Freiheit

Romano Guardini

Freiheit

Ansprache von Prof. Dr. Dr. h.c. Romano Guardini am 19. Juli 1960 im Alten Rathaussaal, München

Meine Damen und Herren!

Wir sind hier versammelt, um der Männer und Frauen zu gedenken, die vor sechzehn Jahren für Volk und Land so hartes Schicksal erlitten haben. Die Ehre, die ihnen gebührt, wollen wir ihnen so erweisen, dass wir den hohen Wert bedenken, um den es ihnen ging: die Freiheit.

Wenn wir das Wort aussprechen, nennen wir ein Grundrecht des mündig gewordenen Menschen. Doch wollen wir uns den Ausdruck jener großen Gefühle versagen, die dem Erlebnis der Freiheit entspringen können; vielmehr über sie in nüchterner Erwägung der Weise sprechen, wie Menschenleben geartet ist, wie es gedeiht oder Schaden leidet.

Das wird von selbst zu einer energischen Selbstprüfung führen. Sie wird uns zu Bewusstsein bringen, dass die Freiheit in der Schätzung der heutigen Generation nicht sehr hoch steht. Die Totalisten nennen sie ein "bürgerliches Vorurteil"; einen Vorwand, um jener großen Hingabe auszuweichen, die allein das Volk zur höchsten Leistung zusammenschweißen könne. Bei denen aber, die sich zu ihr bekennen, überkommt einen oft die beunruhigende Frage, ob sie die Freiheit vom Kern ihrer Persönlichkeit her wollen . . ob der heutige Mensch wirklich wisse, was Freiheit ist . . ob das Wort, das eines der lebendigsten und stärksten unserer Sprache sein sollte, nicht in Wahrheit zerfalle.

Ich glaube, den Männern und Frauen, die damals so Hartes gedacht und gewagt haben, würde eine solche Prüfung besser zusagen, als Begeisterungen und Gelöbnisse, denn sie führt an die Wirklichkeit heran – den, der die Wirklichkeit will.

Was bedeutet es also, frei zu sein? Wann bin ich frei?

Dann, wenn ich in meinem Lande gehen kann, wohin ich will; tun, was ich für richtig halte; mein Leben gestalten, wie es mir entspricht. Wenn ich sein kann, wie ich bin, und niemand mich daran hindern darf, weder ein Vorgesetzter noch eine soziale Gruppe, weder ein Einzelner noch der Staat – deshalb, weil ich kein bloßes biologisches Individuum, sondern Person bin, die in Verantwortung und Würde sich selbst besitzt.

Sofort meldet sich ein Einspruch: Das gilt nicht einfachhin! Du kannst nicht tun, was dir beliebt, wenn dadurch Andere zu Schaden kommen; kannst nicht dein Leben nach deiner Weise einrichten, wenn sie die allgemeine Ordnung stört. Also müssen wir genauer sprechen: ich bin frei, wenn ich ungehindert tun kann, was zu meinem Menschenwesen gehört, soweit ich damit nicht das gleiche Recht des Anderen verletze. Dabei werden im Einzelfall Fragen und Schwierigkeiten genug entstehen; im Grunde ist der Gedanke klar. Auf seiner immer reineren Verwirklichung beruht unsere ganze abendländische Existenz, die Größe und Wertfülle unserer mehr als dreitausendjährigen Geschichte. Man könnte diese Geschichte von dem Verhältnis her darstellen, das der abendländische Mensch zur Freiheit gewonnen hat.

Die Freiheit verwirklicht sich nicht von selbst, sondern muss gewollt werden. Sie ist grundgelegt in der natürlichen Veranlagung, gereift durch die Geschichte, gewährleistet durch die Ordnung der Gemeinschaft – ist aber auch jedes Einzelnen Aufgabe und Werk. Es gibt keine passive Freiheit. Nicht im Sinn des persönlichen Seins, denn sie ist Ausdruck des Geistes, und der beweist sich durch den lebendigen Akt – aber auch nicht im Sinne äußerer Ordnung, denn auch die freieste Verfassung, die nicht gelebt und geleistet wird, zerfällt.

