Eine Grundlage für die moralische Existenz heute

Klaus Schütz

Eine Grundlage für die moralische Existenz heute

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Schütz am 19. Juli 1974 im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes, Berlin

Verehrte Anwesende,

wir sind hier in Berlin zusammengekommen, um an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 zu erinnern. Herr Bundespräsident, wir danken Ihnen, dass Sie bei uns sind. Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, es ist bedeutsam, dass Sie uns heute diesen Saal im alten Deutschen Reichstag überlassen haben. Herr Präsident des Bundesrates, Sie sind unserer Einladung gefolgt und Sie werden gleich zu uns sprechen. Herr Bundesinnenminister, es ist wichtig, dass Sie hier in dieser Stunde die Bundesregierung vertreten.

Unter uns sind Beteiligte von damals, die Zeugen also des Attentats auf Hitler und damit dieses Versuchs, die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus zu beenden. Unter uns sind Widerstandskämpfer aus dem Ausland, das Gegner Deutschlands war, aber der Verbündete in der Sache gegen die Diktatur. Unter uns sind zahlreiche Emigranten, besonders viele aus Israel und den USA und aus Kanada, denen diese und andere Staaten zur Heimat wurden, als Deutschland, die natürliche Heimat, dies nicht mehr war.

Ich begrüße Sie alle zu dieser Stunde der Erinnerung und des Nachdenkens. Wir ehren die Männer, die damals versuchten, den letzten Rest eines Ansehens für unser Land zu retten und einen Neubeginn zu ermöglichen. Wir denken an ihre Frauen und ihre Kinder, und an ihre Eltern und ihre Geschwister, die verfolgt und verfemt wurden.

Wir Deutschen haben nicht viele Daten in unserer Geschichte, an denen wir uns über uns selber vergewissern können. Der 20. Juli ist eines. Was er für uns, für unser Land bedeutet, wird klar, wenn wir uns vor Augen halten, was geworden wäre, wenn es das nicht gegeben hätte, was es an diesem Tag gab. Es stünde schlechter um unser Land. Dies nicht im Sinne des Aufschießens zum Wohlstandsstaat, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben. Es stünde schlechter um unser Land, weil es eines der wenigen moralischen Fundamente nach der Barbarei, auf die es aufbauen konnte und von denen es euch heute noch lebt, nicht gehabt hätte und nicht haben würde.

Ich sage es so eindeutig wie nur irgend möglich: Dem deutschen Volk fehlte ohne den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine Grundlage für seine moralische Existenz heute, ich sage – dass wir uns klar verstehen – nicht, die Menschen des 20. Juli allein hätten uns die Möglichkeit verschafft, wieder von der Welt als ein Volk unter Völkern aufgenommen zu werden. Es gab in unserem Land noch mehr Zeichen des besseren Deutschlands.

Ich denke an die politisch Verfolgten, an die Hunderttausende in den Konzentrationslagern, an die Christen und an die Nichtchristen, an die Konservativen und die Kommunisten, an die Sozialdemokraten und die Liberalen. Und ich denke an die deutschen Juden, an alle Opfer in den Vernichtungslagern. Ich denke an diejenigen, die besonders in unserer Stadt Verfolgte versteckten und ihnen so das Leben retteten. Ich denke an die Emigranten, die, verjagt, dennoch so viel für ihr Land taten.

Dies alles gab es auch ohne jenen Tag im Juli. Und es hat uns geholfen, allmählich wieder ein Gesicht vor den anderen zu bekommen. Aber es wäre ohne den 20. Juli um vieles, es wäre unendlich schwieriger gewesen.

Denn die Welt hat damals, im schlimmsten Stadium des Krieges und mitten im Massenmord, erfahren, dass es in unserem Lande noch etwas anderes gibt als Barbarei. Der Vernunft nach musste jeder wissen, dass dieses Volk mit seiner Geschichte und Kultur nicht total, nicht mit allen, die ihm angehörten, der Anbetung eines millionenfachen Mörders verfallen sein konnte.

Aber diese Überlegung war vor der entsetzlichen Wirklichkeit damals vergleichsweise abstrakt. Sie konnte kein Gegenbild zur Allgewalt des Nationalsozialismus sein. Eben das aber ist der 20. Juli 1944 geworden. Er steht im Zentrum der Gegenbewegungen zum Nationalsozialismus innerhalb Deutschlands. Er ist dies geworden, weil er den Nationalsozialismus im Zentrum angriff, weil er die Inkarnation des deutschen Heilswahns beseitigen wollte. Er versammelte, wenn man so sagen darf, um sich die Personen des Widerstandes, auch die, die schon seit elf Jahren und länger gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten.

