Endspurt

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Inge Deutschkron

Endspurt

Festvortrag von Inge Deutschkron am 19. Juli 2007 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Man schrieb den 27. März 1945. Die Armeen der westlichen Alliierten und der Sowjetunion stießen unaufhaltsam innerhalb Deutschlands in Richtung Berlin vor. Ihr Sieg über das nationalsozialistische Deutschland war nur noch eine Frage von wenigen Wochen. An jenem 27. März gelang es der Gestapo zum letzten Mal, Juden in Verstecken aufzustöbern und sie - 42 an der Zahl - aus Berlin ins Lager Theresienstadt zu befördern.

Zwei Jahre zuvor hatte der Reichsminister für Propaganda, Joseph Goebbels, Berlin für judenrein erklärt, und dies als einen großen Sieg nationalsozialistischer Politik gefeiert. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass es Juden gegeben habe, „die uns durch die Hände gewischt sind. Aber wir werden ihrer noch habhaft werden“. Und tatsächlich - in letzter Minute konnten die Nazis noch einige dieser Menschen dem von ihnen für sie bestimmten Schicksal zuführen.

Der Wendepunkt im von den Nazis angezettelten Krieg war schon Anfang des Jahres 1943 überschritten. Die deutsche Armee hatte in einer der längsten und grausamsten Schlachten um die Stadt Stalingrad eine ihrer folgenschwersten Niederlagen erlitten. Die letzten Soldaten der 6. Armee hatten sich ergeben und waren mit Generalfeldmarschall Paulus den Weg in die sowjetische Gefangenschaft angetreten. Von da an trieben sowjetische Truppen deutsche Soldaten aus ihrem Land dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Als Frontbegradigung stellte das Oberkommando der Wehrmacht den um ihre Männer und Söhne bangenden Frauen diese Operation dar.

Zur gleichen Zeit verstärkten die nationalsozialistischen Machthaber die Zahl der Deportationen von Berliner Juden in Richtung Auschwitz. Am 27. Februar 1943 holten sie die noch in der Stadt lebenden Juden ab. Sie holten sie von den Werkbänken, an denen sie zur Herstellung von Munition und Materialien für Hitlers Krieg gezwungen worden waren. Sie holten sie aber auch vor aller Augen der Hausbewohner aus ihren Wohnungen oder griffen sie auf der Straße auf. Für den Transport von über 7.000 Menschen in die Konzentrationslager hatten sie erstaunlicherweise Waggons zur Verfügung, die ihnen zu jener Zeit für den Nachschub ihrer Soldaten an die Front häufig fehlten. Dieser 27. Februar 1943 ist als Fabrikaktion in den beschämendsten Teil zeitgenössischer deutscher Geschichte eingegangen.

An jenem 27. März 1943 endete das Leben und Wirken jüdischer Menschen in dieser Stadt. Von den einst 160.000 Einwohnern jüdischen Glaubens hielten sich nur noch jene in Berlin und Umgebung auf, denen es gelungen war, sich zu verstecken. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Schützungen zufolge handelte es sich um 7.000 bis 10.000 Menschen, die den Versuch unternahmen, den Nazi-Häschern zu entkommen. Wenige Tage nach der Fabrikaktion, in der Nacht vom 1. zum 2. März 1943, flogen englische Bomberverbände einen der ersten schweren Luftangriffe auf Berlin Er konzentrierte sich, wohl rein zufällig, auf einen Bezirk, in dem viele Juden ihre Wohnungen hatten. „Die Juden rächen sich“, so flüsterten Berliner einander zu.

„Sie ermorden sie alle.“ Die das unter Tränen sagte, war Emma Gumz. Zusammen mit ihrem Mann betrieb sie eine Wäscherei mit Heißmangel im Westen Berlins (Knesebeckstr. 17). Der Nachbarsjunge sei auf Heimaturlaub von der Ostfront. Dort habe er gesehen, was sie mit den Juden machen, berichtete die Frau. Der junge Soldat hätte unterschreiben müssen, dass er nicht darüber spricht, was er gesehen habe. „Aber wer kann denn das?“ fügte sie hinzu. Und dann kam es wie ein Befehl aus ihrem Mund: „Frau Deutschkron, Sie nehmen den Stern ab und kommen mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie!“ Als wir tatsächlich nach längerem Nachdenken und vielen Gesprächen am 15. Januar 1943 bei der Familie Gumz untertauchten, leuchteten die Augen dieser Frau, und sie sagte sehr bewegt: „Ich bin ja so stolz, dass ich Sie dazu überreden konnte.“

Sie kamen aus Lehrerkreisen, waren Arbeiter, Professoren, Gewerkschafter, Politiker, Kleinfabrikanten, die uns wie Frau Gumz ihre Hilfe anboten. Sie hatten von Anfang an ihre Augen nicht vor dem Unrecht verschlossen, dass Juden, politischen Gegnern, Gewerkschaftern, Homosexuellen, Zigeunern von den 1933 an die Macht gelangen Nationalsozialisten angetan wurde. Sie waren Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft mit stark ausgeprägtem Gefühl für Recht und Unrecht. Und so dachten sie auch nicht darüber nach, was es in diesem Staat, in dem von nun an politische Verbrecher das Sagen hatten, für Folgen für sie selber haben würde, könnte man sie als Beschützer von Juden enttarnen. Sie ertrugen es einfach nicht, untätig zusehen zu müssen, wie man Menschen ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung wegen verfolgte. Und schließlich ihrer Ermordung zutrieb.

Meiner Mutter war der Entschluss, uns der Deportation zu entziehen, nicht leicht gefallen. Im November 1942 waren die letzten Mitglieder unserer Familie abgewandert, wie Deportationen im Amtsdeutsch umschrieben wurden. War es rechtens, sie mit ihrem Schicksal allein zu lassen, das auch für uns bestimmt war? Meine Mutter suchte eine Antwort auf diese Frage. Sie fand sie nicht, Schuldgefühle blieben zurück. Sie verließen uns nie. Ein Leben lang.

Dazu plagte sie die Sorge, wie lange dieser ihr unwürdig erscheinende Zustand ohne eigenes Dach über dem Kopf und mit allen Kleinigkeiten und Lebensnotwendigkeiten auf die Freunde angewiesen, dauern würde. Drei Monate?, wie ein Freund nach jedem den Nazis abträglichen Ereignis, wie der Zusammenbruch der deutschen Front in Nordafrika oder der Sturz Mussolinis immer wieder voraussagte? Überzeugen konnte er mit dieser Meinung niemanden. Doch seine Freunde und auch wir vernahmen seine Prophezeiungen nur allzu gern. Ein bisschen Hoffnung blieb immer zurück.

Der englische Sender BBC tat ein Übriges. Er versorgte jene, die es wissen wollten, mit Nachrichten in deutscher Sprache über den Stand des Krieges aus englischer Sicht. Es war bei Todesstrafe verboten, ausländische Sender abzuhören. Doch diese Sendungen wurden bald zu Ritualen des Tagesablaufs aller unserer Freunde, die man nicht versäumen durfte. Mit einer Decke über Kopf und Radio krochen sie förmlich in den Apparat hinein. Oft verzweifelten sie und fluchten, wenn der Sender gestört wurde, von denen, die nicht wollten, dass das deutsche Volk die Wahrheit über den Krieg erfahren sollte. Manch hitzige Debatte folgte diesen Nachrichten aus der freien Welt, die jeder auf seine Art interpretiert sehen wollte. Aber jede Auslegung hatte das baldige Ende des Naziregimes im Blick.