Aber wir wollen die allgemeinen Erwägungen lassen und sehen, dass wir an die Wirklichkeit herankommen, an die Stellen, wo Freiheit real wird. Denn – lassen Sie mich noch einmal daran erinnern – es besteht dringender Anlass zum Zweifel, ob der heutige Mensch denn wirklich frei sein wolle. Ob er unter der Freiheit mehr verstehe, als die Möglichkeit, ungehindert seinen Geschäften nachzugehen und sein Vergnügen zu haben. So müssen wir die Frage nach ihr schon so stellen, dass wir damit vor dem harten Ernst der Männer und Frauen vom 20. Juli 1944 bestehen können.

Wie ist das also: wie geht das zu, wenn ein Mensch, ein mündiger Mann, eine mündige Frau frei sein wollen?

Vor allem so, dass dieser Mensch das Recht auf seine Überzeugung fordert. Will sagen, die Möglichkeit, über den Sinn des Daseins so zu denken, wie es ihm richtig scheint. Leben und Sterben, Arbeit und Eigentum, Familie und Staat, und wie die großen Fragen des Daseins immer lauten mögen, so zu beurteilen, wie sein Wahrheitsgewissen es verlangt. Die Möglichkeit, die eigene Meinung sagen und nach ihr leben zu können, innerhalb der Grenzen, die das gleiche Recht der Anderen aufrichtet. Mehr noch: Freiheit ist dann da, wenn nicht nur der Einzelne die Möglichkeit hat, so zu tun, sondern wenn die Haltung der Allgemeinheit dieses Tun für richtig und schön ansieht und es von ihm erwartet.

Damit aber der Anspruch auf eigene Überzeugung erhoben; damit die Möglichkeit gefordert werden könne, nach ihr zu leben, muss eine solche Überzeugung da sein. Freiheit ist nicht das Recht auf Gedankenlosigkeit oder Beliebigkeit der Meinung, sondern sie ruht auf einem echten Verhältnis zur Wahrheit.

Verstehen Sie mich richtig. Ich rede nicht von einem bestimmten Überzeugungsinhalt, von dieser Weltansicht oder politischen Anschauung statt einer anderen, sondern davon, dass überhaupt jene Haltung da sei, die „Überzeugung“ heißt. Noch genauer gesagt: ein Bewusstsein da sei, dass es Wahrheit gibt; ein Wille, sie zu finden und ein Ernst, zum Erkannten zu stehen.

Es kann durchaus sein, einem wird zu irgend einer Zeit seiner geistigen Entwicklung das bisher für wahr Angesehene fraglich. Kann sein, einer glaubt das, was seine Eltern für wahr gehalten haben, ablehnen zu müssen. Ein Dritter weiß vielleicht überhaupt nicht, worin er den letzten Sinn des Daseins zu sehen habe und steht ratlos vor dessen Rätseln. Soll aber in glaubwürdiger Weise von Freiheit die Rede sein, dann müssen sie wenigstens wissen, worum es dabei geht, von der Frage gedrängt sein, was das Leben bedeute. Sie müssen sich darum mühen, und nicht darf ihnen jede Sache des privaten Alltags, oder jede Erregung der öffentlichen Meinung wesentlicher sein als das.

Erst dieser Ernst gibt der Freiheitsforderung das personale Gewicht, das aus ihr mehr macht, als den bloßen Anspruch, der Laune des Gedankens zu folgen, oder nachreden zu können, was der Kollege im Büro geredet hat. Ohne ihn wird sie leer. An die Stelle der Überzeugung mit ihrer Charakterkraft tritt der Zufall der Tagesmeinungen – bis die innere Haltlosigkeit so groß wird, dass die politische Gewalt, Parteidoktrin und Staatsvorschrift hineinstoßen kann und bestimmen: Das hast du zu denken! Dann ist der Mensch verknechtet, wenn es ihm auch noch so gut geht, und seine Leistungen in Wissenschaft und Technik noch so groß werden.

Fragen wir weiter und halten uns wieder nicht an allgemeine Begriffe, sondern an die Wirklichkeit: Wann bin ich frei? Dann, wenn ich den Beruf wählen kann, der mir zugehört. Beruf ist der Schnittpunkt des individuellen und des Gesamtdaseins; der Ort, auf dem der Einzelne im Zusammenhang des sozialen Ganzen steht, und wo das Ganze aus dem Werk des Einzelnen lebt. Diesen Ort muss ich selbst wählen können, nicht darf irgendeine Instanz sonst ihn mir zuweisen.

