Gedenkrede

Marianne Meyer-Krahmer

Gedenkrede von Frau Dr. Marianne Meyer-Krahmer, geb. Goerdeler, am 20. Juli 1988 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr geehrter Herr Minister,

sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,

liebe, verehrte Angehörige!

Die erste Nachricht vom Fehlschlag des Attentats kam in der Nacht vom 20. zum 21. Juli 1944 durch den Rundfunk. Am Vormittag des 21. Juli wurden Extrablätter verkauft. Sie priesen die Bewahrung des „Führers“ vor dem Anschlag einer „kleinen Clique von Ehrgeizlingen“.

Nie werde ich das Entsetzen vergessen, als ich auf dem Blatt den Namen Stauffenbergs las. Der strahlende Sommertag wurde dunkel. Ich wusste, ich würde auch meinen Vater nie wiedersehen.

Die Älteren der hier Anwesenden werden den Schrecken dieses Tages – wie ich – noch fühlen. Wir waren uns darüber klar: Es war nicht „eine kleine Clique“, die hinter dem Versuch stand, dem Regime endlich ein Ende zu machen. Wohl, es waren nicht viele, aber es gab ein mit Wagemut, Überlegungen und mit Bedacht geknüpftes Netz von Verbindungen zwischen Hitler-Gegnern. Sie waren unterschiedlicher sozialer Herkunft und hatten divergierende politische Ansichten im Einzelnen. Mit ihrem Lebensalter umspannten sie zwei Generationen. Aber es war alles andere als eine Clique, die sich nur für sich selbst interessierte. Sie waren durch das gemeinsame Ziel verbunden, den Verbrechen und dem Krieg ein Ende zu setzen.

Sorgsame Vorbereitungen waren notwendig gewesen, für die Tat selbst, für die rasche Ausschaltung des nationalsozialistischen Machtapparates unmittelbar danach und für eine schnelle Beendigung des Krieges, dem alle Völker täglich Tausende von Menschen zu opfern gezwungen waren.

Das Netz der Verbindungen verknüpfte Militärs in maßgeblichen Positionen mit Zivilisten, ehemaligen Beamten, Führern der verbotenen Sozialdemokratischen Partei, des Zentrums und der Gewerkschaften verschiedener Richtungen, Kirchenmännern. Alle waren sie, wenn irgend möglich, mit anderen kleinen Gruppen verbunden – nicht durchorganisiert, nicht hierarchisch gegliedert und doch in geregeltem Kontakt. Wie hätte das unter den Argusaugen der Gestapo auch anders möglich sein sollen?

Und doch, wenn auch die Zahl der zur Tat Entschlossenen nicht sehr groß war, das Netz zog sich von Süddeutschland zum Saarland und zum Ruhrgebiet, Sachsen, Thüringen, Schlesien, bis nach Ostpreußen; nicht zu reden von den Verbindungen nach Paris und Wien und zur Heeresgruppe Mitte an der Ostfront.

Berlin war Mittelpunkt. Hier waren die Orte der heimlichen Treffen: in Lebers Kohlenhandlung, in der Wittelsbacher Straße bei Jakob Kaiser, in der Hortensienstrasse bei Yorck, im Arbeitszimmer von Hermann Kaiser, bei General Olbricht. Aber dies für den Umsturzplan so wichtige Verbindungsnetz sollte zum Fangnetz für alle werden, die ihr Leben riskierten, als sie bereit waren, sich an der Tat zu beteiligen.

Auch nach 1945 ist der Umsturzversuch des 20. Juli nicht selten als Tat einer kleinen Gruppe bezeichnet worden, die sich lediglich ein Alibi angesichts des voraussehbaren Sieges der Alliierten verschaffen wollte.

Nüchterne Tatsachen können diese Behauptungen widerlegen. Tatsachen, die wir vielleicht erst jetzt durch eine vollständigere Erschließung von zum Teil ausländischen Material übersehen können. Ich meine die nachweisbaren Vorgänge, die außergewöhnlichen Vorgänge des Jahres 1938. Es liegt nahe, sie gerade heute ins Bild zu rücken, da sie fast bis auf den Tag genau 50 Jahre zurückliegen.