Nach der Entscheidung, das Verstecken zu wagen, waren wir damit beschäftigt, unsere Habe soweit zu reduzieren, dass sie für uns keine Last und für unsere Freunde keine Belästigung sein würde. Was wir nicht mitnehmen konnten, machte ich durch Risse und Löcher unbrauchbar. Ich hatte eine böse Freude an dieser Zerstörung. Wir vertrauten nun voll und ganz auf unsere Freunde und waren unendlich dankbar für ihren Enthusiasmus, uns vor den Nazi-Mördern bewahren zu wollen. Beunruhigende Gedanken verdrängten wir schnell. Doch einer wollte nicht weichen: Wir übernahmen kein Risiko. Unsere Bestimmung hieß Auschwitz. Doch was würde aus ihnen werden, die sich auf so gefährliche Weise mit uns verbunden hatten?

„Aber Ella, wir werden Euch doch nicht im Stich lassen“, empört reagierte Grete Sommer, als wir zögernd und zaudernd vor ihrer Tür standen. Pakete mit unseren wenigen Habseligkeiten in den Händen. Wir hatten unser erstes Versteck Hals über Kopf verlassen müssen. Die Nachbarin hatte zwei Frauen bemerkt, die im Hause Gumz aus- und eingingen. Es seien Verwandte aus Pommern, hatte Frau Gumz der neugierigen Frau erklärt, die, so schien es, zufrieden abzog. Aber war sie es wirklich? Würde sie eventuelle Zweifel an unserer Identität dem Blockwart melden? Möglicherweise war ihr Ehemann Mitglied der NSDAP und würde die Zweifel prüfen lassen. „Wir müssen aufgeben“, meine Mutter war kreidebleich, und sie nahm die tröstenden Worte der Frau Gumz, dass sie uns trotzdem weiterhelfen würde, mit Lebensmitteln zum Beispiel, gar nicht mehr auf.

Die erste Nacht in Gretes 1½-Zimmerwohnung (Storkzeile 8) schliefen wir auf dem Fußboden des Wohnzimmers. Die Lehnen der Sessel dienten als Kopfpolster. „Ein Provisorium“, tröstete Grete. „Keine Sorge, wir bringen Euch schon unter.“ Schließlich schloss sie uns jeden Abend in ihrem Papiergeschäft (Westfälische Str. 64) ein. Auf Auflegern von Couches bauten wir hinter dem Tresen unsere Schlafstätte auf. Wir löschten eiligst das Licht und tappten im Dunkeln umher, damit nicht auffiel, dass jemand zu so ungewöhnlicher Stunde im Laden war. Wir wagten uns kaum zu mucksen, registrierten jedes Geräusch und wussten, dass auch dieser Zustand nicht lange währen konnte.

Er endete schon am folgenden Wochenende. Im Laden konnten wir natürlich nicht bleiben. Es würde auffallen, wenn wir am Sonntag wie an jedem Wochentag als erste Kunden den Laden verließen. Das Bootshaus der beiden in Schildhorn bot sich an. Sie hatten es 1933 erworben, um dort mit ihren politischen Freunden zusammenzutreffen und mit ihnen in ihrem Ruderboot auf der Havel zu fahren, ohne dass ihre politischen Gespräche belauscht werden konnten. Es war Februar, kalt und stürmisch. Das prasselnde Feuer wärmte die zwei kleinen Räume des Bootshauses. Doch auch die so entstehende Gemütlichkeit und die von Grete erzwungene Heiterkeit vertrieben die Sorgen nicht, wie es mit uns weitergehen sollte.

Für uns hatte sich vieles verändert. Wir waren auf der Flucht, waren Obdachlose, waren Menschen ohne Recht auf Leben. Seltsam war uns zumute. Äußerlich glichen wir nun den anderen. Solange ich den Stern getragen hatte, war ich angeguckt worden, war im Blickfang der Passanten gewesen. Einige wenige hatten mir durch freundliches Augenzwinkern ihre Sympathie zu erkennen gegeben. Andere wussten offenbar um unsere Not und wagten, mir im Gewühl überfüllter Verkehrsmittel Lebensmittelmarken oder Obst in die Manteltasche zu stecken. Jene, die ihren Hass auf Juden ausdrücken wollten, schnitten uns böse Grimassen. Die Mehrheit jedoch blickte mit ausdruckslosen Augen auf uns. Sie guckten quasi durch uns hindurch.

Ich gebe es ehrlich zu: Ohne den Stern am Mantel fühlte ich mich erleichtert. Ich war mit dieses Sterns immer bewusst gewesen. Mit meinem Gesichtsausdruck, einer Maske gleich, hatte ich den Vorübergehenden sagen wollen: „Seht her, so sieht sie aus, eine Jüdin!“ Und nun ging ich die ersten Tage ohne den Stern keineswegs ungezwungen durch die Menge. Im Gegenteil - nun guckte ich sie an, prüfend, ob sie mich wohl kannten, mich als entflohene Jüdin erkannten. Doch die Menschen gingen an mir vorüber, einfach so. Ich sah ihre Gesichter. Sie sahen besorgt aus, hart und grau. Ihr Blick war nach innen gerichtet, nicht auf mich. Der Krieg im fünften Jahr hatte niemanden unbeschädigt gelassen.

Noch vor kurzem waren sicherlich auch Menschen, die den „Stern“ trugen, durch diese Straßen gehastet, hatten nicht nach links, nicht nach rechts geguckt, sich nicht umgesehen, waren in der einen Stunde, die ihnen für ihre Einkäufe gewährt worden war, von Laden zu Laden gehetzt. Schnell weg von der Straße, die nur Unheil versprach. Wo waren sie nun? Nein, ich wollte es nicht wissen. Und jene, die an mir vorübergingen, gewiss auch nicht. Sie trugen an ihrem eigenen Geschick. Und ich - ich wurde ihn nicht los, diesen Stern.

„Du bist von nun an Gertrud Dereszewski.“ Der blinde Otto Weidt hielt mir ein Arbeitsbuch hin. Er war der Besitzer einer Blindenwerkstatt, in der er dreißig jüdische Blinde beschäftigte (Rosenthaler Str. 39). Er hasste die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Er stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Er sorgte für zusätzliche Lebensmittel - die Rationen für Juden wurden immer mehr gekürzt. Er reklamierte sie bei der Gestapo, als es um ihre Deportation ging. Als die Gestapo eines Tages unerwartet alle dreißig Blinden aus der Werkstatt zur Deportation abholte, überzeugte Otto Weidt die Gestapo, dass er ohne diese Arbeiter die von der Wehrmacht bestellten Waren nicht liefern könnte. Er holte sie persönlich aus dem Sammellager wieder ab.

Die Gertrud Dereszewski, deren Arbeitsbuch ich nun erhielt, sei nicht gewillt wie andere deutsche Frauen bis zum Alter von 55 Jahren zur Arbeit in einer Munitionsfabrik dienstverpflichtet, zu werden, erklärte mir Otto Weidt. Deshalb verkaufte sie ihr Arbeitsbuch. Ihre Daten glichen den meinen. So wurde ich offiziell als Arbeiterin der Blindenwerkstatt bei den Behörden gemeldet. Wir alle verehrten Otto Weidt und nannten ihn Papa. Er hatte für uns diskriminierte, verachtete und verfolgte Menschen in seiner Werkstatt eine Oase der Menschlichkeit geschaffen.

Ich war nun dank des Arbeitsbuches der Dereszewski die einzige Legale unter sieben Mitarbeitern der Blindenwerkstatt, die sich der Deportation entziehen konnten. In Vorahnung nazistischer Politik, alle Juden aus Berlin zu deportieren, hatte Weidt Verstecke für einige und ihre Familien gefunden. Den letzten fensterlosen Raum hatte er durch einen Schrank von der Werkstatt abtrennen lassen. Dort brachte er vier Personen unter. Ein gemieteter Laden, als Lagerraum für seine Werkstatt getarnt, diente drei Personen. Eine blinde Heimarbeiterin und ihre sie betreuende Schwester nahm eine Puffmutter auf. In einem der Keller des Hauses Rosenthaler Straße 39 hauste einige Zeit ein Blinder mit seiner Frau.