Schon das Wort „Beruf“ sagt, worum es geht. Es meint die Tätigkeit, zu der ich von meinem Wesen her gerufen bin – lassen wir auf sich beruhen, ob der Ruf noch von weiter her kommt. Natürlich gibt es darin Abstufungen der Deutlichkeit und Stärke. Wohl dem, der sagen darf: Hierzu weiß ich mich begabt; dazu drängt es mich; diese und keine andere soll meine Lebensaufgabe sein. Das Gerufensein kann sich abschwächen zur Einsicht: innerhalb der gegebenen Möglichkeiten entspricht das meinen Anlagen am besten. Bis zu dem vordergründigen, aber sehr realen Gesichtspunkt: auf diese Art kann ich am anständigsten meinen und meiner Familie Lebensunterhalt verdienen.

Freiheit heißt, dass ich nach solchen Maßstäben meine Tätigkeit wählen dürfe – soweit eben die gegebene Situation eine Wahl möglich macht. Es heißt darüber hinaus, dass der Staat tue, was an ihm liegt, um die Vorbildung zu fördern, die Möglichkeiten der Wahl zu erweitern und sie durch Nachweis und Beratung an die realen Verhältnisse heranzuführen.

Diese Forderungen haben aber nur dann einen Sinn, wenn ein Wille zum Beruf da ist, und nicht bloß der Drang, schnell Geld zu verdienen, bald Sicherheit zu gewinnen, möglichst wenig arbeiten zu müssen und möglichst viel Zeit für das eigene Belieben zu bekommen.

Mit anderen Worten: die Freiheit des Berufes und der Arbeit setzt den Ernst des Berufswillens voraus. Setzt voraus, dass der mündig gewordene Mensch wisse, er steht im Zusammenhang des sozialen Ganzen auf einem Posten, der für ihn, aber auch für Alle Bedeutung hat. Sie ist in dem Maße real, als der, der sie in Anspruch nimmt, die Verantwortung für die Sache und die Lust an der guten Leistung fühlt.

Im Maße diese Gesinnung nachlässt, wird der Mensch reif dafür, dass eine totalistische Staatsführung die Freiheit des Berufes aufhebe und ihm seine Arbeit zuweise. Erst stirbt die Freiheit des Werkes und Berufes von innen her; dann, wenn das geschehen ist, bekommt die äußere Knechtschaft Raum.

Manche von Ihnen, meine Damen und Herren, wenden vielleicht ein: „Du redest Moral.“ Lassen wir das Wort Moral beiseite, es klingt uns nicht gut; sagen wir also: Ethik. Dann lautet allerdings die Antwort: Gewiss, wovon geredet wird, ist das Ethos der Freiheit. Und nicht nur, weil es das Gewissen verpflichtet, sondern weil es die Freiheit erst möglich macht.

Näher heran an die Wirklichkeit: hier wird nach einer der Stellen gefragt, wo sittliches Wollen und lebendiges Gedeihen eins werden; wo das Sinken der Verantwortung die Wurzeln des Lebens angreift.

Eine andere Stelle also solcher Art: Freiheit bedeutet, dass der mündig gewordene Mensch seine Familie nach der Stimme seines Herzens und dem Urteil seines Gewissens aufbauen könne. Wir brauchen nur an die zwölf Jahre der Gewalt zurückzudenken, um zu sehen, wie furchtbar dieses Grundrecht gebrochen werden kann.

Der Mann muss die Frau wählen können, die ihm teuer geworden ist, die Frau den Mann, den sie liebt und achtet; und weder Rassengesetze noch wirtschaftliche Maßnahmen dürfen ihnen hineinreden. Ihre Kinder müssen zuerst ihnen gehören und dann erst dem Staat. Über ihre Erziehung müssen zuerst die Eltern entscheiden, dann erst, und im Einvernehmen mit ihnen, die öffentlichen Instanzen. Ihr Haus muss als die Sphäre ihres privaten Lebens ihnen vorbehalten sein, so lange keine Gefahr für die allgemeine Ordnung die Behörden veranlasst, in sie einzudringen.

