Erinnerungen an Bad Sachsa
Uta von Aretin
Erinnerungen an Bad Sachsa
Grußwort von Dr. Uta von Aretin zur Eröffnung der Ausstellung „Unsere wahre Identität sollte vernichtet werden“ am 19. Juli 2017 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Einige von Ihnen waren wohl schon bei der Eröffnung der gleichen Ausstellung im November vorigen Jahres in Bad Sachsa dabei. Viele davon gehörten dabei zu den 1944 in Sachsa inhaftierten Kindern. Wir kamen aus den verschiedensten Regionen und brachten sehr unterschiedliche Erfahrungen mit, denen wir in der Zeit vor und während der Verhaftung ausgesetzt worden waren. In dem hier vorliegenden Begleitband zur Ausstellung finden Sie auch einen Beitrag von Wilhelm Graf von Schwerin, in dem er seine Gedanken und Erlebnisse vor, bei und nach seiner Verhaftung schildert. Wobei die von ihm selbst bezahlte Fahrkarte ins Gefängnis die heiterste Pointe bleibt!
Wir, d.h. meine Mutter, meine kleine fast 5-jährige Schwester und ich, 13 Jahre alt, waren im Juli wie immer in den Sommerferien in der Heimat meines Vaters in Wartenberg in der Neumark. Meine beiden älteren Brüder waren beide mit jeweils 15 Jahren eingezogen worden und waren bei ihren Einheiten. Das Ereignis vom 20. Juli brachte im Haus und der befreundeten Nachbarschaft erregte Debatten, aber in Gegenwart von uns Kindern nie mit moralischen Wertungen. Am 21. Juli nahm sich mein Vater, Henning von Tresckow, an der Front das Leben, in der Hoffnung, damit seine Freunde und seine Familie zu retten. Am 22. Juli kam Margarethe von Oven aus Berlin mit der Nachricht seines Todes nach Wartenberg. Noch glaubte die militärische Führung an seinen Heldentod während eines Partisanenangriffs und widmete ihm ehrenvolle Nachrufe. Sie ließ Fabian von Schlabrendorff den Sarg nach Wartenberg bringen, wo er am 27. Juli auf dem Familienfriedhof beigesetzt wurde.
Anfang August wurde die aktive Tätigkeit meines Vaters im Widerstand bekannt. Am späten Abend vom 15. August – wir Kinder schliefen schon – fuhr ein großer schwarzer Mercedes mit zwei Gestapo-Beamten in Wartenberg vor. Sie durchsuchten das Haus und verhörten die Anwesenden. Dann befahlen sie, die Kinder aufzuwecken und anzuziehen, zwecks Verhaftung und Mitnahme zusammen mit der Mutter. Bis dahin war ich verschlafen und arglos staunend. Als aber der Hausherr, der fest damit gerechnet hatte, als Bruder meines Vaters verhaftet zu werden, und mir die bisher für mich mustergültige Hausfrau Ausdrücke wie „Diese Schweine!!“ zuraunten, war mir von diesem Moment an klar, dass diese Männer absolute Feinde von uns waren, die Böses wollten, und dass wir eine gemeinsame Front gegen sie bilden mussten.
Unsere nächtliche Fahrt verhalf uns zu heiterer Schadenfreude, weil unsere beiden Herren partout nicht den richtigen Weg nach Küstrin finden konnten, wo wir schließlich nach längerer Fahrt im dortigen Polizeigefängnis eintrafen. Völlig fassungslos übernahm uns der nächtliche Wärter beim Anblick von uns Kindern. Er stammelte nur „Die Kinder auch??“ als er uns in eine Zelle brachte. Das war ein primitivster schmaler Kellerraum mit zwei schmalen Pritschen, Kübel und einem Heer von Wanzen. Eine Pritsche war schon belegt von Frau Fellgiebel, der Frau von General Erich Fellgiebel, dem Chef der Nachrichtentruppe. Sie war in einer trostlosen Verfassung, von Wanzen zerstochen, ohne Brille ganz hilflos, und ihr erster verzweifelter Satz war „Wissen Sie etwas von meinem Mann??“ Die beiden Frauen haben sich für den Rest der Nacht unterhalten, während meine Schwester und ich auf der anderen Pritsche nochmal einschliefen.