Hier wurden für die Deutschen und die Welt Entschlossenheit und Handeln sichtbar, die niemand mehr übersehen oder verdrängen konnte wie die erschütternden Überzeugungsopfer bis dahin. Seit der Rede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz im Deutschen Reichstag ist Adolf Hitler in Deutschland nicht so aufrüttelnd und – das ist wichtig – nicht so sichtbar ein Nein entgegengestellt worden wie am 20. Juli 1944.

Es war mehr noch. Inmitten des braunen Wahns, der alle schlechten deutschen Traditionen in sich aufgenommen und in allen guten deutschen Traditionen seine Feinde sah, ist der 20. Juli 1944 ein Zeichen der Moralität.

Jener Tag beweist, dass Politik und Moralität als gesellschaftsformende Kategorien zusammengehören. Der Versuch, Adolf Hitler durch ein Attentat zu stürzen, geschah zuallererst aus moralischen Gründen. Und diese moralischen Gründe waren in dieser Situation zuallererst politisch. Es konnte nichts Politischeres geschehen, als moralisch zu handeln. Die Moralität war der Sprengsatz gegen das verruchte System, nur sie konnte es sein. Wir brauchen heute in unserem Staat nicht fortwährend vom Verhältnis von Moral und Politik zu sprechen, weil wir fortwährend davon sprechen können. Wir wurden dazu befähigt, als wir vom Nationalsozialismus befreit wurden, und wir sind es durch das demokratische Prinzip.

Dieses Prinzip gestattet es, Fragen zu stellen und zu erörtern und dort, wo es an Moral mangelt oder wo sie unerkennbar ist, Protest zu erheben und auf Antwort und Änderung zu dringen. Das demokratische Prinzip enthält jene sittlichen Forderungen und verschafft ihnen Geltung, um die es den Männern und Frauen des 20. Juli ging und für die sie ihr Leben einsetzten.

Die Konsequenz für uns ist, aufs Entschiedenste darauf zu achten, dass diese Prinzipien erhalten bleiben. Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin in keinem Idealzustand, und an unserer Gesellschaft und an unseren Einrichtungen kann Tag um Tag Kritik geübt werden. Aber dass man Kritik üben kann, dass jeder das Recht darauf hat und auf ihre Wirksamkeit setzen kann, macht unsere Ordnung menschlich.

Aber die Konsequenz für uns ist auch, dass wir im freien Teil unseres Landes, in der Bundesrepublik Deutschland – immer glaubwürdig bleiben, wenn es darum geht, bei uns auf rechtsstaatliche Weise mit dem fertig zu werden, was uns der Nationalsozialismus hier hinterlassen hat – in diesem unserem Lande selbst.

Dies ist sicherlich nicht der Augenblick für Kommentare zu aktuellen Fragen. Aber ich meine, wir dürfen auch heute nicht unbeteiligt sein, wenn bei uns über Schuld in Euthanasie-Prozessen entschieden wird und wenn ein Vertrag über Strafverfolgungen von Verbrechen im damals besetzten Frankreich endlich ratifiziert werden muss.

Wir dürfen an einem Erinnerungstag wie diesem auch nicht schweigen, wenn es um Menschenrechte geht hier in Deutschland und sonst in der Welt. Und wir dürfen auch nicht unbeteiligt zusehen, wenn es um den Frieden geht – überall, wo er bedroht ist und nicht zuletzt, wenn es um den Frieden geht für den Staat Israel.

Wir in der Bundesrepublik Deutschland sind zu einem Ansehen gelangt, das sich nicht mehr nur auf die Potenz von Industrie und Wirtschaft stützt und seinen Glanz aus dem Wohlstand ableitet. Mit dem Namen Deutschland verbindet heute kaum jemand mehr in der Welt das Wort Gewalt oder gar das Wort Krieg.

Unser Land gilt als ein verlässlicher, sogar drängender Faktor für den Frieden. Dass dies 30 Jahre nach Hitler Wirklichkeit geworden ist, ist die eigentliche, die entscheidende Leistung nach dem Kriege.

Wir haben das in einem sehr wesentlichen Sinne den Menschen vom 20. Juli 1944 zu verdanken. Es sollte als ein Zeichen des geschichtlichen Urteils und des politischen Willens der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden, dass der Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin, verehrte Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, mit dieser Gedenkstunde und nicht mit einer anderen Veranstaltung zum ersten Mal wieder benutzt wird.

Es möge dies auch verstanden werden als Dank an die Frauen und die Männer des 20. Juli 1944, und es muss verstanden sein als das Gedenken an den gemeinsamen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror hier in Deutschland und wo immer sonst in der Welt.






Weitere Reden

19.07.1974
Dr. Hans Filbinger