Die Widerstandsbewegung hatte bedeutende Ahnen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Klaus von Dohnanyi

Die Widerstandsbewegung hatte bedeutende Ahnen

Gedenkrede des Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaft Dr. Klaus von Dohnanyi am 20. Juli 1968 in der Bonner Beethovenhalle

Im Monat Juli gedenken wir an drei Tagen der Rebellion, der gewaltsamen Erhebung gegen die formale Legitimität. Zwei dieser Gedenktage sind freudige Volksfeste, man kann sagen nationale Geburtstage geworden: Am 4. Juli erinnert sich das amerikanische Volk mit Feuerwerk, Konfetti und Paraden der Unterzeichnung der „Declaration of Independence“ und am 14. Juli strömt Frankreich auf die sommerlichen Straßen, um die Erstürmung der Bastille zu feiern. In allen Ländern geben die Botschaften der Vereinigten Staaten und Frankreichs repräsentative Empfänge: die Rebellion ist in langer Tradition zum nationalen Feiertag, ja die ferne Erinnerung an die Revolution ist sogar zum Schmuck der etablierten Macht geworden.

Der dritte Gedenktag im Juli, der 20. Juli, ist kein Freudentag. Der 20. Juli ist auch kein nationaler Feiertag. Keine Volksbewegung befreite Deutschland vom Faschismus und seinen vaterlandslosen Mördern. Die Freiheit begann mit den Fesseln der militärischen Niederlage und die Freude erstickte in Scham.

Drei Tage im Juli: Markierungen am Wege. Wir haben den 20. Juli als Gedenktag des deutschen Widerstandes gewählt, weil damals von den Rebellen die blanke Waffe offen gegen die Tyrannen gezogen wurde. Aber der 20. Juli 1944 war nur ein Tag unter zwölfmal 365 Tagen, an denen in unserem Lande jene Haltung gelebt wurde, die uns erneut bewusst zu machen wir heute hier versammelt sind.

Denn wir wollen uns ja nicht nur eines historischen Ereignisses besinnen; was uns bewegt und zusammenführt ist die Haltung, die in dem Datum des 20. Juli ihr Symbol gefunden hat. Und hier haben jene drei Tage im Juli ihren gemeinsamen Nenner: Auch die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten am 4. Juli 1776 war nur der Höhepunkt einer jahrzehntelangen Bewegung mutig erklärter Unabhängigkeit einzelner Bürger der neuen Welt; und der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 vollzog nur en masse die Ideen revolutionärer Denker und die couragierte Konfrontation vieler Einzelner mit Tradition und Obrigkeit.

Wenn wir heute des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gedenken, so erinnern wir uns nicht nur des physischen Mutes und der Opferbereitschaft der Widerstandskämpfer. Vor der ungeheuerlichen Tat muss der ungeheuerliche Gedanke gestanden haben, jener Entschluss, aus dem großen Strom der öffentlichen Meinung auszuscheren und – das Vaterland in die eigenen Hände nehmend - auf sich selbst gestellt mit dem patriotischen Gewissen, zu entscheiden über Gut und Böse, über Falsch und Richtig.

Im Laufe der Zeiten verändern die Gestalten der Geschichte ihre Bedeutung. Wir müssen die Bedeutung der deutschen Widerstandsbewegung für unsere Tage suchen. Dem gewaltsam Unterdrückten kann das Vorbild draufgängerischer Freiheitskämpfer Mut und Zuversicht für die eigene Sache einflößen. Aber wir leben heute in einer freien Gesellschaft, auch wenn die Grenzen dieser Freiheit täglich verteidigt und ausgeweitet werden müssen. Körperlicher Mut wird uns kaum abverlangt und für uns sind daher bewaffnete Freiheitskämpfer fast schon romantische Helden geworden - bewundernswert, aber eben doch ohne Konsequenz für unser eigenes Tun und Lassen. Zum Beispiel: Wilhelm Tell. Für unsere Väter war dieser Schütze aus Notwehr ein Trost. Aber was kann er uns heute bedeuten? Stauffachers nachdenklicher Reformwille hat sicher sehr viel mehr Relevanz.