Am 27. Februar 1943 wurde das Unfassbare Wirklichkeit. Sie holten alle noch legal lebenden Juden ab - wo immer sie sie fanden. Danach war in der Blindenwerkstatt gähnende Leere. Die Blinden und die sehenden Zuarbeiter waren wie alle anderen Berliner Juden Opfer der Fabrikaktion geworden. Drei nichtjüdische Bürstenmacher und zwei durch ihre nichtjüdischen Frauen vor Verfolgungen geschützte Blinde saßen wie gewohnt an ihren Werkbänken. Zu ihnen gesellten sich die Versteckten, die einige Aufgaben der deportierten Kollegen zu übernehmen suchten. Die Werkstatt war schließlich Otto Weidts Existenzgrundlage und ihre einzige Überlebenschance. Doch die Angst, entdeckt zu werden, verließ sie nie. Die Gestapo suche Keller und Verließe ab, inspiziere Abwässerkanäle. Das waren für sie nicht nur Gerüchte.

Dann waren da noch die Bombenangriffe - bei Tag und bei Nacht, die ganze Stadtteile in Steinwüsten verwandelten. Versteckte Juden konnten in den Häusern, in denen sie Zuflucht gefunden hatten, nicht die Schutzräume aufsuchen. Luftschutzwarte kontrollierten die Ausweise an Hand von Einwohnerlisten mit der Akribie eines deutschen Beamten. So blieben Illegale meist in ihren Verstecken. Traf eine Bombe das Haus, und man fand sie in einer der Wohnungen, war nicht nur ihr Schicksal besiegelt.

Im Laufe des Jahres 1943 mehrten sich Ereignisse, die das Ende des Krieges und der Naziherrschaft nicht mehr als Utopie erscheinen ließen. Auf einer Konferenz in Casablanca beschlossen der amerikanische Präsident und der britische Premierminister die „bedingungslose Kapitulation des deutschen Reiches“. Ein Beweis, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Gleichzeitig befahlen sie die ersten Landungen alliierter Truppen auf Sizilien, später auch in Süditalien, die erfolgreich verliefen. Sondermeldungen des deutschen Oberkommandos, man habe sowjetische Truppen entscheidend zurückgeschlagen, hielten dagegen. Wir wussten nicht, woran wir glauben sollten. Die Furcht, Nazi-Deutschland könne doch noch als Sieger aus diesem Zweiten Weltkrieg hervorgehen, ließ uns nicht zur Ruhe kommen. „Keine Macht der Welt, kein Teufel aus der tiefsten Hölle kann uns den Sieg entreißen!“ Mit diesen Worten beruhigte Joseph Goebbels jene Menschen seines Volkes, die zu zweifeln begonnen hatten.

Otto Weidt zeigte sich nun seltener in der Werkstatt. Er konnte es nicht verwinden, dass er seine dreißig Blinden nicht vor der Deportation hatte bewahren können. Mit Mühe hatte er einige nichtjüdische Blinde gefunden, die die Plätze der Deportierten einnehmen sollten. Ihre Zahl reichte nicht aus, um die Produktion auf der gewohnten Höhe zu halten. Ihm drohte der Verlust von Wehrmachtsaufträgen. Und ohne Produktion konnte er keine Lebensmittel auftreiben, die er für seine Versteckten brauchte. Er war nicht mehr der strahlende Sieger von einst, als er die Gestapo mit seinen Argumenten und Geschenken überzeugte, dass er die jüdischen Blinden zur Herstellung von Besen für die Wehrmacht benötigte.

Einmal sah ich diesen Mann, der stets Auswege aus schwierigen Situationen gefunden hatte, ratlos. Einer seiner Illegalen lag in kritischem Zustand in seinem Versteck. Medikamente waren ohne Rezept, von einem zugelassenen Arzt unterschrieben, nicht zu haben. Er sprach schließlich ganz offen mit der Tochter des Kranken darüber, was im Falle des Ablebens des Vaters zu tun sei. Doch zum Glück fand sich ein jüdischer Arzt, der durch seine nichtjüdische Ehefrau von einer Deportation verschont blieb. Er war nur zur Behandlung von legal lebenden Juden zugelassen. Doch er war bereit, dem Kranken zu helfen. Ungeachtet der Gefahr für sich selbst entfernte er den Stern von seinem Mantel und eilte ans Krankenbett des 62-jährigen. Er konnte ihm helfen. Georg Licht wurde wieder gesund. Ein Aufatmen ging durch die Werkstatt. Das Schicksal des einen war doch mit dem Überleben der übrigen Versteckten verbunden. Eine Galgenfrist, von der sie nichts ahnten.

Weidts Bürstenfachmann Chaim Horn begegnete an einem Tag im Oktober 1943 einem ehemaligen Freund. Mit Stolz weihte er ihn in sein Geheimnis ein. Weidt habe ihn und seine Familie seit mehreren Monaten versteckt. Horn konnte nicht ahnen, dass er einem Spitzel der Gestapo gegenüberstand. Einem, dem die Gestapo als Lohn für aktive Mitarbeit Überleben versprochen hatte. Wenige Tage später erschien die Gestapo in der Blindenwerkstatt und holte sie alle ab. Es bleibt Weidts Geheimnis, wie es ihm gelang, dass seine Schützlinge nur nach Theresienstadt, dem Lager für Privilegierte ohne Gaskammern, und nicht direkt nach Auschwitz deportiert wurden.

Von da an packte Weidt Pakete für seine Freunde in Theresienstadt mit Trockengemüse, Trockenkartoffeln, trockenem Brot, mit allem, was er ohne Lebensmittelmarken auftreiben konnte. Auf vorgedruckten Karten bestätigten die Freunde den Empfang. In einem kurzen ihnen erlaubten Gruß machten sie klar, wie bedeutend diese Sendungen für sie waren. „Grüß meine Freunde, die Wittlers“, stand da zu lesen. Wittler war zu jener Zeit der größte Brotfabrikant in Berlin. Ein anderer adressierte seine Dankespost „an die Kartoffelgroßhandlung Otto Weidt“.

Es war 1944, das fünfte Kriegsjahr. Fast täglich prasselte ein Feuersturm auf die Stadt nieder. Manchmal kamen die Bomber auf die Minute genau wie am Vorabend und luden ihre todbringende Last ab. Sie operierten fast ungehindert über der Stadt. Soldaten auf Heimaturlaub reagierten mit Entsetzen auf die Angriffe aus der Luft. Diese seien viel furchtbarer als alles das, was sie tagtäglich an der Front ertragen müssten.

Der Splittergraben, ein öffentlicher Schutzraum, und daher auch für uns zugänglich, bäumte sich auf wie ein Schiff in starkem Seegang. Die Holztüren schlugen im Luftdruck lärmend hin und her. Das Krachen der herabstürzenden Bomben war ohrenbetäubend. Blitze zuckten. Der ganze Himmel war in Bewegung. Wenn der Bombenhagel abflaute, lugten einige vorsichtig aus dem Graben. Ihr Bericht war meist niederschmetternd. Im näheren Umkreis schien alles zu brennen. Als Entwarnung gegeben wurde, rannten alle durch den schwarzen Qualm der brennenden Häuser in Richtung ihrer Wohnungen. Einige Häuser brannten lichterloh.