Am nächsten Nachmittag riss ein Wärter die Tür auf mit den Worten „Die Frau mit den Kindern fertig machen zum Abtransport!“ Unsere uns bereits bekannten Gestapo-Beamten übernahmen uns wieder, leider diesmal ohne Mercedes, und begleiteten uns in einem völlig überfüllten Zug nach Berlin und mit der U-Bahn in die Prinz-Albrecht-Straße in das Reichssicherheitshauptamt. Dort wurden wir in das Büro von Kommissar Habecker gebracht, der nun seinerseits völlig fassungslos über uns Kinder war, die er überhaupt nicht erwartet hatte. Er hatte einen wütenden Wortwechsel mit unseren Begleitern über diese verfehlte Aktion. Wir hätten eigentlich am nächsten Tag von einer NS-Schwester in Wartenberg abgeholt werden sollen.
So kam die Trennung von unserer Mutter. Wir kamen in die Obhut einer NS-Schwester und eines Beamten. Wir verbrachten die folgende Nacht in einem großen Luftschutzbunker, mit vielen Menschen nebeneinander auf Stühlen. Ich muss gestehen, dass ich nur ein vages Erinnerungspotential an diese Nacht, unsere Bahnfahrt nach Nordhausen am nächsten Tag und die abendliche Ankunft in Bad Sachsa habe. Ich war inzwischen irgendwie wie abwesend und erstarrt.
Manche von Ihnen kennen das ganz idyllisch am Waldrand liegende Gelände im Borntal von Bad Sachsa, mit den kleinen Schwarzwaldhäusern, ihren Balkonen und den tiefgezogenen Dächern. Es war ursprünglich ein Bremer NSV-Kinderheim, das jetzt geräumt worden war und für die Kinder der Widerständler bis zum 14. Lebensjahr bestimmt war. Ab 15 Jahre kam man zusammen mit der Mutter in die Sippenhaft.
Für uns lag ein klares Konzept vor. Schon auf den Transportlisten hatten unsere neuen Namen gestanden. Unsere alten Namen durften wir nicht sagen. Den Kindergärtnerinnen war bei scharfer Strafandrohung die Geheimhaltung von Herkunft oder jeglicher Identität der Kinder befohlen worden. Wir sollten unser erstes Leben vergessen und in entsprechenden Einrichtungen oder Familien zu guten nationalsozialistischen Bürgern erzogen werden. Deshalb wurde alles eliminiert, was das Vergessen hätte hindern können: Jeder Kontakt zu Eltern und einstiger Umwelt, selbstverständlich keine Post, keine Fotos oder mögliche Erinnerungsstücke. Wir waren aber auch keiner nationalsozialistischen Indoktrination oder entsprechenden Erziehungsversuchen ausgesetzt. Es war eine irgendwie sterile und lähmende Isolation, total undurchsichtig dafür, ob und wie sie in unbestimmbarer Zeit enden würde.
Unsere Begleiter übergaben uns beide im Verwaltungshaus der sehr spröden Heimleiterin. Sie trug das Parteiabzeichen am Jackett und begrüßte uns mit „Heil Hitler“. Wenig später kamen zwei Kindergärtnerinnen, um meine Schwester und mich in ihre jeweiligen Häuser abzuholen, d.h. nun kam auch die letzte Trennung, die von uns zwei Schwestern. Wir sind uns während unseres Aufenthaltes nie mehr begegnet.