Mit einem Wort: Freiheit bedeutet, dass der mündige Mensch die Möglichkeit habe, jene Grundzelle aller menschlichen Gemeinschaft, die Familie heißt, nach seinem Gewissen zu begründen; jene Elementarform aller Kultur, die Hausgemeinschaft heißt, so zu entwickeln, wie er es für richtig hält – ohne Angst, dass ihm das, was er zu Hause baut, von draußen her, sei es vom Staat, sei's von der Partei, oder von wem immer zerstört werde.

Wieder aber wollen wir uns darüber klar sein, dass die Forderung nur dann einen Kern der Wirklichkeit in sich hat, wenn hinter ihr mehr steht als nur ein erotisches Abenteuer oder eine juristische Ordnung, nämlich eine Entscheidung von Person zu Person, die Treue begründet und Lebensgemeinschaft hervorbringt. Wenn die Eltern wissen, dass es sich in jedem Kind um ein menschliches Schicksal handelt, das ihnen anvertraut ist, und bemüht sind, ihm jene Formung des Gewissens, jene Prägung des Lebensgehaltes zu geben, aus denen heraus es nachher sein Dasein aufbauen kann. Das alles muss wirklich gewollt sein, unter Zucht und Entsagung. Geschieht das nicht, wird die Familie zu jenem losen Gebilde, das sie weithin ist - was soll dann das Recht auf ihre Freiheit noch heißen? Die Möglichkeit, dass jeder tue, was ihm passt?

Dann bildet sich ein Zustand, der den Eingriff der öffentlichen Hand geradezu herausfordert. Immer wieder wird vom drohenden Totalismus geredet, aber, meine Damen und Herren, kein Vorgang vollzieht sich nur von einer Seite her. Die totalistische Vergewaltigung der Ehe wird erst möglich, wenn der lebendige Träger der Freiheit, der mündige Mensch, seit langem den Willen zu ihrer Treuegemeinschaft, zur Verbundenheit der Familie, zur lebendigen Gestalt des Hauses verloren hat.

Es hat keinen Sinn, Freiheit „von“ zu fordern, wenn vorher nicht die Freiheit „zu“, nämlich zu den großen Werten der personalen Existenz gesehen und gewollt ist. Es hat keinen Sinn, die Freiheit der Liebeswahl und die Unantastbarkeit des Hauses zu verlangen, wenn nicht Mann wie Frau vorher von der Verantwortung für diese Wahl und die Treue zur Gemeinschaft von Ehe und Haus wissen und zu ihr bereit sind.

Jedes Recht ruht auf einem Wert, der es begründet und den es schützt. Wenn dieser Wert – im Falle unserer Überlegungen die Freiheit zur Überzeugung, zum Beruf, zur Familie – nicht mehr empfunden und gewollt wird, dann verliert es seine Glaubwürdigkeit. Rechte, die im personalen Wesen des Menschen gründen und daher ebenso viel Pflichten wie Ansprüche bedeuten, bleiben natürlich bestehen, auch wenn der von ihnen geschützte Wert vom Einzelnen nicht mehr erlebt wird. Das Recht auf Freiheit ist ein solches. Der Einzelne darf es nicht nur, sondern soll es geltend machen, und nicht weil er große Begabungen hat, oder gesellschaftlich hoch steht, oder von aktivem Temperament, sondern weil er Mensch ist. Dieses Recht erlischt nicht, wenn er gegen die Inhalte der Freiheit gleichgültig wird. Es bleibt ihm als Pflicht auferlegt und gibt Zeugnis gegen ihn. Sein Anspruch verliert aber die Würde personalen Selbstverständnisses wie die Stoßkraft menschlicher Selbstbehauptung, sobald hinter ihm nicht mehr der Ernst der Existenz steht.

Wer von Werten redet, die in ihm nicht mehr lebendig sind, bringt auch das zum Zerfall, was er noch an Erfahrungsresten von ihnen hat. So ist Vorsicht geboten, wenn man von der Freiheit sprechen will.