Ziehen wir zunächst die Summe des Jahres 1938 aus dem Aspekt der damaligen Zeit: Hitler hatte dem deutschen Volk außenpolitische Erfolge in einem Ausmaß beschert, wie die Politiker der Weimarer Republik sie sich nicht hätten erträumen können: Remilitarisierung des Rheinlandes, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, Verträge mit Polen und England.

Im Frühjahr 1938 war die Eingliederung Österreichs ohne nennenswerte Reaktion des Auslandes gelungen. Und dies alles trotz des ostentativen Austritts aus dem Völkerbund!

1936 wurde die Olympiade zum großen Schaufest: allgemeine Anerkennung auch durch das Ausland.

Innenpolitisch glaubte Hitler alle bedeutenden Gegner ausgeschaltet zu haben, wenn sie es überhaupt gewagt hatten, im Lande zu bleiben. Nach oft jahrelanger KZ-Haft war ihnen, den ehemaligen Führern der Sozialdemokraten, des Zentrums, der Gewerkschaften, den Kommunisten, nur ein Leben unter strenger Beobachtung und in bescheidenen Verhältnissen möglich. Der Entzug der Pässe war eine Selbstverständlichkeit! So glaubte man sie unschädlich. Wer vermutete hinter der kleinen Kohlenhandlung Georg Lebers oder dem Betrieb Wilhelm Leuschners konspirative Tätigkeit?

Aber ausgerechnet auf der Höhe seiner Erfolge sollten dem Nazi-Regime die Gegner aus einem anderen „Lager“ entgegentreten: dem Militär, dem Auswärtigen Amt und Zivilisten – alle eher „konservativer“ Anschauung. Bald soll sich allerdings die Frage stellen, ob das Verhalten dieser Männer mit dem Attribut „konservativ“ noch zulänglich beschrieben ist.

Was ging vor?

Am 30. Mai des Jahres 1938 hatte Hitler der Wehrmacht als seinen „unabänderlichen Entschluß“ mitgeteilt, „die Tschechoslowakei ... durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“

Ludwig Beck, der Generalstabschef des deutschen Heeres, fürchtete für diesen Fall das bewaffnete Eingreifen von Frankreich und England. Hitlers Vorhaben würde „mit einer Katastrophe für Deutschland endigen“. Deshalb forderte er in einer Denkschrift die höchsten Führer der deutschen Wehrmacht zu nicht weniger als einer gemeinsamen Gehorsamsverweigerung auf, um Hitler zur Aufgabe seiner Kriegspläne zu zwingen.

„Ihr soldatischer Gehorsam“, so schreibt er am 16. Juli 1938, „hat dort eine Grenze, wo Ihr Wissen, Ihr Gewissen und Ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten“. „Letzte Entscheidungen stehen auf dem Spiel“. – Dabei geht es ihm, dem Militär, um mehr als die Abwendung eines Krieges, der nur verloren werden kann. Er will „ die Wiederherstellung geordneter Rechtszustände“ und erwartet die „unausbleibliche Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie“. Mindestens so ungewöhnlich in der deutschen Geschichte, ja westlicher Tradition überhaupt, wie die Mahnungen eines Generalstabschefs, dem Führer des Staates nicht mehr Gefolgschaft zu leisten, ist das Verhalten von drei Männern, die aus der alten „Machtelite“, wie man heute so gern im Soziologendeutsch sagt, stammen:

Am 18. August 1938 reist der pommersche Gutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin, ein früher Hitler-Gegner aus dem konservativen Lager, nach London. Einverständnis besteht zwischen ihm, Generaloberst Beck und dem Chef der Abwehr Canaris, die englische Regierung über Vansittart dringend zu einer demonstrativen Bekundung ihrer Abwehrbereitschaft zu raten. Dadurch hofft er, die deutschen Generale von der Notwendigkeit zu überzeugen, Hitler zu stürzen oder einem zurückweichenden Diktator eine politische Niederlage zu bereiten, die sein Regime erschüttern könnte.

