es fertig gebracht, im Laufe der Zeit und zwar zum Teil schon vor der sogenannten Machtübernahme Hitlers dessen Gefährlichkeit zu erkennen und sein Programm abzulehnen.
Die Vorwürfe an diejenigen, die der Konservativen Revolution zugerechnet wurden, waren vielseitig. So wurde ihnen angerechnet, dass sie den Kommunismus abgelehnt hätten. Tatsache ist, dass mein Vater die sozialistischen Tendenzen im Nationalsozialismus bekämpfte, die er aus der Beschäftigung mit dem Kommunismus kannte. Der Kommunismus als etwas Furchterregendes und Schreckeinflößendes hat auch meine Jugend bestimmt und das nicht zu Unrecht. Denn mein Vater kannte viele Balten, aber auch russische Emigranten, die die Revolution überlebt und aus Russland geflohen waren. In seinem Bücherschrank stand reihenweise Literatur über deren Schicksal und ihre Lebenserinnerungen, Erlebnisse, die berechtigterweise nicht dazu angetan waren, Angehörige bürgerlicher Kreise dem Kommunismus in die Arme zu treiben. Mit dem Vorwurf, mein Vater habe den Kommunismus nicht nur abgelehnt, sondern auch bekämpft, konnte ich gut leben. Diese Einschätzung verband ihn zwar mit Alfred Rosenberg, der ja auch Balte war, verleitete ihn aber nicht zu dessen Grausamkeiten gegen die Russen. Der Kommunismus war abzulehnen, die Russen aber weder Untermenschen noch Freiwild.
Mein Vater wurde für mich zu einem überzeugenden Beispiel für das, was die Wissenschaft im Laufe der Zeit über die Kirchen und andere Institutionen im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus herausgearbeitet hat, nämlich, dass es nicht die Institutionen waren, die Widerstand leisteten, sondern immer einzelne mutige Individuen, die allerdings fest in den jeweiligen Wertvorstellungen solcher Institutionen verankert waren. Nach dem Krieg wurden diese Einzelnen dann häufig gerade von ihrer Institution, die sie nachgewiesenermaßen während der Zeit des Nationalsozialismus oft als lästig und gefährdend empfunden hatte, zur Rechtfertigung der Institution vereinnahmt. Bis dahin alles was man mir sagte gern glaubend, wurde ich gerade durch die Beschäftigung mit dem Widerstand zunehmend kritischer, hörte genauer hin, vor allem bei den Gedenkreden zu den Feiern anlässlich der Wiederkehr des 20. Juli 1944 und der Vereinnahmung unserer Väter durch die heutigen Politiker.
Die Rezeption der Geschichte des Widerstands hielt für die Nachkommen manches Wechselbad der Gefühle bereit. Da war die rückschauend an sich notwendige Diskussion der 68er, die aber die ganze Gesellschaft, auch die Widerständler und hier vor allem die Konservativen unter ihnen mitschuldig dafür sprach, dass der Nationalsozialismus überhaupt hatte aufkommen können. Ideale als Beweggrund, sich dem Widerstand anzuschließen, schienen nicht mehr anerkannt zu werden. Der Widerstand war etwas, das aus dem egoistischen Bestreben entstanden war, den eigenen Besitzstand, sei es den persönlichen aber auch den Deutschlands zu erhalten und sich erst formierte als nach Stalingrad diese Bestrebungen in Frage gestellt wurden. Demnach waren alle Deutschen Antisemiten und wenn vielleicht nicht gerade einverstanden, so doch mitverantwortlich für den Holocaust.