Deswegen ist auch das Attentat des 20. Juli selbst, so scheint mir - im Laufe der Zeiten verändern die Gestalten der Geschichte ihre Bedeutung -, für uns heute in unserer geschichtlichen Situation weniger bedeutsam als der Mut, ja ich möchte noch klarer sagen: als die Zivilcourage, mit der sich die Männer und Frauen der Widerstandsbewegung von den hohl gewordenen Klischees ihrer Umwelt lösten, und unbeirrt von dem nationalistischen Gezeter ihrer Mitbürger, ihre patriotische Pflicht erfüllten. Jeder auf seine Art.

Hierin, so glaube ich, liegt die Aktualität des antifaschistischen Widerstandes für unsere freie Gesellschaft. Wie John Adams, Thomas Jefferson und Benjamin Franklin, wie Mirabeau und Sieyes mussten auch die Männer des 20. Juli zunächst sich selbst von verkrusteter Tradition, von den Vorurteilen des „das war so und muss so bleiben“ befreien. Der Mut, mit dem sie dies taten, der Mut, mit dem sie sich einsam gegen den Strom stellten, dieser Mut ist für uns Herausforderung. Und der Mut ist auch das Vermächtnis. Große Dinge kommen auf Taubenfüßen. Jeder politischen Explosion gehen die unbeachteten Stimmen der Warner voraus, die das Neue ahnen und seine Unvereinbarkeit mit dem Bestehenden erkennen. Die Reformer sind oft nur die Sturmboten der Revolution. Aber die Reformer sind auch die Blutsbrüder der Rebellen und Widerstandskämpfer: Sie sind Verwandte im Mut zum Widerspruch und zur Einsamkeit.

Ein Mann sei uns hier Beispiel für jene beiden anderen, glücklicheren Juli-Gedenktage. Wir können den amerikanischen Unabhängigkeitstag nicht feiern, ohne des Engländers Thomas Paine zu gedenken, dessen Pamphlet „Common Sense“, veröffentlicht im Jahre 1774, also zwei Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung, nach den Worten George Washingtons „das Denken vieler Zeitgenossen in mächtige Bewegung versetzt hatte“. Sein Name ist Symbol geworden für die Überzeugung von Freiheit und Fortschritt in jener Epoche. Wenn die Welt festlich mit Frankreich den 14. Juli begeht, begegnet ihr wieder derselbe Thomas Paine, der im Jahre 1792 wegen seiner Streitschrift „The Rights of Man“ unter der damaligen englischen Regierung Pitt als Hochverräter verurteilt wurde - um dann nach seiner Flucht aus England in Paris erst in den Revolutionskonvent gewählt und später ins Gefängnis geworfen zu werden!

Der Mut, allein zu sein mit dem patriotischen Gewissen; der Mut, Widerstand zu bieten einer intoleranten Obrigkeit und Provokation einer selbstgefälligen Gesellschaft; dieser Mut verbindet die Männer und Frauen des Widerstandes ganz besonders mit einer der beiden Ahnenreihen des Patriotismus in der deutschen Geschichte.

Denn Patrioten gab es immer auf beiden Seiten: dort, wo die gesetzte Ordnung verteidigt und selbstlos die Pflicht erfüllt wurde, besonders deutlich im Kriege durch Soldaten und Offiziere. Aber Patrioten gab es auch immer auf der anderen Seite: dort, wo für eine neue Ordndung gekämpft wurde in der Einsamkeit des eigenen Gewissens. Die einen waren sicher keine besseren Patrioten als die anderen - wenn man beide an ihrer Absicht, und besonders, wenn man sie an Absicht und Erfolg misst.