Es gibt eine Weise, es zu tun, die sie direkt zerstört, indem sie ihren Sinn verfälscht; so zum Beispiel, wenn der totalistische Machtwille sie in ihr Gegenteil umlügt. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass der Mensch für diese Lüge anfällig wird, sobald er den Ernst des Freiheitswillens verkommen lässt. Dann wirft er sich der Diktatur in die Arme, die ihm die Verantwortung abnimmt.

Es gibt aber auch eine andere Weise, falsch von der Freiheit zu reden, nämlich jene, die es mit idealistischen Phrasen tut, zu dekorativen Zwecken, oder politischer Propaganda. Auch sie zerstört, weil nichts mehr hinter ihr steht. Die Worte haben Sinn und Ernst verloren und können dann in jede Trugform umgefälscht werden. Wer die Freiheit nicht mit Ernst will, soll von ihr schweigen. Es ist der letzte Dienst, den er ihr tun kann.

Lassen Sie uns einen Schritt weitergehen: Wie ist das mit jener Freiheit, welche die Universität – Forschende, Lehrende und Hörende – in Anspruch nimmt, der akademischen? Was bedeutet sie eigentlich?

Ihre verfassungsmäßigen Formen ebenso wie ihre äußere Erscheinung haben im Lauf der Jahrhunderte gewechselt, ihre Wurzeln aber sind die gleichen geblieben: sie liegen im Recht und in der Pflicht, wissenschaftlich, das heißt, mit der Strenge der jeweils hergehörigen Methode nach der Wahrheit zu forschen. Recht wie Pflicht ruhen auf einer Ordnung der Werte, an deren Spitze eben die Wahrheit steht – die Wahrheit um ihrer selbst, wie auch um der Bedeutung willen, welche sie für das menschliche Leben und Werk hat.

So meint Freiheit, nach dieser Wahrheit forschen zu können – und was für ein Krüppelding entsteht, wo das nicht mehr möglich ist, haben die zwölf braunen Jahre gezeigt.

Sie bedeutet weiter, diese Wahrheit sagen zu können; rein von der Sache her, ohne Besorgnis, aber zugleich unter ihrem strengen Diktat. Wie wunderbar das ist, haben wir in den ersten Semestern nach Kriegsende erfahren. Ich weiß noch gut, wie in Tübingen Professoren gegenseitig ihre Vorlesungen besuchten, um zu spüren, wie sich das anhörte, wenn nur von der Sache her gesprochen würde.

So viel für Forschung und Lehre; Entsprechendes gilt für den Lernenden. Von ihm aus gesehen, heißt akademische Freiheit, dass für den Besuch der Universität keine anderen Bedingungen gestellt werden, als solche, die in der Sache selbst liegen. Dass er in dem Fach arbeiten kann, das er wählt; den Lehrer hören, dem er vertraut; in die Haltung, welche durch die Wahrheitssuche bestimmt ist, hineinwachsen, ohne unter äußere Zwecke gezwungen zu werden.

Aus alledem entsteht eine Atmosphäre, die nur unter diesem Vorrang der wissenschaftlichen Wahrheit möglich ist; sehr frei von außen, dafür umso strenger gebunden von innen her.

Diese Atmosphäre geht verloren, wenn ein totalistischer Staat der Forschung ihrer Gegenstände oder gar ihre Ergebnisse vorschreibt; wenn er den Studierenden das Fach zuweist und die Arbeit überwacht; wenn er ihnen durch politische, militärische, wirtschaftliche Beanspruchung Zeit und Kraft wegnimmt. Das liegt auf der Hand; sie geht aber auch dann verloren, wenn zwar äußerlich Entschluss- und Bewegungsmöglichkeit bleiben, aber der geistige Kern sich verflüchtigt. Die Universität, die in ihr sich verwirklichende Lebensform ruhen auf der Gesinnung des Forschens und Erkennens, Lehrens und Lernens. Sobald die Wertfülle und die Verpflichtungskraft der reinen Wahrheit nicht mehr erfahren wird, wandelt sich das Ganze in eine Berufsschulung, die Berechtigungen gibt - sicher wichtig, aber unter jenem Rang stehend, den es einst hatte.

Wir begegnen wieder dem gleichen Grundverhältnis: auch hier lebt die Freiheit aus der Werterfahrung, die sie trägt; aus der Strenge der Verpflichtung durch diesen Wert und dem Ernst, der zu ihr steht.