„Man kann sie doch löschen!“ riefen die Menschen verzweifelt aus. Doch ohne Widerhall. Es fehlte an Wasser. Die wenigen zur Verfügung stehenden Löschzüge der Feuerwehr wurden für nahe Gebäude der SS und des Oberkommandos des Heeres eingesetzt. Ich hörte das erste Mal Flüche gegen die Regierung: „Wohnungen von Frauen und Kindern, deren Männer und Väter an der Front das Vaterland verteidigen, sind offensichtlich nicht so wichtig“, schimpften sie. Doch dann gingen die Ausgebombten eiligst daran, einige ihrer Wertsachen und Dokumente aus den brennenden Wohnungen zu retten.

Andere, deren Häuser nicht Opfer der Flammen geworden waren, hämmerten und nagelten sofort nach der Entwarnung mitten in der Nacht, um Pappe an die Stelle der geplatzten Fensterscheiben einzusetzen. Den Tag über sprachen sie von diesem Angriff, wohl wissend, dass am Abend mit großer Wahrscheinlichkeit der nächste folgen würde. Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt beköstigte alle, die Adressen aus ausgebombten Häusern nachweisen konnten.

Meine Mutter und ich fanden uns schnell im stündlich wachsenden Chaos zurecht. Es gab Bohnenkaffee und dick beschmierte Leberwurststullen - ein für das fünfte Kriegsjahr luxuriöses Angebot. „Sie haben Angst vor uns Ausgebombten“, hörte ich jemanden sagen. In Hamburg, auf das am 25. Juli 1943 einer der schwersten Luftangriffe des Krieges niedergegangen war, und Tausende von Toten gefordert hatte, hätten Ausgebombte rebelliert. Es mag das Ziel der Alliierten gewesen sein, mit Hilfe der vernichtenden Luftangriffe den Widerstand der Deutschen gegen ihre Führung anzufachen. Aber das gelang ihnen nicht.

„Wir müssen doch siegen.“ Beschwörend klangen diese Worte, die Zuhörer nickend bestätigten. „Was soll denn sonst aus Deutschland werden?“ Sie fragten es flüsternd den Nachbarn auf der Treppe, den zufälligen Gesprächspartner auf der Straße, den vor ihnen in der Schlage nach Lebensmittel anstehenden Volksgenossen. Sie sprachen nicht davon, dass Deutsche sich an vielen Völkern Europas versündigt hatten. Viel eher glaubten sie beweisen zu können, dass die Welt Deutschland habe vernichten wollen.

Und nun war einer gekommen, der Deutschlands Größe wieder herstellen wollte. So sollte es sein, so könnte es sein, so würde es sein. Deutschlands Generäle folgten den Anweisungen des Führers, der Rückzug verboten und gedroht hatte, alle jene zu entlassen, die sich diesem Befehl widersetzten. Derartige Gespräche endeten meist mit dem Hinweis auf Deutschlands Wunderwaffen, die noch in der Entwicklung seien, die V1 und die V2, die bereits englische Städte zerstört hätten, oder die Armee Wenck, von der zwar keiner wusste, wo sie auf ihren siegesgewissen Einsatz wartete. Deutschland hätte die modernsten Waffen und Soldaten, die es als ihre Mission ansahen, die Feinde zu besiegen und ihr Land zu Ruhm und Ehre zurückzuführen. Ein tiefer Seufzer begleitete die Schlusspunkte derartiger Gespräche: „Ach, wenn der Krieg nur bald ein Ende hätte.“

In der Nacht vom 30. Januar 1944 setzten Bomben auch das Haus in Brand, in dem wir ein so günstiges Versteck gefunden hatten (Sächsische Str. 26). „Ihr könnt hier bleiben, so lange Ihr wollt.“ Mit diesen Worten hatte uns Lisa Holländer aufgenommen, „Ich habe keine Angst, mein Liebstes haben sie mir schon genommen.“ Ihr jüdischer Ehemann, bis 1938 ein erfolgreicher Exportkaufmann, war plötzlich und grundlos verhaftet worden. Seine Frau erfuhr nie etwas über sein Schicksal, bis eines Tages ein Paket aus einem Konzentrationslager mit seiner blutigen Hose eintraf und dem Vermerk: Paul Holländer sei an einem Herzversagen gestorben.

„Unser Versteck“ murmelte meine Mutter vor sich hin und guckte in die Flammen, die sich langsam und ungehindert in unser Haus fraßen. Wir verbrachten die Nacht auf der Straße, saßen auf geretteten Matratzen, aus denen bei der kleinsten Berührung Flammen aufspritzten. „Wo sollen wir bloß noch hin?“

Ich gab vor, ihr nicht zuzuhören. „Ich habe keine Kraft mehr.“ Selten hatte ich meine Mutter so verzweifelt gesehen. „Immerzu fliehen.“ Sie war Anfang fünfzig. Die Jahre von 1933 an mit den Verfolgungen und Drohungen, den Verboten und Verhaftungen, hatten an ihrer Kraft gezehrt. „Eines Tages werden sie uns doch finden.“ Und sie rechnete mir vor, aus wie vielen Verstecken wir schon hatten fliehen müssen. „Mach Du allein weiter! Ich gebe auf!“ Ich ertrug das nicht. Ich stürzte in ihre Arme, schüttelte sie und schwor, dass ich sie nicht allein gehen lassen würde. Ich würde natürlich mit ihr gehen, wenn sie darauf bestand, aufzugeben. „Du musst weitermachen, Du hast die Kraft dazu“, entgegnete sie.

Tante Lisa hatte Bruchstücke unseres Gesprächs mitangehört. „Wie kannst Du nur so sprechen, Ella, denk doch an uns, die Freunde. Auch wir warten sehnsüchtig auf das Ende.“ Und sie verwies auf die militärische Lage Nazi-Deutschlands. Es gäbe doch nun wirklich keine Zweifel mehr darüber, dass Deutschland den Krieg verlieren und das Ende des Nazi-Regimes Gewissheit würde. „Ach, es dauert doch alles so lange“, entgegnete meine Mutter sehr leise und auch ein bisschen verlegen.

Walter Rieck, einer unserer Helfer, hatte von den schlimmen Zerstörungen in unserem Bezirk gehört und fürchtete um unsere Sicherheit. Zwei Frauen ohne Papiere würden ohne Zweifel als versteckte Jüdinnen entlarvt werden, sobald die Verwaltung die Lage wieder im Griff hatte. Rieck nahm uns nach Potsdam mit. Dort hatte seine Familie in einer kleinen Siedlung am Stadtrand einige Zimmer gemietet. Wie das so viele ausgebombte Berliner getan hatten oder solche, die die Angst vor den Bomben in das noch heile Potsdam getrieben hatte. Die Familie Rieck rückte zusammen. Es gab noch Platz für uns. Ein Provisorium natürlich.

Mit Hilfe einiger Bewohner der Siedlung, die Mitleid mit den in Berlin ausgebombten Richters hatten, wie wir uns nun nannten, fanden wir eine Unterkunft. Es war ein ehemaliger Ziegenstall aus Beton, Fliegenfenstern und Holztüren und einem Herd aus roten Ziegelsteinen mit einer einzigen Kochstelle, die mit Holz gespeist werden musste. Wärme strahlte sie allerdings nicht aus. Dieses Häuschen mit einem kleinen Schlafraum war offiziell als unbewohnbar gemeldet und darum für uns geeignet. Die Nachbarn liehen uns Betten, einen Schrank und ein paar Kochtöpfe.

Die Propaganda der Regierung, die den Endsieg als Gewissheit versprach, war schal geworden. Die Menschen hatten zu zweifeln begonnen. Sie lauschten Gerüchten, hörten Spekulationen zu und machten sich ihre eigenen Gedanken. In der Anfangsphase der Naziherrschaft hatten viele die neue Politik unterstützt, ohne die verbrecherischen Absichten der Nationalsozialisten zu durchschauen. Das in Hitlers „Mein Kampf“ enthaltene Programm der NSDAP hatten nur wenige gelesen. Doch es klang gut, was sie über die Möglichkeiten zur Beseitigung der Not des deutschen Volkes hörten. So nahm die Mehrheit alles hin, glaubte auch, dass alles rechtens sei, selbst die Diskriminierungen und Entrechtungen der Juden und derer, die sich den Zielen der neuen Regierung entgegenstellten. Es war doch alles so einfach. Diese Regierung dachte und handelte für sie. Die Erfolge ließen dies zu. Das eigene Denken konnte abgeschaltet werden.