Der zweite deutsche Zivilist wird von dem Ständigen Unterstaatssekretär im britischen Außenamt Cadogan in seinem Tagebuch mit dem Buchstaben X bezeichnet, um dessen Leben nicht zu gefährden. Wir wissen heute, es handelte sich um einen aktiven Angehörigen des diplomatischen Dienstes, den damaligen deutschen Geschäftsträger in London Theodor Kordt.

Er „stelle sein Gewissen über seine Loyalität“, erklärt Kordt am 6. September seinen britischen Gesprächspartnern. Er informiert sie ebenso wie Kleist über Hitlers Kriegsabsichten und dringt gleichfalls auf eine unmissverständliche öffentliche britische Warnung vor einem deutschen Gewaltakt – möglichst in einer Rundfunkbotschaft an das deutsche Volk. Sie soll die Führer des deutschen Heeres psychologisch in die Lage versetzen, Hitler an der Ausführung seiner Kriegspläne zu hindern und dabei das einem Krieg abgeneigte Volk vollends gegen Hitler stimulieren.

Der dritte Zivilist, der im Ausland mahnt, ist Carl Goerdeler, mein Vater. Schon Mitte des Jahres 1937 hatte er in England, Frankreich und den USA maßgebliche Politiker aufgesucht, um vor den weitreichenden Eroberungsabsichten Hitlers zu warnen und ebenso die Tatsache ins Bewusstsein zu rücken, dass sich in Deutschland ein Terror-System etabliert habe.

Am 1. Dezember 1937 hatte er in New York bei einem befreundeten Emigranten ein „Politisches Testament“ hinterlegt, das einmal von diesen Warnungen Zeugnis ablegen sollte. 1945 wurde es veröffentlicht.

„Man soll in der Welt mit jeder Gewalttat und mit jeder Schrecklichkeit menschlichen Geschicks rechnen. Denn dieser Weg wird um so schrecklicher sein, weil der Nationalsozialismus es meisterhaft verstanden hat, zeitweise 80% des deutschen Volkes, ja eine ganze Welt zu täuschen.“

Düsterer und grundsätzlicher hätte die Mahnung vor Hitler-Deutschland nicht ausfallen können. Dann, im Frühjahr 1938, bei einem erneuten Besuch in England, als das Ausland auf den Anschluss Österreichs kaum reagiert hatte, weist Goerdeler auf die nächste Gefahr hin:

„Ein Diktator muß stets neues Wildbret auf den Frühstückstisch bringen, wenn er bestehen und überleben will. Diesmal ist es Österreich, das nächste Mal wird es die Tschechoslowakei sein, und so weiter, und so weiter ...“ So gibt A. P. Young, der Verbindungsmann zu Vansittart, meines Vaters Worte wieder. Schließlich, im August und September 1938, beschwor er – wieder über den von Vansittart zu ihm gesandten Young – die britische Regierung, Hitler öffentlich in unmissverständlicher Form zu erklären, dass sie einem deutschen Gewaltakt gegen die Tschechoslowakei mit Gewalt begegnen würde. Wieder sollten die deutschen Generale von dem Ernst der Situation überzeugt und damit vor die Wahl gestellt werden, entweder Hitler zu gehorchen und den Untergang des Reiches heraufzubeschwören oder eine Umsturzaktion gegen den Diktator zu planen.

Nicht, dass die vier genannten Männer einer Erfüllung gerechtfertigter Wünsche der Sudetendeutschen widerstrebt hätten! Sie war ja auch verhältnismäßig bald gesichert.

Wohl aber wollten sie einen für Deutschland und die Welt verhängnisvollen Krieg verhindern und hofften – sozusagen mit englischer Nachhilfe –, diese Gelegenheit zum Sturz des Nazi-Regimes nutzen zu können.

