Ein Überleben in Würde zu ermöglichen

INCLUDEPICTURE "file:///G:/Stiepani/Bilder/LOGO_GDW.jpg" \* MERGEFORMATINET Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ein Überleben in Würde zu ermöglichen

Christine Bergmann

Ansprache der Berliner Bürgermeisterin Dr. Christine Bergmann am 20. Juli 1992 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße,

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir sind hier an diesem Ort zusammengekommen, um des Widerstandes gegen nationalsozialistisches Unrecht zu gedenken. Mutige Männer und Frauen haben ihr Leben geopfert, um anderen ein Überleben in Würde zu ermöglichen. Wir fühlen uns in dieser Stunde besonders verbunden mit ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Und ich freue mich darüber, dass einige von Ihnen auch heute unter uns sein können.

Unser Gedenken richtet sich auf den Tag, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal als den einzigen Tag bezeichnet hat, „an dem Vorhandensein und Aktion eines Widerstandes unter Hitler offen sichtbar wurde“. Es ist der Widerstand aus dem Inneren der Wehrmacht gewesen, dem zunächst unsere Erinnerung gilt. Die Spannung zwischen eigenem Loyalitätsanspruch auf der einen und dem Wissen um die verheerenden Folgen der totalitären Machtpolitik auf der anderen Seite, muss für die Männer des 20. Juli fast unerträglich gewesen sein. Joachim Fest hat die Geschichte dieses deutschen Widerstandes deshalb als eine „Geschichte der Skrupel, Widersprüche und Konfusionen“ bezeichnet. Dass die Männer um Graf Stauffenberg sich gegen die militärische Unterwerfung unter ein unmenschliches Prinzip und für die Vermeidung von mehr Leid und unschuldigen Opfern entschieden haben, können wir ihnen nicht hoch genug anrechnen.

Das Attentat auf Hitler fußte auf dem Entschluss und der Tat weniger Einzelner. Wir wollen uns heute aber auch all derer besinnen, die weniger sichtbar, aber nicht weniger mutig, sich der „Gleichschaltung“ verweigerten und unter Einsatz ihres Lebens gegen die menschenverachtende Diktatur aufbegehrten: Von den Kommunisten und Sozialdemokraten über Angehörige kirchlicher und religiöser Gruppen bis hin zu informellen Zirkeln wie dem Kreisauer Kreis, der die Idee eines friedlichen Europas gegen die Nazi-Diktatur zu verteidigen suchte.

„Wir werden gehängt, weil wir zusammen gedacht haben“, schrieb der Initiator des Kreisauer Kreises, Graf von Moltke, in einem seiner letzten Briefe aus der Haft. Der Gedanke wurde von den Nationalsozialisten genauso bestraft wie die Tat, der kritische Geist genauso verfolgt wie die politische Aktion. Wie viele Menschen in dieser Schattenzeit deutscher Geschichte an ihren Gedanken und an ihrem Eintreten für die Menschenwürde zu Grunde gegangen sind, werden wir abschließend nie beantworten können. Gleichwohl darf die Spurensuche nicht aufhören.

Es geht nicht darum, den Widerstand zu mythologisieren - aber genauso wenig dürfen wir zulassen, dass diejenigen, die ihr Leben im Kampf gegen Hitler riskiert haben, dem Vergessen preisgegeben werden - auch wenn sie eine Minderheit waren.

Meine Damen und Herren, eine Veranstaltung zum Gedenken an den Widerstand gegen nationalsozialistisches Unrecht darf nicht beim bloßen Rückblick verharren. Zivilcourage und Mut, der Stimme des eigenen Gewissens zu folgen - diese Tugenden zeichneten nicht nur die Widerstandskämpfer aus; sie sind das Urgestein eines jeden, auch unseres demokratischen Gemeinwesens.

Wir alle sind gefordert, darüber nachzudenken, was aus diesem Wissen um das außergewöhnliche Engagement der Männer des 20. Juli für uns folgt. Wir sind gefragt, heute, unter ganz anderen Bedingungen als vor fünfzig Jahren, im besten Sinne republikanische Tugenden wie Mut und Zivilcourage unter Beweis zu stellen. Das jedenfalls ist eine Lektion aus der Geschichte, die mir näher ist als die ideologische Auseinandersetzung, die über die letzten vierzig Jahre hinweg im geteilten Deutschland um das legitime Erbe des Antifaschismus stattgefunden hat. Und es ist eine Lektion, der es nicht um Besitzstandswahrung, sondern um Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft geht.

Zum zweiten Mal erst versammeln wir uns hier nach der Herstellung der deutschen Einheit. Für viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger stellt sich heute auf ganz andere Art und Weise die Frage, die Gustav Heinemann in der Erinnerung an das Dritte Reich belastete: „Warum“, so fragte er sich, „habe ich nicht mehr widerstanden.“ Ohne Parallelen überstrapazieren zu wollen: Auch in der ehemaligen DDR hing das Überleben eines totalitären Systems vom stillschweigenden Dulden der meisten Menschen ab. Am Ende aber siegte der kollektive Mut, das Schweigen zu brechen und einen humanen Staat für die Bürgerinnen und Bürger einzufordern.

Die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer im Nationalsozialismus haben uns ein Erbe hinterlassen, das hierzu ermutigt und herausfordert. An uns selbst liegt es, dieser von ihnen geprägten Traditionslinie deutscher Geschichte zu folgen - einer Tradition, die sich gegen Unterdrückung und Menschenverachtung stellt. Die Erinnerung an Menschen, die ihr Leben geopfert haben, um anderen ein Leben in Würde zu ermöglichen, wird uns hierbei begleiten und Vorbild sein.

Ich danke Ihnen.






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20.07.1992
Dr. Wolfgang Schäuble