Nun aber, da die Erfolge ausblieben, Niederlagen an der Tagesordnung waren, große Opfer vom Volk gefordert wurden, war ein Wandel spürbar. Hingeworfene Bemerkungen machten deutlich, dass die Menschen die von der Regierung propagierten Darstellungen der Lage nicht mehr so ohne weiteres hinnahmen. Es gab nur noch wenige, die nicht davon überzeugt waren, dass die Alliierten eines Tages eine Landung an der französischen Küste wagen würden, um Frankreich von den Deutschen zu befreien und auf das deutsche Festland vorzustoßen. Die schweren Luftangriffe bewiesen doch die Stärke der Alliierten. Die Frage, die die Menschen sich stellten, war, wann und wo die Invasion zu erwarten wäre. Die Argumente der Regierung, dass die Alliierten in einem solchen Falle eine schlimme Niederlage erleiden würden, klangen nur noch böse und schrill.

Zur gleichen Zeit brach die Ostfront immer mehr ein. Das Führerhauptquartier in der Ukraine wurde von russischen Truppen erobert. Deutsche Armeen wurden aufgerieben, andere eingekesselt. Die Belagerung von Leningrad, die 900 Tage gedauert hatte, musste aufgegeben werden. Die Zahl der Opfer stieg auf beiden Seiten ins Unermessliche. Immer zahlreicher wurden die Benachrichtigungen, dass der Sohn oder der Ehemann für „Führer, Volk und Vaterland“ gefallen sei. Andere Briefe enthielten die Nachricht, der Sohn oder der Vater sei vermisst gemeldet. Es wurde in allen Fällen darauf hingewiesen, dass auf Trauerkleid zu verzichten sei. Sie sollte offenbar das Straßenbild nicht stören.

Aus sicherer Quelle behaupteten einige zu wissen, dass sich unter Offizieren der Wehrmacht Empörung breit mache. Deutsche Soldaten würden so sinnlos geopfert. Trotzdem änderte sich nichts. Die Befehle, Verteidigung um jeden Preis und Verbot eines jeden Rückzugs blieben in Kraft. Sollte aus strategischen Gründen ein Rückzug zwingend werden, müsste das Prinzip der „verbrannten Erde“ in Anwendung kommen, also die vollkommene Verwüstung der zu verlassenden Gebiete. So ein Zusatz in deutscher Sprache. Der sich zurückziehenden Armee folgten die Einsatzgruppen der SS und führten dies auch aus - an Menschen und Material.

Der Krieg beherrschte nun das Leben der Menschen bei Tag und bei Nacht. Bei Tagesanbruch versuchten sie die Schäden zu reparieren, die die Bomber in der Nacht angerichtet hatten. Dann kam der Gang zum Kaufmann, nicht um etwas bestimmtes zu kaufen, sondern um zu nehmen, was zu haben war. Die Auswahl war kleiner geworden, seitdem die Deutschen besetzte Gebiete hatten aufgeben müssen, in denen sie Produkte jeder Art zu requirieren pflegten. Anstehen gehörte nun meist dazu - für die Milch, die wegen der Bombenschäden auf den Straßen vom Umland nach Berlin nicht zur Zeit eintraf. Für Gemüse und Obst, die aus Mangel an Arbeitskräften knapper und einseitiger geworden waren, für Fleisch, das ohnehin nur noch in kleinen Mengen zu haben war.

Für unsere Freunde wurde es schwieriger, uns auch noch mit ihren knapper werdenden Rationen zu versorgen. Schwarzmarktpreise waren nicht mehr erschwinglich. Pilze, die im Wald nahe unseres Ziegenstalles wuchsen, waren erst im Herbst essbar. Meine Mutter und ich verlegten uns aufs Stehlen. Wir gingen an Felder heran, auf denen Gemüse gezüchtet wurde. Davon gab es als Folge der schlechten Ernährungslage viele im Umland von Berlin. Meine Mutter hatte ein starkes Handgelenk, mit dem sie Kohlköpfe abdrehte. Ich find die „Ernte“ in einem Sack auf und hielt Wache, dass niemand uns störte. Meine Mutter arbeitete schnell. Als ich sie auf die große Menge der Kohlköpfe ansprach, die sie schon „geerntet“ hatte, bemerkte sie empört: „Was verlangst Du eigentlich von mir: stehlen soll ich und dabei auch noch zählen?“ Wir lachten wie lange nicht mehr.

„Bitte begreif doch, Du bist immer noch in Lebensgefahr.“ So bedrängte mich mein Freund Hans Rosenthal. Er wollte mir zu verstehen geben, dass auch die für die Nazis ungünstige Kriegslage sie nicht daran hinderte, entflohene Juden zu jagen. Rosenthal war Materialverwalter der Jüdischen Gemeinde. Es war ihm gelungen, gute Beziehungen zu einigen Berliner Grossisten aufzubauen, die ihn mit im Handel nicht mehr erhältlichen Waren belieferten. Die Gestapo hatte dies erkannt und ihn gezwungen, auch für sie derartige Waren heranzuschaffen. Dafür wurde er nicht deportiert. Seine Nähe zu den Mördern ergab, dass er uns mit Nachrichten über Aktivitäten der Gestapo versorgen konnte.

Er ließ uns wissen, dass die Gestapo eine Geflitztenkartei angelegt habe, in der sie die Namen aller derer verzeichnet hatten, die ihnen entkommen waren. Bei Personenkontrollen auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, die hauptsächlich Deserteuren der Wehrmacht und entflohenen Fremdarbeitern galten, waren versteckte Juden leicht zu identifizieren. Er warnte uns auch davor, leichtfertig Kontakte zu Unbekannten aufzunehmen. Viele Verhaftungen gingen auf Denunzierungen zurück.

Als meine Mutter und ich einmal mit der S-Bahn fuhren, stiegen am Bahnhof Zoo zwei Männer ein. Sie riefen den Reisenden zu, ihre Ausweise für eine Kontrolle bereitzuhalten. Zu unserem Glück begannen sie ihre Kontrolle im hinteren Teil des Wagens. So blieb uns noch Zeit, bei der Einfahrt in den Bahnhof Tiergarten aus dem vorderen Teil des Zuges zu springen und die Treppe hinunterzulaufen.

Es wurden auch jene Juden Beute der Gestapo, die ihren sie schützenden nicht-jüdischen Partner durch Scheidung oder Tod verloren hatten. Es sind Fälle bekannt geworden, in denen Beamte der Gestapo auf dem Friedhof darauf warteten, bis der Sarg in der Gruft verschwunden war, dann sofort den zurückbleibenden Juden griffen und ihn zum Sammelplatz für zu Deportierende führten.

„Ich kann Ihre Grüße an Alice leider nicht ausrichten. Sie ist nicht hier.“ Dieser mysteriöse Satz stand auf einer Postkarte aus Theresienstadt, die Berlin im Mai erreichte, auf der ein Freund von Alice ein von Weidt geschicktes Paket bestätigte. Es war ihm verboten, nähere Angaben zu machen. Tage danach löste sich das Rätsel. Eine weitere Postkarte, datiert vom 16. Mai 1944, traf in der Blindenwerkstatt ein. Darauf teilte Alice mit, dass ihre Eltern und sie nun im Zug von Theresienstadt ins Arbeitslager Birkenau säßen. Sie hatte diese Karte aus dem Zug geworfen. Jemand hatte sie aufgehoben und abgeschickt. Die deutsche Reichspost erhob Strafporto, denn es fehlte die Briefmarke.