Die Kinder wurden jeweils nach Geschlecht und Alter aufgeteilt: die Buben unter 10 Jahre in Haus 2, die älteren in Haus 1. Ich kam in Haus 7, als allererste Bewohnerin. Meine Kindergärtnerin, Frl. Köhne, war ganz besonders nett, – wie ich meine, voller Mitgefühl. Sie hat uns kurz vor meiner Entlassung – trotz aller Verbote – die Planungen über unseren Aufenthalt in Sachsa verraten, und hat sogar unsere Bitte erfüllt, eine Bibel für uns zu besorgen. Nach einer Woche bekam ich Gesellschaft durch Christa von Hofacker und damit endlich die Möglichkeit, mich mit einer Leidensgenossin auszutauschen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich immer noch nicht, aus welchem Grund wir verhaftet worden waren. Mein so unglaublich vorsichtiger Vater hat in der Gegenwart von uns Kindern nie politisch belastende Gespräche geführt. Er hat unterstützt, dass wir Samstags zu Jungvolk und -mädels gingen, und ich habe stolz meinen Schaftführerwimpel geschwenkt. Schwer vorstellbar für die heutige Generation im Digitalzeitalter ist unsere Lebenswelt damals. Wir begannen vor Beginn des Schulunterrichts am Morgen schon auf dem Schulhof mit dem gemeinsamen Horst-Wessel-Lied und in der ganzen Umwelt war man täglich mit dieser Propaganda konfrontiert. Auch nach unserer Verhaftung hat meine Mutter geschwiegen, um uns völlig unwissend für eventuelle Verhöre zu lassen.
Nachdem Christa einige Tage da war, und ich den Eindruck hatte, dass sie dafür einen ähnlichen Grund wie ich hatte, erzählte ich ihr etwas verschämt, dass meine Mutter im Gefängnis säße. Sie bestätigte dies von ihrer Mutter, aber sie wusste, dass das Attentat auf Hitler die Ursache sei. Da Stauffenberg ein direkter Vetter ihres Vaters war und sein Name schon am Abend vom 20. Juli genannt worden war, hatte die Mutter die Kinder darauf vorbereitet, dass sie deshalb unter Umständen mal Besuch von der Gestapo bekommen könnten. So war es nicht schwer, sich auch eine Beteiligung unserer Väter am Attentat vorstellen zu können.
Einige Tage nach Christa kam noch Marlies Lindemann zu uns und Ende September Ingrid von Seydlitz. Unsere kleine Schar verbrachte irgendwie die eintönigen Tage, – häufig mit Gesellschaftsspielen, Basteleien, Spaziergängen auf dem Gelände – immer im Abstand zu den Anderen. Oder Einbestellungen bei Frau Köhler zu dem dringenden Appell, dass ein wahrhaft deutsches Mädel niemals so etwas Unehrenhaftes wie eine Flucht planen dürfte.
Längst hatten sich unter den Kindern trotz des strengen Verbotes alle ursprünglichen Namen herumgesprochen und Verwandtschaften wurden festgestellt. Am 4. Oktober teilte mir Frau Köhler überraschend mit, meine Schwester und ich würden nach Hause gebracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Politik der Sippenhaft geändert, die vorher auf die absolute Vergeltung an Tätern und ihren Familien ausgerichtet gewesen war. Es kamen keine neuen Kinder mehr an, – wir waren inzwischen 46, – und nach und nach wurde eine erkleckliche Zahl entlassen. Unendlich viel schwerer hatte es da der letzte Kern von Kindern, 14 an der Zahl, darunter auch meine Christa, die bis zum Kriegsende auf ihre Heimkehr warten mussten. Schwere Fliegerangriffe hatten verhindert, dass sie nicht zum Schluss auch noch in das KZ Buchenwald gebracht wurden.
Am 6. Oktober wurden meine Schwester und ich tatsächlich abgeholt. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir belogen wurden und nicht nach Hause kommen. Als wir tatsächlich über die Glienicker Brücke in Potsdam fuhren – unsere Wohnung lag nicht weit davon – regte sich eine winzige Hoffnung, es könne doch wahr sein. Unsere Mutter war da, schon zwei Tage vorher aus dem Gefängnis entlassen. Die Wohnung war beschlagnahmt, wir durften nicht mehr nach Hause. In zwei Zimmern konnte Margarethe von Hardenberg, nach kurzer Haft entlassen, mit ihrer alten Mutter bleiben, weil ihre Berliner Wohnung zerbombt war. So gingen wir Drei nach Wartenberg zurück. Dort fanden wir das Grab meines Vaters leer. Strafgefangene aus Sachsenhausen hatten es aufbrechen müssen und den Sarg nach Sachsenhausen gebracht.