Dass England damals auf keine so unsichere Chance wie einen Militärputsch gebaut hat, wird man ihm nicht zum Vorwurf machen können. Fraglich bleibt aber wohl, ob nach allen mit Hitler gemachten Erfahrungen der britische Premier dem deutschen Diktator soviel Vertrauen schenken durfte, wie er ihm vor „München“, in „München“ und unmittelbar nach „München“ wirklich geschenkt hat. Ohne entscheidende Friedenssicherung werden am 29. September 1938 die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an Hitler-Deutschland abgetreten.

Jedenfalls gibt Hitler bereits drei Wochen später den Geheimbefehl zur Zerschlagung der sogenannten „Resttschechei“. Im März 1939 zeigt er sein wahres Gesicht vollends durch den Marsch nach Prag!

Die deutschen Mahner hatten zweifellos klarer gesehen als der britische Premier. Nur glaubten sie, dass das, was den Nationalsozialisten ohne entscheidende Friedenssicherung zugebilligt wurde, die Revision von Versailles, auch ihnen, die gerade keine Expansionspolitik über nationalstaatliche Grenzen hinaus anstrebten, zugestanden werden könnte, denn ein dauerhafter Friede war ihr Ziel.

Am 3. Oktober, nach den „Erfolgen von München“ – Hitlers neue Kriegsabsichten ahnend – richtete deshalb Goerdeler wieder eine (kürzlich erst entdeckte) Denkschrift an das deutsche Militär:

„Ich bleibe also bei meiner Empfehlung, die deutschen Lebensinteressen jetzt erst recht auf dem Verständigungswege zu verwirklichen und insbesondere der Versuchung zu jeder abenteuerlichen Expansionspolitik zu widerstehen ... Die entscheidende Gefahr auch für die deutsche Außenpolitik bleibt die aus dem Totalitätsanspruch der Partei und aus dem Terrorsystem sich ergebende Recht- und Sittenlosigkeit.“

Noch offener, ja verzweifelt, heißt es in einem Brief vom 11. Oktober 1938 an Spencer Miller, einen amerikanischen Freund: „Eigentlich könnte ich nun sagen: Immerhin vergrößert diese Entwicklung die Macht und den Lebensraum meines Landes. Als Deutscher sollte ich an sich sehr zufrieden sein. Ich weiß jedoch, daß diese Diktatoren nichts als Verbrecher sind“.

Vergegenwärtigen wir uns heute, 50 Jahre nach diesen Vorgängen, das Außergewöhnliche am Tun dieser Männer, die dann alle am Umsturzversuch des 20. Juli wieder beteiligt sein werden.

1. Sie, die eher von traditionellen Vorstellungen geprägt sind, warnen im Ausland vor der eigenen Regierung – das war wohl schon deshalb für konservative Engländer so schwer verständlich, weil „man“ das als echter Patriot nicht tat.

2. Selbst die materielle Machterweiterung des eigenen Staates, die auch von diesen Deutschen, die da warnten, so ersehnte „Revision von Versailles“, täuschte sie nicht über den Charakter des Verbrechensstaates hinweg.

3. Ludwig Beck, Kleist-Schmenzin, Theo Kordt, Carl Goerdeler gehörten nicht zu denen, die schon deshalb Hitler-Gegner waren, weil sie von Hitler verfolgt wurden. Im Gegenteil, sie hatten alle die Chance, im Hitler-Staat ihr Auskommen zu haben. Wenn sie sich zurückhielten und abwarteten, war ihnen sogar in einer Nach-Hitler-Zeit Anerkennung gewiss. Stattdessen riskierten sie schon mit ihrem Auftreten im Ausland, das mit einer Fülle von Gestapo-Spitzeln durchsetzt war, ihre Freiheit, wenn nicht ihr Leben.

Diese Männer selbst haben ihr Tun kaum als außergewöhnlich oder schon gar nicht als heldenhaft betrachtet. Sie taten nur das für sie Selbstverständliche. Vielleicht waren sie gerade darin an Traditionen gebunden: Ihr Ehrbegriff und ihre Vaterlandsliebe geboten ihnen, gegen eine Regierung anzukämpfen, die eine gesamteuropäische, ja eine gesamtmenschliche Bedrohung bedeutete, ganz gleichgültig, ob sie sich als deutsche deklarieren konnte.