Die deutsche Öffentlichkeit hat den Neuerern, den Reformern, so scheint mir, als Patrioten nie wirklich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die deutsche Widerstandsbewegung aber kann diese Ahnen nicht verleugnen. Zu ihren Helden zählen die York und Moltke der Widerstandsbewegung, nicht nur York von Tauroggen und Moltke von Sedan und die unzähligen Offiziere und Soldaten, die in den verheerenden Kriegen der europäischen Geschichte mutig ihr Leben geopfert haben. Zu den Ahnen des 20. Juli gehören zum Beispiel auch Georg Büchner, Wilhelm Weitling, August Bebel und ganz gewiss all die namenlosen Männer und Frauen der deutschen Geschichte, die ihr Leben im Kampf für eine bessere Gesellschaft in Gefängnissen und Zuchthäusern verbracht haben.

Braunschweig im September 1870, fünf Tage nach Sedan. Deutschland taumelt zum Sieg: das Land selbst muss größer und Frankreich soll gedemütigt sein! Der Druckereibesitzer Sievers und vier weitere Sozialdemokraten, Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses, veröffentlichen einen Aufruf gegen die Annexion Elsaß-Lothringen und für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich. Sie berufen sich auf Karl Marx, der in jenen Tagen geschrieben hatte, eine Annexion Elsaß-Lothringens werde unvermeidlich zum Kriege zwischen Deutschland einerseits und Russland und Frankreich andererseits führen. Ein kleiner, einsamer Haufen; ihre Stimmen wurden kaum gehört. Aber im Aufschäumen der öffentlichen Meinung lässt der Generalgouverneur von Falkenstein die unpopulären Sozialdemokraten verhaften und in Ketten auf die Feste Lötzen bringen. Als Lumpen und Marodeure werden sie unterwegs beschimpft. Aber ihr patriotisches Gewissen hält stand. Wir fragen: waren Moltke und die annexionsfreudigen Deutschen wirklich die besseren Patrioten?

Die deutsche Geschichte stellt diese Frage immer wieder. Es ist heute fast unmöglich, so scheint mir, den Jubel der Volkserhebung des Sommers 1914 zu begreifen. Auch viele von denen, deren kritische Stimme wir aus den zwanziger und dann aus der Emigration der dreißiger Jahre kennen, konnten sich dem schwülstigen nationalen Pathos der ersten Weltkriegsmonate nicht entziehen. In dieser Atmosphäre im Dezember 1914, nach Tannenberg und Ypern, forderte die Reichsregierung im Reichstag erneut Kriegskredite.

Und angesichts der militärischen Lage, angesichts der Stimmung in allen Krieg führenden Staaten, nicht nur in Deutschland, musste die Zustimmung zu dieser Forderung der Regierung als eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Der Reichstag bewilligte die Kredite dann auch einstimmig, - d. h. mit einer Gegenstimme, die aber als so verwerflich angesehen wurde, dass ihre Begründung aus den offiziellen Reichstagsprotokollen gestrichen wurde. Karl Liebknecht, der mutige Bekenner seines pazifistischen Gewissens, war für alle Parteien, sogar für seine eigene Sozialdemokratische Partei, ein Verräter. Wer wollte heute darüber entscheiden, was damals richtig oder falsch war? Nur eines ist wohl sicher: So eindeutig wie unsere Großväter die Dinge sahen, waren sie kaum, und Karl Liebknecht war ganz gewiss kein Verräter. Sein integrer Mut zur Einsamkeit des Gewissens mitten im Strudel nationaler Erhebung gibt ihm, so meine ich, einen sicheren Platz unter den deutschen Patrioten, unter den Ahnen der antifaschistischen Widerstandsbewegung. Für seine prahlenden Mörder gibt es nur Schande.

Und das Fieber kam wieder. Ich glaube, auch über die Erregung des 30. Januar 1933 und über die ersten Jahre des Nationalsozialismus machen wir uns - auf jeden Fall in meiner Generation - kaum mehr eine realistische Vorstellung. Später, am 20. Juli 1944 war der Nazi-Terror vielleicht sogar noch gefährlicher als in den ersten Jahren: der Putsch gegen den angeschlagenen Diktator verlangte großen Mut und den Einsatz des Lebens. Aber der aktive Widerstand erschien zu dieser Stunde vielen Deutschen auch nicht mehr widersinnig: der Krieg war offenbar verloren, das Volk litt und ohne Hitler konnten die Dinge nur besser werden.