Von uns sechs Familienmitgliedern waren wir wenigstens zu Dritt wieder zusammen. Aber die Jahre, die jetzt folgten, waren weiterhin hart. Es waren Millionen von Menschen, die teilweise sehr viel Schlimmeres erlebten in diesen erbarmungslosen Jahren, aber sein individuelles Schicksal erlebt natürlich jeder für sich selbst. In meiner Erinnerung schließt sich die folgende Zeit nahtlos an Sachsa an. Deshalb werde ich kurz von ihr erzählen.
In Wartenberg hatte der Hausherr, der Bruder meines Vaters, einen schweren Jagdunfall, was nach traurigen Wochen Ende Januar zu seinem Tod führte. Wir Drei verließen nach der Beerdigung in einem offenen Kutschwagen bei minus 20 Grad und dickem Schnee das Haus. 48 Stunden später zündeten die Russen das Schloss an und erschossen die Witwe und den Sohn. Wir passierten in Schwedt noch die Oder, an jedem Brückenpfeiler montierten gerade Soldaten die Sprengladungen. Wir nahmen Zuflucht in der Uckermark, wo die Schwester meines Vaters mit ihrer Familie auf einem Gut lebte. Sie hatten einen fertigen Treck vorbereitet, bekamen keine Treckerlaubnis und kamen auch alle später bei den Russen zu Tode. Wir Drei, inzwischen nur noch mit kleinstem Gepäck, schlossen uns einem Treck von Verwandten aus Westpreußen an. Wir landeten am Ostersamstag mit ihnen auf einem kleinen Gut an der Aller in Niedersachsen an geschlossenen Panzersperren. Ebenso geschlossen war der rüde Widerstand unserer Wirtsleute gegen die unerwünschten Flüchtlinge. Ich habe oft bei gleichen Erfahrungen in unserer jetzigen Zeit an damals denken müssen. Wir erlebten dort in einem selbstgeschaufelten Unterstand im Garten den englischen Geschosshagel auf das Haus, in dem nur noch alte Männer und Buben mit Panzerfäusten das Vaterland verteidigten.
Nach Kriegsende gab es helfende Hände, die uns in einen Ort bei Bremen brachten, wo wir viele Jahre blieben. Dort bekam meine Mutter eine Arbeit im Kindergarten. Wir haben, wie hunderttausende Andere auch, um die tägliche Existenz gekämpft, haben unglaublich gefroren und unglaublich gehungert. Mein älterer Bruder blieb vermisst in Russland, der jüngere stieß nach kurzer Gefangenschaft zu uns, wie auch der älteste Vetter aus Wartenberg, der als Einziger als Soldat überlebt hatte. Der Bruder Gerd meines Vaters kam auch im Gestapo-Gefängnis um. So waren am Ende von der Familie nur noch Gerds Witwe und ihre Kinder und wir Vier und der eine Vetter am Leben.
Was bewirken solche prägenden Erfahrungen im Leben? Nun ich denke, wir waren nach Sachsa keine unbeschwerten Kinder mehr, aber ich denke doch reicher an positiven Kräften für das folgende eigene Leben. Persönliche Erfahrungen in einer allgemein katastrophalen Situation sind jedenfalls immer Anstoß, darüber nachzudenken, was man aus ihnen lernen kann und sollte. Da drängt sich natürlich das Bewusstsein dafür auf, dass es nie wieder eine politische Konstellation bei uns geben darf wie ein jeden Rechtsstaat, sittliche Werte und Menschen verachtendes totalitäres Regime. Es darf sich einfach nie, nie mehr wiederholen. In so vielen Teilen der Welt können wir wieder wachsende Tendenzen gefährlicher Ideologien und grausame Handlungen totalitärer Mächte erleben. Die Bilder der randalierenden schwarzen Blöcke bei uns in Hamburg, waren akkurat die gleichen von damals, als die SS die jüdischen Geschäfte stürmte. Sie haben mich unglaublich erschreckt.
Ich wünschte, dass wir, die ihre Erfahrungen mit den Möglichkeiten und Auswirkungen ideologischen und totalitären Wahnsinns gemacht haben, den nachrückenden Generationen, die nur mit Frieden und Freiheit aufgewachsen sind, glaubhaft machen könnten, dass sie verantwortlich dafür sind, dieses unglaublich kostbare Gut zu verteidigen und zu bewahren .
