Ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Klaus Wowereit

Ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Grußwort des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit am 20. Juli 2014 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Meine Damen und Herren,

im Namen des Senats von Berlin begrüße ich Sie herzlich zu dieser Feierstunde im Ehrenhof des Bendlerblocks.

Am 20. Juli 1952 hat der damalige Regierende Bürgermeister Ernst Reuter die Tradition des Gedenkens an diesem zentralen Ort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus begründet. Und auf Anregung aus dem Kreis der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 beschloss der Senat von Berlin 1967 die Einrichtung der heutigen Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock, die über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus informiert.

Die Art und Weise, wie wir des Widerstandes gedenken, hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Und sie wird sich auch in Zukunft wandeln. Aber, dass wir an die Frauen und Männer des 20. Juli erinnern: Dazu haben wir auch heute, 70 Jahre nach dem Attentat auf Hitler, und in Zukunft allen Grund. Gerade hier an diesem Ort, an dem die Fäden des Widerstands vom 20. Juli 1944 zusammenliefen. Und an dem die Widerstandskämpfer noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 erschossen wurden.

Ja, das Attentat ist gescheitert. Und auch heute fragen wir uns: Wie viel Leid wäre der Welt erspart geblieben, wenn der Anschlag geglückt wäre. Denken wir an die Juden in den Konzentrationslagern, die am 20. Juli 1944 noch lebten. Oder an die Menschen in Polen und der Sowjetunion, in Belgien, in Frankreich und in vielen anderen Ländern, die so sehr unter der Aggression Hitler-Deutschlands gelitten haben. Aber auch an die Soldaten der Alliierten Streitkräfte, die ihr Leben im Kampf um die Befreiung Europas vom Terror der Nationalsozialisten ließen.

Und doch: Obwohl das Attentat vom 20. Juli 1944 scheiterte, bleibt der Satz von Ernst Reuter gültig: „Ihr Werk ist nicht vergeblich gewesen.“ Indem sich die mutigen Frauen und Männer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegen Hitler erhoben, zeigten sie der Welt: Es gibt auch noch ein anderes, ein besseres Deutschland. Es gibt in diesem Land noch Frauen und Männer, die der Stimme ihres Gewissens folgen statt Führerbefehlen zu gehorchen. Menschen, die sich mitten in einem verbrecherischen Angriffskrieg und während des Völkermordes an den Juden Europas an elementaren Maßstäben der Humanität orientieren.

Damit legten sie das ethische Fundament eines Gemeinwesens, für das die Würde des Menschen zum Maßstab allen staatlichen Handelns ist. Die aufrechte Haltung, der Mut und die Bereitschaft zum Äußersten – dem Opfern des eigenen Lebens: das ist es, was uns bis heute an den Frauen und Männern des Widerstandes so fasziniert. Damit, einem brutalen Unrechtsregime zu widerstehen, haben sie bleibende Maßstäbe gesetzt - unabhängig von ihren persönlichen Motiven.

Die persönlichen Beweggründe waren äußerst vielfältig. Unter denen, die Widerstand leisteten, waren Einzeltäter wie Georg Elser oder Gruppen wie die Weiße Rose, der Kreisauer Kreis und die Rote Kapelle. Widerstand leisteten Christen und Juden, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten, Liberale und Konservative, Studierende und Angehörige der Wehrmacht.

Es gehört zur guten Tradition dieser Feierstunde, dass wir an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 erinnern und dabei auch an all jene denken, denen lange Zeit zu Unrecht die Anerkennung als Teil des Widerstands versagt blieb. Und an jene, die – wie Willy Brandt 1955 in Plötzensee sagte, „lange vor der Bewegung, zu deren Höhepunkt der 20. Juli wurde“, Widerstand leisteten. Denn Hunderttausende, so der damalige Präsident des Abgeordnetenhauses und spätere Bundeskanzler, „Hunderttausende hatten bereits die Folterkeller und Konzentrationslager kennen gelernt, Zehntausende waren auf der Strecke geblieben.“

Der Widerstand ist gescheitert, aber er war nicht umsonst. Die Frauen und Männer des Widerstands hinterlassen uns ein Erbe, das auch heute, 70 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, noch aktuell ist: die Absage an Tyrannei und Gewaltherrschaft und das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Und es ist ein Erbe, das uns mit anderen verbindet, ganz besonders mit unseren Nachbarn in Europa, die so sehr unter der deutschen Aggression gelitten haben. Vor zwei Jahren – am 20. Juli 2012 – sagte der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, zum Gedenken an den deutschen Widerstand und zur Trauer um die Frauen und Männer des 20. Juli, die noch am Tag des missglückten Attentats auf dem Hof des Bendlerblocks erschossen wurden: „Ich verstehe und teile Ihre Trauer und hoffe, dass auch Sie meine, unsere Trauer teilen, insbesondere um die Opfer des Warschauer Aufstandes. Wenn das heute möglich ist, dann sehe ich darin ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft.“

Widerstand gegen das NS-Unrecht gab es in ganz Europa. Auch an die Frauen und Männer, die ihr Leben außerhalb Deutschlands im Kampf gegen das Hitler-Regime geopfert haben, denken wir heute. Gemeinsam mit den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern in Deutschland haben sie ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Nach dem Leid zweier schrecklicher Kriege war es auch eine Absage an den völkischen Nationalismus und ein Zeichen für ein neues Miteinander in Europa.

Gerade in einem Jahr, in dem wir an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnern, sollten wir an diese europäische und internationale Dimension des Widerstandes denken.

Die Erinnerung an den 20. Juli macht uns aufs Neue den tiefgreifenden Wandel vergangener Jahrzehnte in Europa und der Welt bewusst. Und sie macht uns bewusst, dass es unsere historische Verpflichtung ist, unser Gemeinwesen so zu gestalten, dass es offen ist für Menschen aus aller Welt. Dass es unseren Nachbarn keine Ängste bereitet, sondern als tolerantes und weltoffenes Land eine friedliche Nachbarschaft mit ihnen pflegt.

Der Widerstand gegen die NS-Herrschaft ist nicht vergeblich gewesen. Er hat uns ein wertvolles Erbe und eine bleibende Verpflichtung hinterlassen.

Wir verneigen uns vor den mutigen Frauen und Männern des Widerstandes.







Weitere Reden

20.07.2014
Dr. h.c. Joachim Gauck
Dr. h.c. Joachim Gauck