Wer dagegen aus innerer Überzeugung, weil er die Verbrechen verabscheute und die Leiden voraussah, schon in den ersten Jahren des scheinbaren Nazi-Erfolges, also im Glanz der Olympiade und unter den Fanfaren der Sondermeldungen, aktiven Widerstand betrieb und der noch gut geölten Maschinerie in die Speichen griff, der war unvorstellbar einsam mit seinem patriotischen Gewissen - etwa so einsam wie der Druckereibesitzer Sievers nach Sedan und wie Karl Liebknecht nach Tannenberg. Und doch standen diese frühen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus vom ersten Tage an auf der richtigen Seite.

Die Namen aller, die so gedacht und so gehandelt haben, sind unauslöschlich verbunden mit den Namen der mutigen Männer des 20. Juli, die in letzter Stunde versuchten, das Vaterland vor Schande und Untergang zu bewahren.

Und zu ihnen gehören heute auch all diejenigen, die in der DDR in mehr als 20 Jahren mutig für ihre Überzeugung einstanden und gelitten haben. Die dort heute noch ausgeschlossen werden aus der Gemeinschaft, denen Verrat am Lande und an der Gesellschaft in infamer Weise angehängt wird, weil sie eine andere, demokratische Ordnung erbauen möchten.

Im Laufe der Zeiten verändern die Gestalten der Geschichte ihre Bedeutung für die nachfolgenden Generationen. Das Vermächtnis des Widerstandes, so hört man es wohl am häufigsten, sei die Verpflichtung zu verhindern, dass Ähnliches je wieder geschehen kann. Ich möchte meinen, diese Verpflichtung hätten wir ohnehin!

Nein, das Vermächtnis der deutschen Widerstandsbewegung für unsere freie Gesellschaft muss sein:

nie zu vergessen, dass Gerechtigkeit und Freiheit unsere höchsten Güter sind;

nie zu vergessen, dass wir an unserem eigenen Gewissen und nicht an der Zustimmung der Vielen gemessen werden;

nie zu vergessen, dass eine verlorene Sache die bessere Sache sein kann;

und schließlich nie zu vergessen, dass diejenigen, die anders denken als wir, auch wenn sie ganz neue politische Wege gehen wollen, keine schlechteren Patrioten sein müssen, so lange sie Gerechtigkeit und Freiheit suchen.

Denn Gerechtigkeit und Freiheit auf dieser Erde müssen auch heute noch erkämpft und täglich verteidigt werden. Im Kampf um eine bessere Gesellschaft müssen auch wir mit den Mächten ringen, die den Wandel fürchten. Wir hören und begrüßen zwar bei unseren Nachbarn die Stimmen einer neuen Zeit: Wir erkennen in den Daniels und Sinjawskijs, in den Kolakowskis und Havemanns, in den Mnackos und Djilas jenen Mut der einsamen Reformer. Und wir wissen, dass sie zu uns gehören, auch wenn vieles uns trennt. Aber die Botschaft des 20. Juli für uns heute ist, dass wir auch in unseren eigenen Reihen Toleranz gegenüber denjenigen wahren müssen, die bei uns neue Wege weisen wollen. Niemand von uns kann beanspruchen, allein zu wissen, was für die Zukunft unseres Vaterlandes das Beste ist.

So ist schließlich das Vermächtnis für uns alle, wo immer wir stehen, der Mut zu sehen was ist, zu sagen was sein soll und darauf zu tun, was unsere Pflicht ist. Dann können wir für die Toten des 20. Juli die Worte wiederholen, die Perikles für die gefallenen Athener gesprochen hat:

Ihr Andenken, dass sich mehr im Geiste als in äußeren Zeichen findet, ist ungeschrieben bei allen lebendig. Ihnen eifert nach und mit ihnen haltet die Freiheit für die Quelle des wahren Glückes und den Mut für den Ursprung der Freiheit.






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