Erinnerungen an Bad Sachsa
Grußwort von Dr. Uta von Aretin zur Eröffnung der Ausstellung „Unsere wahre Identität sollte vernichtet werden“ am 19. Juli 2017 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Einige von Ihnen waren wohl schon bei der Eröffnung der gleichen Ausstellung im November vorigen Jahres in Bad Sachsa dabei. Viele davon gehörten dabei zu den 1944 in Sachsa inhaftierten Kindern. Wir kamen aus den verschiedensten Regionen und brachten sehr unterschiedliche Erfahrungen mit, denen wir in der Zeit vor und während der Verhaftung ausgesetzt worden waren. In dem hier vorliegenden Begleitband zur Ausstellung finden Sie auch einen Beitrag von Wilhelm Graf von Schwerin, in dem er seine Gedanken und Erlebnisse vor, bei und nach seiner Verhaftung schildert. Wobei die von ihm selbst bezahlte Fahrkarte ins Gefängnis die heiterste Pointe bleibt!
Wir, d.h. meine Mutter, meine kleine fast 5-jährige Schwester und ich, 13 Jahre alt, waren im Juli wie immer in den Sommerferien in der Heimat meines Vaters in Wartenberg in der Neumark. Meine beiden älteren Brüder waren beide mit jeweils 15 Jahren eingezogen worden und waren bei ihren Einheiten. Das Ereignis vom 20. Juli brachte im Haus und der befreundeten Nachbarschaft erregte Debatten, aber in Gegenwart von uns Kindern nie mit moralischen Wertungen. Am 21. Juli nahm sich mein Vater, Henning von Tresckow, an der Front das Leben, in der Hoffnung, damit seine Freunde und seine Familie zu retten. Am 22. Juli kam Margarethe von Oven aus Berlin mit der Nachricht seines Todes nach Wartenberg. Noch glaubte die militärische Führung an seinen Heldentod während eines Partisanenangriffs und widmete ihm ehrenvolle Nachrufe. Sie ließ Fabian von Schlabrendorff den Sarg nach Wartenberg bringen, wo er am 27. Juli auf dem Familienfriedhof beigesetzt wurde.
Anfang August wurde die aktive Tätigkeit meines Vaters im Widerstand bekannt. Am späten Abend vom 15. August – wir Kinder schliefen schon – fuhr ein großer schwarzer Mercedes mit zwei Gestapo-Beamten in Wartenberg vor. Sie durchsuchten das Haus und verhörten die Anwesenden. Dann befahlen sie, die Kinder aufzuwecken und anzuziehen, zwecks Verhaftung und Mitnahme zusammen mit der Mutter. Bis dahin war ich verschlafen und arglos staunend. Als aber der Hausherr, der fest damit gerechnet hatte, als Bruder meines Vaters verhaftet zu werden, und mir die bisher für mich mustergültige Hausfrau Ausdrücke wie „Diese Schweine!!“ zuraunten, war mir von diesem Moment an klar, dass diese Männer absolute Feinde von uns waren, die Böses wollten, und dass wir eine gemeinsame Front gegen sie bilden mussten.
Unsere nächtliche Fahrt verhalf uns zu heiterer Schadenfreude, weil unsere beiden Herren partout nicht den richtigen Weg nach Küstrin finden konnten, wo wir schließlich nach längerer Fahrt im dortigen Polizeigefängnis eintrafen. Völlig fassungslos übernahm uns der nächtliche Wärter beim Anblick von uns Kindern. Er stammelte nur „Die Kinder auch??“ als er uns in eine Zelle brachte. Das war ein primitivster schmaler Kellerraum mit zwei schmalen Pritschen, Kübel und einem Heer von Wanzen. Eine Pritsche war schon belegt von Frau Fellgiebel, der Frau von General Erich Fellgiebel, dem Chef der Nachrichtentruppe. Sie war in einer trostlosen Verfassung, von Wanzen zerstochen, ohne Brille ganz hilflos, und ihr erster verzweifelter Satz war „Wissen Sie etwas von meinem Mann??“ Die beiden Frauen haben sich für den Rest der Nacht unterhalten, während meine Schwester und ich auf der anderen Pritsche nochmal einschliefen.