Die Formen, wie diese Erfahrung psychologisch zustande kommt, können verschieden sein. Vor den Erschütterungen, die die Welt ins Wanken gebracht haben, war alles leichter und selbstverständlicher. Die wirtschaftliche Lage hatte eine ruhige Sicherheit; die heute alles erschwerende Wirkung der großen Zahlen war noch nicht fühlbar. Auch bedeutet es wohl keine falsche Rühmung, wenn man Sagt, im Bewusstsein der alten Universität sei die Arbeit doch stärker vom Willen zur Erkenntnis, als vom Blick auf das berufliche Vorankommen bestimmt gewesen. Heute geht eine tiefe Veränderung vor sich, wirtschaftlich, sozial, geistesgeschichtlich, und sie ist nicht aufzuhalten. Wenn aber der Ernst, nein, die Leidenschaft des Erkenntniswillens nicht wieder die Führung gewinnt, wird die akademische Freiheit sinnlos, und an ihre Stelle treten Reglement und Bevormundung. Denn wozu eigene Wahl und spontane geistige Bewegung, wenn das letztlich Maßgebende der Nutzen ist? Der wird am besten durch möglichst durchgreifende Planung gewährleistet.

Wenn von Freiheit gesprochen wird, denkt man in der Regel an die politische, und zwar, in unserer geschichtlichen Situation, an ihre demokratische Form.

Was ist aber „Demokratie“ in ihrem Wesen – die echte, nicht die der Propaganda?

Sie ist die anspruchsvollste und ebendamit gefährdetste aller politischen Ordnungsformen, nämlich jene, die beständig aus dem freien Kräftespiel gleichberechtigter Personen erwächst. Die Aufgabe, sie zu schaffen, ist erschreckend groß, weil es nicht viele gibt, die ihr Wesen wirklich in den Blick bekommen.

Demokratie ist nicht ein Zustand, in dem jede Meinung sich aufspielen und jedes Interesse sich als Staatsangelegenheit betrachten können. Sie bedeutet zuerst und vor allem, dass der Einzelne sich für das Schicksal des Staates verantwortlich wisse. Dass er wisse, er kann diese Verantwortung nicht abgeben, sondern soll sie beständig üben - ja er übt sie, immerfort, ob er will oder nicht, durch die Weise, wie er sich verhält, zum Guten oder zum Schlimmen. Handlicher gesagt: der Staat ist das, wozu der Einzelne, jeweils jeder Einzelne ihn macht. Daraus kommt ein großer Ernst, denn er weiß ja auch - sollte es wenigstens wissen - was er vermag und wo er versagt. Auf diesem Ernst ruht die demokratische Freiheit.

Wir haben gesehen, sie ist jene politische Ordnung, die aus der Verantwortung der Einzelnen erwächst – nun müssen wir die Bestimmung fortführen: der Einzelnen, die zueinander im Verhältnis wechselseitiger Achtung stehen. Mehr: deren jeder sich auf den Anderen verlassen kann, weil er weiß, dass alle das Wohl des Ganzen wollen. Es wirklich wollen; nicht nur sagen, sie täten es. Soviel ist Demokratie real, als diese Haltung wirksam ist.

Manche der heute Lebenden kommen noch aus der Zeit des Individualismus. Sie haben noch jenes Grundgefühl erlebt, in dem der Einzelne sich als Maß der Existenz wusste – denken wir nur an die gewalttätige Formel Max Stirners, für den die eigentliche Wirklichkeit „der Einzige und sein Eigentum“ war (1845). so hat es für sie etwas Entscheidendes bedeutet, als sie erkannten: Ich bin nicht allein da; der Andere ist es auch. Und er ist es mit dem gleichen Recht wie ich, so dass die politische Existenz auf meinem Einvernehmen mit ihm ruht. Nicht auf dem Einvernehmen gleicher Meinung, denn wir können verschiedene Ansichten haben; aber auf dem des gleichen Grundanliegens: der Ehre und dem Wohl des Ganzen. Auch ist es nicht nur dieser mir nahestehende Einzelne, sondern die Vielen; die unzähligen Gruppen, Schichten, Richtungen; noch einmal mehr, das Ganze: Volk, Land und Kultur in seiner Mannigfaltigkeit und Einheit zugleich. So ruht Demokratie auf einem Bewusstsein, das sich in dieses Ganze hinausbreitet, nicht um über es zu herrschen, oder von ihm beherrscht zu werden – das ist die Lügenform der Demokratie, des Totalismus – sondern um es zu durchfühlen, sein Leben zu spüren und seine Ordnung von Mal zu Mal, von Begegnung zu Begegnung, als beständige Resultante aus den vielen Einzelkräften heraus aufzubauen.