Im Jahr 1944 fuhr die Deutsche Reichsbahn elf Transporte mit 389 Juden, die in Berlin aufgespürt worden waren, nach Auschwitz. Den letzten im Monat Oktober 1944. Zur gleichen Zeit wurden über 20.000 Menschen von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert. Unter ihnen viele, die ursprünglich aus Deutschland in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt gebracht worden waren. Nun sollten sie ihr Ende in den Gaskammern von Auschwitz finden. Die Mörder hatten dazu allerdings nur noch einen Monat Zeit. Im November 1944 gab SS-Führer Heinrich Himmler Anweisung, die Gaskammern von Auschwitz abzuschalten. Den herannahenden russischen Truppen sollten die Verbrechen der Deutschen an Juden, Zigeunern, Polen, Russen, deutschen Kommunisten und anderen mehr verborgen bleiben.

Otto Weidt war außer sich, als er Alices Karte entnahm, dass auch sie nun noch in Auschwitz einem schrecklichen Ende zugeführt werden sollte. Er beschloss, nach Auschwitz zu fahren, unter dem Vorwand, er sei Produzent von Besen und Bürsten und wollte sie der Lagerleitung zum Kauf anbieten. Er beliefere die Wehrmacht und verschiedene andere Lager und würde das auch für Auschwitz übernehmen. An dem von ihm angekündigten Datum im Juni 1944 ließ man den blinden Mann nicht ein.

Kurz darauf erfuhr er, dass seine Freundin Alice in ein Nebenlager in Christianstadt überwiesen worden war. Dort hatte er mehr Glück. Er traf einen polnischen Zivilarbeiter, der im Lager aus- und einging. Gegen ein Entgelt suchte und fand dieser Alice unter den dort arbeitenden Frauen. Von da an konnte Weidt Alice mit Verbandszeug, Medikamenten und Stärkungsmitteln versorgen. Von größerer Bedeutung aber war die Nachricht, die er Alice zukommen ließ. Er habe im nahen Ort ein Zimmer gemietet und dort Geld und Kleidung für sie hinterlegt. Sie solle, so bald sie könne, dorthin fliehen. Und so ist es schließlich auch gekommen. Eines Tages stand sie wieder in Berlin vor der Tür der Blindenwerkstatt.

Es war am Nachmittag des 6. Juni 1944. Die Tür unseres Papiergeschäfts wurde plötzlich aufgerissen. Jemand rief mit lauter Stimme in den Laden hinein: „Die Blätter sind gefallen“, schloss die Tür ebenso schnell wieder und verschwand. Grete und ich brauchten einige Zeit, um zu begreifen, was uns Käte Schwarz, eine unserer vertrauenswürdigsten Kundinnen, hatte mitteilen wollen. Dann erinnerten wir uns. Diese Worte stammten aus einer Rede, die der britische Premierminister im Unterhaus gehalten hatte. Winston Churchill hatte darin auf eine bevorstehende Invasion mit den Worten hingewiesen: sie werde durchgeführt werden „bevor die Blätter fallen“. Dieser Hinweis war wohl für das britische Volk bestimmt, das unter dem Beschuss deutscher Raketen litt, wie auch für das deutsche Volk, das nun schon Monate unruhig Berichte und Argumente verfolgte, die für oder gegen eine mögliche Invasion sprachen.

Alliierte Truppen waren in der Nacht vom 5. zum 6. Juni 1944 nahe Cherbourg gelandet. Im deutschen Heeresbericht am 7. Juni wurde diese Tatsache mit nichtssagenden Worten bekannt gegeben. Unsere Versuche, aus ausländischen Sendern mehr zu erfahren, schlugen fehl. Die Störsender waren verstärkt worden. Dennoch war nach drei Tagen klar, dass die Invasion unter großen Verlusten auf beiden Seiten geglückt war und Tausende von englischen und amerikanischen Soldaten in der Normandie Fuß gefasst hatten. Im deutschen Heeresbericht wurde der Meldung über die Invasion alliierter Truppen hinzugefügt, deutschen Soldaten sei es gelungen, einen Keil in die englischen Stellungen zu treiben. Überdies habe man die englische Küste mit neuartigen Waffen bombardiert. Dies habe eine Massenflucht aus London zur Folge gehabt. Weitere Vergeltungsschläge würden folgen.

Die deutsche Führung hatte Wochen zuvor immer wieder versichert, die Alliierten würden eine Invasion nie wagen. Eine Niederlage an den mit modernen Waffen bespickten Befestigungen wäre ihnen sicher. Doch viele Menschen waren skeptisch. Amerikaner und Engländer waren allein zahlenmäßig den Deutschen überlegen. Überdies würden nur die Sowjets davon profitieren. Der Kampf im Westen würde sie entlasten. Vor den Russen hatten die Deutschen eine fast panische Angst. Ihnen waren die Verbrechen deutscher Truppen an der russischen Bevölkerung nicht verborgen geblieben. Berichte erreichten die Berliner, nach denen auf deutsches Gebiet vordringende russische Truppen an Deutschen Rache nahmen. Die Bevölkerung war nervös wie nie zuvor in diesen Kriegsjahren, in denen sie so lange Sieger gewesen waren. Sie verloren das erste Mal ihre Sicherheit.

Eines Tages erschreckte uns eine Kompanie Soldaten, die mit Sturmgepäck ausgerüstet auf dem Fehrbelliner Platz Stellung bezog. Doch sie blieben dort nur wenige Stunden. Dann marschierten sie wieder ab, so geräuschlos, wie sie gekommen waren. Die Erklärung folgte Tage später. Deutsche Offiziere hätten ein Attentat auf Adolf Hitler verübt. Für den Fall, dass es gelänge, sollten Kompanien an strategisch wichtigen Punkten der Stadt Aufstellung nehmen. Das Attentat schlug fehl. Als die Kompanie abmarschierte, dem Befehl Hitler-treuer Offiziere folgend, waren jene, die das Attentat gewagt hatten, längst erschossen worden. Mit ihnen Verbündete wurden nach Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet. Tausende von Soldaten wurden verhaftet. Die Nazis überschlugen sich in ihrer Wut gegen die, die das Ende des Krieges und der Naziherrschaft herbeiführen wollten. Ihre Brutalität gegenüber den Attentätern und ihren Familien kannte keine Grenzen. Das deutsche Volks aber blieb stumm, als ob es sich unter den Schlägen duckte, die Hitler gegen seine Widersacher austeilen ließ. Der Putsch vom 20. Juli 1944 blieb ohne Wirkung auf das Kriegsgeschehen.

Uns aber traf es tief. Wenn doch der Putsch gelungen wäre! Wie viele Menschen hätten überleben können! Seit dem Frühjahr 1944 trieben die Nazis mit Hilfe ungarischer Faschisten noch 400.000 ungarische Juden in die Gaskammern von Auschwitz. Mehrere tausend Juden von den griechischen Inseln führten die Nazis einem gleichen Schicksal zu. Wie viele junge Menschen aus Ost und West von Europa wären nicht mehr den Wahnideen der Nazis zum Opfer gefallen. Wie viele Werte, die das Erbe Europas ausmachten, wären erhalten geblieben!

Die Diskussionen unserer ebenso enttäuschten Freunde drehten sich um die Frage, aus welchem Grunde das Ausland dem Putsch vom 20. Juli jegliche Unterstützung versagt hatte. Über ihre Medien ließen diese die Welt wissen, dass ihr unverrückbares Ziel die „bedingungslose Kapitulation“ des Nazi-Reiches sei und bleibe, dessen Macht ein für allemal gebrochen werden müsse. Und dies hätte der Putsch einer relativ kleinen Gruppe von Offizieren aus dem Reich der vielen Millionen Deutschen nicht herbeiführen können.