Am nächsten Nachmittag riss ein Wärter die Tür auf mit den Worten „Die Frau mit den Kindern fertig machen zum Abtransport!“ Unsere uns bereits bekannten Gestapo-Beamten übernahmen uns wieder, leider diesmal ohne Mercedes, und begleiteten uns in einem völlig überfüllten Zug nach Berlin und mit der U-Bahn in die Prinz-Albrecht-Straße in das Reichssicherheitshauptamt. Dort wurden wir in das Büro von Kommissar Habecker gebracht, der nun seinerseits völlig fassungslos über uns Kinder war, die er überhaupt nicht erwartet hatte. Er hatte einen wütenden Wortwechsel mit unseren Begleitern über diese verfehlte Aktion. Wir hätten eigentlich am nächsten Tag von einer NS-Schwester in Wartenberg abgeholt werden sollen.
So kam die Trennung von unserer Mutter. Wir kamen in die Obhut einer NS-Schwester und eines Beamten. Wir verbrachten die folgende Nacht in einem großen Luftschutzbunker, mit vielen Menschen nebeneinander auf Stühlen. Ich muss gestehen, dass ich nur ein vages Erinnerungspotential an diese Nacht, unsere Bahnfahrt nach Nordhausen am nächsten Tag und die abendliche Ankunft in Bad Sachsa habe. Ich war inzwischen irgendwie wie abwesend und erstarrt.
Manche von Ihnen kennen das ganz idyllisch am Waldrand liegende Gelände im Borntal von Bad Sachsa, mit den kleinen Schwarzwaldhäusern, ihren Balkonen und den tiefgezogenen Dächern. Es war ursprünglich ein Bremer NSV-Kinderheim, das jetzt geräumt worden war und für die Kinder der Widerständler bis zum 14. Lebensjahr bestimmt war. Ab 15 Jahre kam man zusammen mit der Mutter in die Sippenhaft.
Für uns lag ein klares Konzept vor. Schon auf den Transportlisten hatten unsere neuen Namen gestanden. Unsere alten Namen durften wir nicht sagen. Den Kindergärtnerinnen war bei scharfer Strafandrohung die Geheimhaltung von Herkunft oder jeglicher Identität der Kinder befohlen worden. Wir sollten unser erstes Leben vergessen und in entsprechenden Einrichtungen oder Familien zu guten nationalsozialistischen Bürgern erzogen werden. Deshalb wurde alles eliminiert, was das Vergessen hätte hindern können: Jeder Kontakt zu Eltern und einstiger Umwelt, selbstverständlich keine Post, keine Fotos oder mögliche Erinnerungsstücke. Wir waren aber auch keiner nationalsozialistischen Indoktrination oder entsprechenden Erziehungsversuchen ausgesetzt. Es war eine irgendwie sterile und lähmende Isolation, total undurchsichtig dafür, ob und wie sie in unbestimmbarer Zeit enden würde.
Unsere Begleiter übergaben uns beide im Verwaltungshaus der sehr spröden Heimleiterin. Sie trug das Parteiabzeichen am Jackett und begrüßte uns mit „Heil Hitler“. Wenig später kamen zwei Kindergärtnerinnen, um meine Schwester und mich in ihre jeweiligen Häuser abzuholen, d.h. nun kam auch die letzte Trennung, die von uns zwei Schwestern. Wir sind uns während unseres Aufenthaltes nie mehr begegnet.