Von der Demokratie wird oft geredet, als sei sie ein leichtes Handwerk, eine Sache der Mehrheitsrechnung. In Wahrheit ist demokratische Existenz schwer, denn sie ist nie gesichert. Ihr fehlt da, was die konservativen Staatsformen trug: die Verwurzelung in geheiligten Traditionen; in Haltungen, die aus der Tiefe des Unbewussten heraufwuchsen. Demokratie ist Gleichgewicht, aber immerfort werdendes; so verlangt sie Wachsamkeit, Selbstlosigkeit und Zucht.

Aus alledem erwächst die Freiheit. Ohne das ist sie Unordnung, die nur durch Taktik und Polizei gehindert wird, als Chaos durchzubrechen oder in Diktatur umzuschlagen.

Über die Freiheit wäre noch viel zu sagen, denn sie bildet ja eine Haltung des ganzen Menschen und bezieht sich auf alles, was sein Dasein ausmacht. Wir müssen uns aber beschränken; so soll nur noch von einer Form des Freiheitsanspruchs die Rede sein, hinsichtlich deren eine große Verwirrung der Ansichten und eine nachgerade gefährliche Verwilderung der Praxis herrscht, nämlich von der Freiheit der Information.

Sie hängt eng mit dem Ethos der Demokratie, näherhin mit dem für die letztere wesentlichen Faktor der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung zusammen. Wenn die demokratische Staatsform auf der Verantwortung und Mitwirkung jedes Einzelnen ruht, dann muss dieser sich über das unterrichten können, was im allgemeinen sozialen, politischen, kulturellen Leben vor sich geht, auch seinerseits in der Lage sein, die Informationen zu geben, die er für nötig hält. Sobald diese Möglichkeit eingeschränkt wird, fühlt der seiner Verantwortung bewusste Einzelne sich in seiner Freiheit bedroht.

Nun besteht aber eine Wechselbeziehung zwischen der öffentlichen Sphäre mit ihren Ansprüchen auf der einen und der privaten mit den ihrigen auf der anderen Seite. Der Anspruch der ersteren, durchgesetzt durch ein weit verzweigtes System der Beobachtung und Benachrichtigung, wächst beständig. Das Gefühl bildet sich, die Öffentlichkeit habe das Recht, alles zu erfahren, und dürfe daher in jeden, auch den empfindlichsten, bisher durch Ehrfurcht, Takt, Scham geschützten Bereich eindringen. Ja aus dem Anspruch auf Information wird ein immer unverblümterer Anspruch auf Sensation: je privater der Vorgang, desto zudringender der Wunsch, von ihm zu erfahren.

Auf diesem Wege überschreitet die Öffentlichkeit nicht nur ihre Grenzen, sondern sie entartet in ihr selbst. Öffentlichkeit und Privatsphäre sind keine Bereiche, die voneinander unabhängig wären. Die Öffentlichkeit ist ein Begegnungsfeld von Menschen, deren jeder auch in einer Privatsphäre lebt. Sobald letztere Schaden leidet, steigert das durchaus nicht die Fähigkeit jenes Feldes, seine Funktion zu erfüllen. Aus der echten Öffentlichkeit wird vielmehr etwas Chaotisches, das allen Impulsen der Brutalität und Demagogie zugänglich ist. Die Öffentlichkeit als unentbehrliches Element demokratischer Existenz bedarf der Privatsphäre, nicht nur um anständig, sondern auch um in ihrem eigentlichen Sinn aktionsfähig zu sein - ebenso wie umgekehrt die moderne Privatsphäre keine individualistische Abkapselung sein darf, sondern in Fühlung mit der Öffentlichkeit stehen muss. Die Freiheitsbedeutung der Öffentlichkeit ruht auf der Selbständigkeit des Urteils und Sicherheit der Entscheidung, mit welcher sie Stellung nimmt; die aber wachsen aus dem Boden einer unabhängigen und respektierten Privatsphäre.