Wir waren neidisch. Neidisch auf jene Menschen, die in Frankreich nun von der Nazi-Tyrannei befreit worden waren. Bis Mitte August hatten die Alliierten die Deutschen schon aus großen Teilen Frankreichs in Richtung Rhein vertrieben. Am 23. August hatten sie in Paris kapitulieren müssen. Wenige Tage später führte Charles de Gaulle einen Triumphzug über die Champs-Élysées an. Das Ende der deutschen Besetzung von Paris war für uns wie ein Symbol, das es deutlicher nicht machen konnte: das Ende der Nazi-Tyrannei über Europa würde Wirklichkeit werden.

Gewiss, der Weg nach Berlin war noch weit, vom Westen wie vom Osten. Und die Nazis hörten nicht auf, dem deutschen Volk den „Endsieg“ als Gewissheit einzuhämmern. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen und forderten dies auch von ihrem Volk. Jeder Deutsche, der nicht in einem kriegswichtigen Betrieb beschäftigt und noch tauglich war, musste an die Front. Frauen mussten ihre Plätze im zivilen Leben einnehmen, etwa bei der Feuerwehr oder in den Rüstungsindustrien. Geschäfte und Büros wurden überprüft. Wer abkömmlich erschien, wurde eingezogen.

„Du musst hier weg!“ Dr. Ostrowski erklärte mir, dass meine Tätigkeit als Verkäuferin im Papiergeschäft seiner Partnerin zu gefährlich geworden sei, seit nun auch weibliche Arbeitskräfte rekrutiert würden. Ich war verzweifelt und drückte das auch aus. Ich hatte mich zu sicher gefühlt und die Tätigkeit in diesem Papiergeschäft als beste Tarnung angesehen. Hinzu kam, dass ich mit den Kaufleuten aus der Nachbarschaft freundschaftliche Beziehungen angeknüpft hatte. Sie bekamen von mir selten gewordenes Briefpapier, sie brachten mir etwas Butter oder ein paar Äpfel, ohne zu ahnen, wie nötig ich das alles brauchte. Und nun? Dr. Ostrowski bot keine Alternative an. Was mir nun blieb, war irgendwo spazieren zu gehen, um die Zeit totzuschlagen. Eine nicht ungefährliche Aussicht.

Meine Mutter war in einer ähnlichen Lage. Der Druckereibesitzer Theodor Görner (Rosenthaler Str. 26) hatte meine Mutter unter falschem Namen eingestellt. Er lehnte die Nazis ebenso eindeutig ab wie Otto Weidt. Sie arbeitete in der Setzerei und erhielt den Lohn einer Arbeiterin. Am Anfang eines jeden Monats übergab Görner meiner Mutter Lebensmittelmarken, damit sei am Kantinenessen teilnehmen konnte. Eines Morgens erschien plötzlich die Gestapo in der Druckerei. Vor den Betriebsangehörigen, unter ihnen meine Mutter, erklärten die Beamten, ihr Chef habe sich wie ein Volksfeind benommen. Er habe vor Jahren ein halbjüdisches Kind adoptiert und nun versucht, es in einer höheren Schule anzumelden. Eine solche Handlung grenze an Landesverrat. Es sei auf jeden Fall eine Missachtung deutscher Rassegesetze. Zur Strafe würde der Betrieb des Görner geschlossen.

Pünktlich wie jeden Morgen gingen meine Mutter und ich von nun an zusammen anstatt zur Arbeit mit einem Buch in der Tasche in den Park von Sanssouci. Wir konnten an Werktagen nicht in unserer Behausung bleiben, da wir vorgegeben hatten, in Berlin einer Arbeit nachzugehen. Erst am Nachmittag kehrten wir in unseren Ziegenstall zurück. Zuerst genossen wir es, unter den alten Bäumen spazieren zu gehen. Außer uns gab es noch einige ältere Leute, die in den schattigen Alleen auf den Bänken saßen und dem Vogelgezwitscher zuhörten. Trotz der Schönheit des Parks, einer vom Krieg unberührten Welt, fanden wir die Ruhe nicht, die wir so nötig hatten. Herbst und Winter standen bevor. Die Fronten kamen näher, die Luftangriffe wurden heftiger, die Lebensmittel knapper.

„Suche Privatlehrer oder -lehrerein für meine Kinder“, so stand es auf Anschlägen zu lesen, die an Bretterzäunen, Bäumen oder Hausruinen angebracht waren. Die immer häufiger werdenden Luftangriffe hatten die Berliner Verwaltung veranlasst, die Schulen der Stadt zu schließen und die Schüler in von Bomben verschonte Gebiete wie Schlesien, Bayerische Berge und das Sudetenland zu evakuieren.

Schüler, deren Eltern sich nicht von ihren Kindern trennen wollten, durften in Berlin bleiben. Meine Mutter fand, dass sie für die Tätigkeit einer Privatlehrerin geeignet sei. Sie stellte sich als Witwe eines Studienrates vor und hatte bald eine immer zahlreicher werdende Schülerschar um sich. Dass sie niemals mit dem Deutschen Gruß grüßte, fiel niemandem auf. Man zahlte gut, und man mochte sie. Es ergab sich aus Gesprächen der Kinder, dass einige der Eltern Mitglieder der NSDAP waren.

Meine Mutter verlor einige ihrer Schüler als Folge eines Führerbefehls. „Für den Endsieg“ sei in ganz Deutschland der „Deutsche Volkssturm“ zu bilden von waffenfähigen Männern von 16 bis 60 Jahren. Es war Hitlers letztes Aufgebot. Aus den Geländespielen der Hitler-Jugend wurde nun bitterer Ernst. Junge Burschen taten Dienst an den Flak-Geschützen auf den Dächern von Luftschutzbunkern. Sie marschierten in ihren Hitler-Jugend-Uniformen auf den Straßen mit Gewehren, die ihrer Größe kaum entsprachen. Ältere Männer in Zivil, das Gewehr geschultert, machten einen niedergeschlagenen Eindruck, als sie von Soldaten zu den Sammellagern geführt wurden. Sie sollten an Vorbereitungen zur Verteidigung der Stadt mitarbeiten.

Herr König war nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, obwohl er altersmäßig dafür in Frage kam. Grinsend verwies er auf meine Frage danach auf seine Beziehungen: „Über die Partei natürlich“ und zeigte mir sein Parteiabzeichen, das er bereits unter dem Revers seines Jacketts versteckte. Unser Freund Walter Rieck, der wusste, wie dringend ich Beschäftigung brauchte, hatte mich Herrn König als Aushilfskraft empfohlen. Er verwaltete das Haus, in dem sich das Antiquariat von König befand (Berliner Str.). Trotz seiner guten Beziehungen hatte auch König seine Angestellten an die Rüstungsindustrie abgeben müssen. Er kenne mich, Inge Richter, seit Jahren, hatte Rieck dem König erzählt. Einer Knieverletzung wegen könnte ich in der Fabrik nur begrenzte Zeit an der Maschine stehen und wäre sicher in der Lage, ihm an einigen Nachmittagen der Woche auszuhelfen.

König fand Gefallen an mir. Ich zeigte meine Freude an den schönen alten Büchern, die er auf Auktionen erstanden hatte und ihm gefiel meine Wissbegierde. Als er einmal neben mir stehend einen Stapel Bücher durchsah, sagte er plötzlich hämisch lachend: „Der Kommerzienrat Levy dürfte auch schon in einem Massengrab schmoren.“ Er hatte den Namenszug des ehemaligen Besitzers in einem der Bücher gefunden. Mühsam beherrschte ich mich und schwor mir, diesen Satz nie zu vergessen. Ob ich englisch spräche, fragte er eines Tages. Als ich dies bejahte, war er begeistert. „Dann können Sie mein Geschäft führen, wenn die Amerikaner kommen. Ich als PG werde das wohl kaum dürfen.“ Nein, an den Endsieg glaube er längst nicht mehr. Er sagte es sehr überzeugend.