Die Kinder wurden jeweils nach Geschlecht und Alter aufgeteilt: die Buben unter 10 Jahre in Haus 2, die älteren in Haus 1. Ich kam in Haus 7, als allererste Bewohnerin. Meine Kindergärtnerin, Frl. Köhne, war ganz besonders nett, – wie ich meine, voller Mitgefühl. Sie hat uns kurz vor meiner Entlassung – trotz aller Verbote – die Planungen über unseren Aufenthalt in Sachsa verraten, und hat sogar unsere Bitte erfüllt, eine Bibel für uns zu besorgen. Nach einer Woche bekam ich Gesellschaft durch Christa von Hofacker und damit endlich die Möglichkeit, mich mit einer Leidensgenossin auszutauschen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich immer noch nicht, aus welchem Grund wir verhaftet worden waren. Mein so unglaublich vorsichtiger Vater hat in der Gegenwart von uns Kindern nie politisch belastende Gespräche geführt. Er hat unterstützt, dass wir Samstags zu Jungvolk und -mädels gingen, und ich habe stolz meinen Schaftführerwimpel geschwenkt. Schwer vorstellbar für die heutige Generation im Digitalzeitalter ist unsere Lebenswelt damals. Wir begannen vor Beginn des Schulunterrichts am Morgen schon auf dem Schulhof mit dem gemeinsamen Horst-Wessel-Lied und in der ganzen Umwelt war man täglich mit dieser Propaganda konfrontiert. Auch nach unserer Verhaftung hat meine Mutter geschwiegen, um uns völlig unwissend für eventuelle Verhöre zu lassen.
Nachdem Christa einige Tage da war, und ich den Eindruck hatte, dass sie dafür einen ähnlichen Grund wie ich hatte, erzählte ich ihr etwas verschämt, dass meine Mutter im Gefängnis säße. Sie bestätigte dies von ihrer Mutter, aber sie wusste, dass das Attentat auf Hitler die Ursache sei. Da Stauffenberg ein direkter Vetter ihres Vaters war und sein Name schon am Abend vom 20. Juli genannt worden war, hatte die Mutter die Kinder darauf vorbereitet, dass sie deshalb unter Umständen mal Besuch von der Gestapo bekommen könnten. So war es nicht schwer, sich auch eine Beteiligung unserer Väter am Attentat vorstellen zu können.
Einige Tage nach Christa kam noch Marlies Lindemann zu uns und Ende September Ingrid von Seydlitz. Unsere kleine Schar verbrachte irgendwie die eintönigen Tage, – häufig mit Gesellschaftsspielen, Basteleien, Spaziergängen auf dem Gelände – immer im Abstand zu den Anderen. Oder Einbestellungen bei Frau Köhler zu dem dringenden Appell, dass ein wahrhaft deutsches Mädel niemals so etwas Unehrenhaftes wie eine Flucht planen dürfte.
Längst hatten sich unter den Kindern trotz des strengen Verbotes alle ursprünglichen Namen herumgesprochen und Verwandtschaften wurden festgestellt. Am 4. Oktober teilte mir Frau Köhler überraschend mit, meine Schwester und ich würden nach Hause gebracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Politik der Sippenhaft geändert, die vorher auf die absolute Vergeltung an Tätern und ihren Familien ausgerichtet gewesen war. Es kamen keine neuen Kinder mehr an, – wir waren inzwischen 46, – und nach und nach wurde eine erkleckliche Zahl entlassen. Unendlich viel schwerer hatte es da der letzte Kern von Kindern, 14 an der Zahl, darunter auch meine Christa, die bis zum Kriegsende auf ihre Heimkehr warten mussten. Schwere Fliegerangriffe hatten verhindert, dass sie nicht zum Schluss auch noch in das KZ Buchenwald gebracht wurden.
Am 6. Oktober wurden meine Schwester und ich tatsächlich abgeholt. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir belogen wurden und nicht nach Hause kommen. Als wir tatsächlich über die Glienicker Brücke in Potsdam fuhren – unsere Wohnung lag nicht weit davon – regte sich eine winzige Hoffnung, es könne doch wahr sein. Unsere Mutter war da, schon zwei Tage vorher aus dem Gefängnis entlassen. Die Wohnung war beschlagnahmt, wir durften nicht mehr nach Hause. In zwei Zimmern konnte Margarethe von Hardenberg, nach kurzer Haft entlassen, mit ihrer alten Mutter bleiben, weil ihre Berliner Wohnung zerbombt war. So gingen wir Drei nach Wartenberg zurück. Dort fanden wir das Grab meines Vaters leer. Strafgefangene aus Sachsenhausen hatten es aufbrechen müssen und den Sarg nach Sachsenhausen gebracht.