Ich überzeichne hier bewusst, um darauf zu verweisen, dass für viele der Hinterbliebenen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Beweggründen ihrer Lieben sehr schmerzlich verlief. Denn man darf im Allgemeinen nicht vergessen, dass die breite Anerkennung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus durch die Bevölkerung lange auf sich warten ließ und auch heute noch von manchen sehr ambivalent gesehen wird. Nicht nur die Adenauerregierung, sondern auch die untergeordneten Behörden waren, da sie letztlich über das know how verfügten und nur wenige Widerständler überlebt hatten, an vielen Stellen von alten Nazis besetzt. Ich behaupte, zugegebenermaßen sehr holzschnitthaft, dass die Richter, die dereinst unsere Väter verurteilt hatten, nun darüber befanden, ob unsere Mütter eine Rente bekamen. Die Anwürfe der Forscher führten oft zu schmerzhaften Verletzungen der Hinterbliebenen, die sich nun aufgerufen fühlten, ihre toten Verwandten und Freunde zu verteidigen. Das ließ die Diskussionen sehr emotional und nicht ohne weitere Verletzungen auf beiden Seiten verlaufen. Sie führten aber auch dazu, dass ich als Angehörige zunächst nicht mehr fähig war, in vielen Texten die Stellen zu entdecken, die durchaus positive Schlüsse aus den scheinbar negativen Erkenntnissen zogen.
Dank meines Privilegs, in der Jugend Geschichte studiert haben zu dürfen, nahmen dann doch mit der Zeit die dort erlernten Mechanismen wieder überhand, die mir halfen, die Kränkungen auszuhalten. Eine große Hilfe bei diesem Prozess waren für mich Gespräche mit Vertretern und Mitgliedern von Einrichtungen wie die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“, danke, Herr Tuchel, der „Stiftung 20. Juli“ und last not least der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ mit ihren Tagungen in Königswinter und vor allem der Austausch mit Herrn Tobias Korenke. In diesem relativ geschützten Raum war es, umgeben von anderen Hinterbliebenen, einfacher sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen der Historiker auseinanderzusetzen.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass, als Angehörige der Kindergeneration beschlossen, die Forschungsgemeinschaft zu gründen, dies seitens einiger Überlebender vehement abgelehnt wurde, mit dem Hinweis, sie hätten alles gesagt, was die Forschung wissen müsste und nun könnte man das Thema ruhen lassen. Mir persönlich war aus den genannten Gründen diese Tagung jedes Jahr unendlich wichtig und ist es auch heute noch. Dort habe ich für mich gelernt, dass auch die Geschichte einem Kaleidoskop ähnelt, diesem geliebten Kinderspielzeug, in dem die immer gleichen Glasscherben durch ein Guckloch betrachtet neue Formen bilden, so dass sich das Bild immer wieder ändert und neu formiert. So entstehen auch in der Geschichte aus den gleichen Tatsachen über die Jahre und Generationen neue Fragen und Sichtweisen.
Langsam über die Jahre konnte auch ich akzeptieren, dass mein Vater in jungen Jahren als Student, politisch interessiert wie er nun einmal war, den Nationalsozialismus mit mehr als nur wohlwollendem Interesse verfolgte, sich aber schon nach dem Hitlerputsch von 1923 kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte und 1930 das Programm Hitlers ablehnte. So las ich mit großem Interesse das Buch Stephan Malinowskis „Vom König zum Führer“ und stellte dort mit wachsendem Erstaunen weitere Gemeinsamkeiten im Denken der Konservativen und der Nationalsozialisten fest. Immer deutlicher wurde so die Erkenntnis, dass trotz der weltanschaulichen Verflechtungen der Ansichten, die Vorstellungen über deren Ausführung divergierten und so in den Widerstand führten.