Es war zur Zeit der Ardennen-Offensive. Hitler mobilisierte im Dezember 1944 alle der Wehrmacht noch zur Verfügung stehenden Kräfte. 250.000 Soldaten hatten den Auftrag, die Alliierten zum Atlantik zurückzuwerfen. Die Luftwaffe unterstützte mit 1.400 Maschinen diese entscheidende Schlacht. Tatsächlich erzielten die deutschen Truppen einige Geländegewinne. Die deutsche Propaganda jubelte. Die Menschen schöpften Hoffnung, glaubten an eine entscheidende Wende im Kriegsgeschehen. Wir schliefen schlecht in jenen Tagen vor Angst, dass dies tatsächlich der Fall sein könnte. Doch die Alliierten schlugen zurück. Es hielt sie im Westen nichts auf und auch nicht die Sowjets im Osten. Beide hatten längst die deutschen Grenzen überschritten. Nur einmal noch sah ich die Berliner froh und zuversichtlich. Es war, als am 12. April 1945 bekannt wurde, dass der amerikanische Präsident Roosevelt gestorben war. Wieder flackerte Hoffnung auf, dass nun alles gut gehen würde, ohne dass jemand hätte erklären können, warum. Doch auch dieser Hoffnungsschimmer verblasste schnell. Alle jene Menschen, die sich nun keiner Illusion mehr hingaben über das, was ihnen bevorstand, grüßten einander mit den Worten: „Bleib übrig“.

„Uns ist bekannt geworden, dass Sie zwei Jüdinnen versteckt halten.“ Mit diesen Worten war Rieck zur Gestapo geladen worden. Er verneinte diese Anschuldigung mit Vehemenz, die, wie er glaubhaft beweisen konnte, von einer eifersüchtigen Ehefrau stammte. Die Gestapo entließ Rieck ohne Konsequenzen. Dennoch war klar, dass wir so schnell wie möglich aus unserem Ziegenstall zu verschwinden hatten. Man konnte nicht sicher sein, ob die Gestapo nicht doch noch Verdacht schöpfte. Wir hatten eine unruhige Nacht. Um 5 Uhr morgens verließen wir auf Strümpfen unsere Behausung. Rieck übergab uns die Schlüssel zu einer Wohnung in der Konstanzer Straße. Der Wohnungsinhaber käme nur ab und zu nach Berlin, um nach dem rechten zu sehen, beruhigte uns Rieck. Allerdings sei auch dies nur als Provisorium zu verstehen. Noch einmal standen wir vor der Frage, wohin in dieser zerstörten Stadt, wer hat noch den Nerv, uns aufzunehmen. Die Nazis wüteten wie Wahnsinnige gegen jeden, der ihre Befehle nicht befolgte. „Ich war zu feige, mein Vaterland zu verteidigen“ stand auf einer Tafel, die an Laternenpfählen erhängte Soldaten um den Hals trugen. Man fand sie in vielen Teilen der Stadt zur Abschreckung.

„Mischt Euch unter die Flüchtlinge“, schlug Tante Lisa vor. Viele Wochen schon flohen Menschen aus den deutschen Ostgebieten vor den sowjetischen Truppen nach Westen. Da die Nazi-Behörden die belagerten Städte zur Flucht ihrer Einwohner erst kurz vor ihrer Eroberung durch die Russen freigaben, hatten die meisten von ihnen nur leichtes Gepäck. Während der Fahrt trauerten sie ihrem zurückgelassenen Besitz nach und erzählten, was sich Fürchterliches in den letzten Tagen in ihrer Heimatstadt zugetragen hatte. Wir waren einem solchen Flüchtlingszug zugestiegen und lauschten sehr aufmerksam ihren Berichten. Wir wollten wie sie als Flüchtlinge aus dem Osten in Berlin aufgenommen werden.

Bei der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, die die ankommenden Flüchtlinge betreute, gaben wir Guben, Am Markt 4, als unsere Anschrift vor der Flucht an. Wir hatten lange darüber nachgedacht, denn weder unser Geburtsort noch unser letzter Wohnort durften noch für deutsche Behörden erreichbar sein, um unsere Angaben zu prüfen. Das Osthavelland sei das Aufnahmegebiet für Menschen aus der Lausitz. Man hieß uns, dort hinzufahren. Meine Mutter bestand aber auf Berlin, weil uns Verwandte hier betreuen würden. „Niemand bleibt freiwillig in Berlin“, argumentierte die Beamtin. Auf unsere Frage nach den Gründen verwies sie darauf, dass Berlin möglicherweise belagert werden könne. Meine Mutter reagierte mit perfekt gespielter Entrüstung mit den Worten: „Das würde der Führer nie zulassen!“ Die Beamtin beeilte sich, nun schleunigst die Zuzugsgenehmigung für uns zu unterzeichnen. Ihre Reaktion hätte schlimme Folgen für sie haben können. Ich wundere mich noch heute, dass ich bei der Bemerkung meiner Mutter ernst geblieben bin. Das Erlebnis reizte uns noch häufig zum Lachen. Es war ja mehr als nur ein faux pas der Beamtin. Es machte deutlich, dass wir nun unweigerlich als Sieger aus diesem Kampf ums Überleben hervorgehen würden.

Wir, Ella Paul und Elisabeth Marie Richter, suchten uns nun ein möbliertes Zimmer. Der Vermieter im Haus Ludwigkirchstraße 6 musste unser Anmeldeformular unterschreiben. In diesem Moment ging das Licht aus - die Elektrizitätswerke litten unter Bombenschaden. „Wie dumm“, meinte Herr Hellweg, „nun kann ich gar nicht sehen, was ich unterschreibe. Aber Polen oder Juden werden Sie ja wohl nicht sein.“

Am 21. April konnte man die die Stadt umzingelnden Kanonen der sowjetischen Truppen hören. Ich beschwor meine Mutter, die Russen in unserem Ziegenstall und nicht in Berlin zu empfangen. Als ich am 22. April die ersten Panzerketten über den Asphalt der Hauptstraße Richtung Potsdam rattern hörte, waren wir unbeschreiblich glücklich. Ich winkte russischen Soldaten zu. Doch sehr bald musste ich mich noch einmal verstecken. Frauen waren gefragt. Ein russischer Offizier, dem ich klarzumachen suchte, wer ich wirklich war, schlug vor, mit mir Hochzeit zu machen. Er sagte das Wort auf Jiddisch. Ich gab vor, ihn nicht zu verstehen. Daraufhin zog er seine Pistole, richtete sie auf meine Brust und brüllte, es sei alles gelogen, ich sei gar keine Jüdin. Nur mit großer Mühe und List gelang es uns, ihn los zu werden.

Diese angstvollen Minuten schmälerten unsere Freude über das Ende des Krieges, das Ende der Naziherrschaft und unser Überleben nicht. Dann allerdings wurde in allen Einzelheiten bekannt, was die Nazis Fürchterliches gegen Millionen von Menschen vieler Nationen angerichtet hatten. Unser Entsetzen kannte keine Grenzen. Wir mussten feststellen, dass unsere gesamte Familie ermordet worden war. Immer neue Namen fielen uns ein von Freunden und Bekannten, die einem grausigen Schicksal zum Opfer gefallen waren. Wir weinten, weinten tagelang.

In einem Post scriptum zu einem Brief an mich schreibt eine zwölfjährige Schülerin: „Würde ich können, würde ich Ihnen meinen Schutzengel schenken, damit Sie bis 105 leben.“