Die neuen Informationsmöglichkeiten haben weithin ihr Ethos noch nicht gefunden, laufen vielmehr wild und schaden dem Organismus der demokratischen Gesellschaft. Sie müssen ein Gefühl dafür entwickeln, wann eine Information nicht nur richtig, sondern sinngemäß und anständig ist. Ein Gefühl also für den Gegenbereich zur Öffentlichkeit; ihn zu achten zerstört nicht die Freiheit der Information, sondern zieht ihr die gesundhaltenden Grenzen.

Die Öffentlichkeit hat ein Recht, von geschehenen Verbrechen zu erfahren, damit sie daraus ein Urteil über den allgemeinen sittlichen Stand gewinnen könne. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn die Information in einer Breite und Weise vor sich geht, dass der Bericht als Anreiz zum Kriminellen wirkt. Dass der Bildreporter die Geschehnisse des Tages zur Anschauung bringt, ist richtig; wenn er aber bei der Wiedergabe eines Unglücks eine Frau fotografiert, die über den Tod ihres Mannes klagt, dann überschreiten sowohl der Fotograf wie der Betrachter des Bildes die Grenzen des Gehörigen. Gewiss dürfen religiöse Ereignisse wiedergegeben werden; es ist aber taktlos, ja unfromm, wenn betende Menschen so fotografiert werden, dass man ihnen ins Innere schauen kann. Nicht zu sprechen von jenen – immer zahlreicher werdenden – Reportagen, denen es überhaupt nicht um echte Anliegen der Allgemeinheit, sondern ganz einfach um sexuelle Sensation zu tun ist.

Wenn der Anspruch auf Freiheit der Information sich weiter so entwickelt, wie er es tut, wird er unglaubwürdig. Die Art des Protests, der sich erhebt, sobald jemand sich gegen die Verwilderung wehrt, zeigt, welcherlei Motive im Spiel sind.

Während meiner Darlegungen hatten Sie, meine Damen und Herren, vielleicht das Gefühl, sie seien „akademisch“; beschäftigten sich in einer Zeit, in welcher doch die aktuellsten Dinge drängten, mit unnützen theoretischen Unterscheidungen. Das wäre aber ein Missverständnis. Vielmehr war von Dingen die Rede, die gesehen und gewollt sein müssen, wenn die Aktualitäten, sie mögen heißen, wie sie wollen, nicht an der Mitte der Sache vorbeigehen sollen.

In welchen Formen auch das Problem der Freiheit erscheinen mag: als Freiheit der Überzeugung und ihrer sozialen Verwirklichung, Freiheit des Berufes und der Arbeit, der Familie, des Hauses und der Privatsphäre, der persönlichen Existenz des Menschen in der Demokratie und der öffentlichen Meinung - alles das hat einen ernsthaften Sinn nur von seinen Grundlagen her. Der Wille zur Freiheit, die Kraft, sie zu erringen und zu behaupten, haben natürlich vielerlei Wurzeln: natürlichen Unabhängigkeitssinn, Mut, soziale Vorzugsstellung, geschichtliche Tradition und was immer. Diese Momente sind aber nicht entscheidend, jedenfalls nicht auf die Dauer. Aus ihnen geht lediglich etwas Psychologisches hervor, das immer relativ bleibt. Die eigentliche Freiheitshaltung ruht auf etwas Unbedingtem und ist ebenso viel Pflicht wie Recht. Davon haben unsere Überlegungen zu sprechen versucht.

Ich glaube, hätten jene Männer und Frauen, deren Gedächtnis wir begehen, hier zugehört, sie würden zugestimmt haben. Denn die Gesinnung, aus der ihr Handeln kam, war nicht die von Revolutionsmachern und Verfassungsstürzern, sondern der Ernst von Menschen, die in schweren Stunden Fühlung mit den Wurzeln des Daseins gewonnen hatten.







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