Ich habe in München bei dem Historiker Franz Schnabel studiert, dem ja im vergangenen Jahr hier in der Gedenkstätte eine Ausstellung gewidmet war. Im Zusammenhang mit der Französischen Revolution hatte er uns – hier vereinfacht wiedergegeben – erklärt, dass den Enkeln für die Gedanken der Großväter die Köpfe abgeschlagen worden waren. Jeder seiner ein Jahrhundert behandelnden Vorlesungszyklen während eines Semesters begann mit der ausführlichen Darlegung der Geistesgeschichte des vorhergehenden Jahrhunderts. Diese damals als interessant empfundene Sichtweise wurde nun zum Schlüsselerlebnis. Viele Vorstellungen, eigentlich fast alle Vorstellungen der Konservativen in der Generation meines Vaters, wurzelten im 19. Jahrhundert, waren dort gedacht und entwickelt worden und bestimmten nun die Gedankenwelt und natürlich auch die Taten dieser Generation. Hinzu kamen dann noch die Lebenserfahrungen der Vätergeneration. Sie hat ihre Kindergeneration auf Grund ihrer Erfahrungen und Vorstellungen erzogen. Und es war eine sehr selbstbewusste und von ihren Vorstellungen überzeugte Generation. Wir wissen heute, dass Kinder wie Wachstafeln sind, in die das was sie lernen, unwiederbringlich eingekratzt wird. Die Erziehungsmethoden waren damals, auch das wissen wir, sehr vehement und entsprechend tief ging das Einkratzen. Ich will hier weder anklagen noch beschönigen, ich will einfach nur erzählen. Vor diesem Hintergrund werden nach meiner Vorstellung Traditionen weitergegeben und Zeitgeist gebildet. Hier liegt die Chance der Stütze, aber auch die Gefahr der Behinderung. Jonathan Swift beschreibt in seinem heute oft als Kinderbuch missverstandenen „Gullivers Reisen“ wie sein Protagonist einmal im Reiche der Zwerge mit tausend kleinen Fäden an den Boden gefesselt wurde und ihm dann im Reiche der Riesen mit dicken Stricken das Gleiche noch einmal widerfahren war. Er beschreibt die Mühen und auch die Schmerzen, die es gekostet hat, bis sich der Reisende von seinen jeweiligen Fesseln befreien und wieder aufstehen konnte. Für mich ist heute das Faszinierende am Widerstand, dass es hier einzelnen Menschen gelungen ist, sich aus den Bindungen an Tradition und Zeitgeist zu lösen, ihre Gefahren zu erkennen, sie nicht nur abzulehnen, sondern ihnen sogar entgegenzutreten. Und das in einem oft noch sehr jugendlichen Alter.
Vor nicht allzu langer Zeit hat man auf europäischer Ebene dem deutschen Widerstand die Eigenschaft abgesprochen, eine Vorbildfunktion zu übernehmen. Er sei nicht demokratisch genug gewesen. Vordergründig waren viele von ihnen das auch nicht. Mein Vater war bis wenige Jahre vor seinem Tod ausschließlich Monarchist, für ihn war der Ständestaat das Ideal, das entspricht dem Gesellschaftsbild einer stufenweisen Pyramide, auf der jeder Mensch auf seiner Stufe den für ihn von Gott vorgesehenen Platz findet. Noch heute kennt man ja die alten Abbildungen dieser Pyramide. Auf der untersten Stufe steht der Bauer, dann kommt der Soldat, der Bürgerliche, der Adelige, der Kirchenmann, der König, der Kaiser und endlich thront über allem Gott Vater. Vor diesem Hintergrund wurde das Sprichwort „Schuster bleib bei Deinem Leisten“ gern zitiert. Diese Pyramide, die ja letztlich ein Kastendenken war, wurde in diesem Weltbild, das darf nicht verschwiegen werden und das erklärt auch vieles, sowohl auf Völker wie auch auf Rassen angewandt. Also auf der ganzen Linie alles andere als demokratisch und daher ist die europäische Ablehnung vordergründig verständlich. Und doch: Wenn man sich die Angehörigen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus genauer anschaut, dann waren sicher viele von ihnen keine lupenreinen Demokraten, aber sie hatten Eigenschaften, auf die kein Demokrat verzichten kann: sie waren mutig, sie waren kritisch und sie haben auf ihre Umwelt und ihre Mitmenschen geachtet, sich nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der Probleme anderer angenommen. Sie haben vor allem für die Majestät des Rechts gekämpft, vor dem, und das wollten sie, alle Menschen gleich sind. Sie alle hatten feste, oft tiefe religiöse Bindungen, und fühlten sich daher für ihr Tun und ihre Umwelt verantwortlich. Keine Demokratie kann ohne diese Eigenschaften ihrer Mitglieder existieren.
Ich habe vor Jahren die Biographie meines Vaters mit einem Gedicht Erich Frieds begonnen und möchte diesen Vortrag mit eben diesem Gedicht schließen:
Es ist wichtig,
daß der Mensch
das Richtige denkt
Es ist wichtig,
daß der, der das Richtige denkt
ein Mensch ist.