Von uns sechs Familienmitgliedern waren wir wenigstens zu Dritt wieder zusammen. Aber die Jahre, die jetzt folgten, waren weiterhin hart. Es waren Millionen von Menschen, die teilweise sehr viel Schlimmeres erlebten in diesen erbarmungslosen Jahren, aber sein individuelles Schicksal erlebt natürlich jeder für sich selbst. In meiner Erinnerung schließt sich die folgende Zeit nahtlos an Sachsa an. Deshalb werde ich kurz von ihr erzählen.
In Wartenberg hatte der Hausherr, der Bruder meines Vaters, einen schweren Jagdunfall, was nach traurigen Wochen Ende Januar zu seinem Tod führte. Wir Drei verließen nach der Beerdigung in einem offenen Kutschwagen bei minus 20 Grad und dickem Schnee das Haus. 48 Stunden später zündeten die Russen das Schloss an und erschossen die Witwe und den Sohn. Wir passierten in Schwedt noch die Oder, an jedem Brückenpfeiler montierten gerade Soldaten die Sprengladungen. Wir nahmen Zuflucht in der Uckermark, wo die Schwester meines Vaters mit ihrer Familie auf einem Gut lebte. Sie hatten einen fertigen Treck vorbereitet, bekamen keine Treckerlaubnis und kamen auch alle später bei den Russen zu Tode. Wir Drei, inzwischen nur noch mit kleinstem Gepäck, schlossen uns einem Treck von Verwandten aus Westpreußen an. Wir landeten am Ostersamstag mit ihnen auf einem kleinen Gut an der Aller in Niedersachsen an geschlossenen Panzersperren. Ebenso geschlossen war der rüde Widerstand unserer Wirtsleute gegen die unerwünschten Flüchtlinge. Ich habe oft bei gleichen Erfahrungen in unserer jetzigen Zeit an damals denken müssen. Wir erlebten dort in einem selbstgeschaufelten Unterstand im Garten den englischen Geschosshagel auf das Haus, in dem nur noch alte Männer und Buben mit Panzerfäusten das Vaterland verteidigten.
Nach Kriegsende gab es helfende Hände, die uns in einen Ort bei Bremen brachten, wo wir viele Jahre blieben. Dort bekam meine Mutter eine Arbeit im Kindergarten. Wir haben, wie hunderttausende Andere auch, um die tägliche Existenz gekämpft, haben unglaublich gefroren und unglaublich gehungert. Mein älterer Bruder blieb vermisst in Russland, der jüngere stieß nach kurzer Gefangenschaft zu uns, wie auch der älteste Vetter aus Wartenberg, der als Einziger als Soldat überlebt hatte. Der Bruder Gerd meines Vaters kam auch im Gestapo-Gefängnis um. So waren am Ende von der Familie nur noch Gerds Witwe und ihre Kinder und wir Vier und der eine Vetter am Leben.
Was bewirken solche prägenden Erfahrungen im Leben? Nun ich denke, wir waren nach Sachsa keine unbeschwerten Kinder mehr, aber ich denke doch reicher an positiven Kräften für das folgende eigene Leben. Persönliche Erfahrungen in einer allgemein katastrophalen Situation sind jedenfalls immer Anstoß, darüber nachzudenken, was man aus ihnen lernen kann und sollte. Da drängt sich natürlich das Bewusstsein dafür auf, dass es nie wieder eine politische Konstellation bei uns geben darf wie ein jeden Rechtsstaat, sittliche Werte und Menschen verachtendes totalitäres Regime. Es darf sich einfach nie, nie mehr wiederholen. In so vielen Teilen der Welt können wir wieder wachsende Tendenzen gefährlicher Ideologien und grausame Handlungen totalitärer Mächte erleben. Die Bilder der randalierenden schwarzen Blöcke bei uns in Hamburg, waren akkurat die gleichen von damals, als die SS die jüdischen Geschäfte stürmte. Sie haben mich unglaublich erschreckt.
Ich wünschte, dass wir, die ihre Erfahrungen mit den Möglichkeiten und Auswirkungen ideologischen und totalitären Wahnsinns gemacht haben, den nachrückenden Generationen, die nur mit Frieden und Freiheit aufgewachsen sind, glaubhaft machen könnten, dass sie verantwortlich dafür sind, dieses unglaublich kostbare Gut zu verteidigen und zu bewahren .