„Jews are driven like animals“ – „Juden werden wie Tiere herumgetrieben“ schreibt mein Vater an A. P. Young 1938. Wollten die Demokratien das wirklich weiter geschehen lassen?

Aber die Warner haben vergeblich gewarnt.

Als Hitler in der Tschechoslowakei einmarschiert, wird die Appeasement-Stimmung in England radikal umschlagen und nur noch ein Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geführt werden. Der Zweite Weltkrieg hat eine zweigeteilte Welt hinterlassen, die bald aufs Neue hochrüsten sollte und nun erst langsam, langsam, die Schritte neuer Sicherungen gegen den Krieg geht.

Die deutschen Hitler-Gegner vor 50 Jahren sind aber auf das schwierige fast aussichtslose Vorhaben verwiesen: eine Verschwörung im Krieg planen zu müssen – ein noch gewagteres Tun.

Das Netz der Hitler-Gegner, von dem ich zu Beginn sprach, wird nun eng geknüpft. Denkt man an das häufige Auseinanderbrechen von Koalitionen in der Weimarer Republik, muss man erstaunt sein, wie bald nun eine Koalition entsteht, die ich – in Anlehnung an Annedore Leber – eine „Koalition der Gewissen“ nennen möchte. Die Divergenzen zwischen den Gruppen der entschlossenen Hitler-Gegner sollen nicht vorschnell harmonisiert werden; dennoch wird der Koalitionscharakter der Verbindung häufig unterschätzt, wenn man vorschnell „Kreise“ voneinander abgrenzt.

Nähere Betrachtung der Memoirenliteratur zeigt eine ganze Anzahl von Querverbindungen. Naturgemäß haben die Kaltenbrunner-Berichte, die Berichte der Gestapo, Spannungen zwischen den Gruppierungen gern herausgearbeitet oder heraushören wollen. Wir Angehörigen und Nachkommen sollten uns da nicht verwirren lassen. Der Druck der stets präsenten Gefahr hat manche Gruppen nur zu ganz wenigen Gesprächen zusammenkommen lassen. So hat es nur zwei Begegnungen zwischen Goerdeler und dem „Kreisauer Kreis“ gegeben. Manche Diskussion war dadurch viel zu sehr verkürzt. Menschen wie Leber, Leuschner, Beck, Moltke und Goerdeler, die zum Handeln Entschlossenen, waren zudem besonders starke Persönlichkeiten, mit sehr entschiedenen Standpunkten.

Politische Auseinandersetzung und Diskussion, d.h. den Pluralismus der offenen Meinungsäußerung, schätzen wir heute als eine der kostbarsten Güter der Demokratie – sollten wir ihn Hitler-Gegnern nicht genauso zubilligen, die ein gemeinsames Hauptziel einte?

Ich möchte die Behauptung wagen, dass es – bei allen Divergenzen – auch ein Ergebnis dieser „Koalition der Gewissen“ war, wenn die Bundesrepublik nicht mit derartigen ideologischen Grabenkämpfen belastet wurde wie die Weimarer Republik.

So gerät zum Schluss das Gedenken in ein Nachdenken über den Staat, in dem wir heute leben. Ein Nachdenken über die Botschaft, die aus einer fernen, heute noch einmal so nahen Zeit zu uns herüberkommt.

Wohl gedenken wir der einmaligen Tat, als Männer und Frauen in ungewöhnlicher Situation handelten. Nachdenken aber sollten wir darüber, was ihnen als selbstverständlich galt und um dessentwillen sie handelten.

Sind es überholte „Selbstverständlichkeiten“? Haben sie noch Aktualität? Wir leben nicht in der ungewöhnlichen Situation eines Terror-Systems in unserem Land.

Sind uns die „Selbstverständlichkeiten“ der Männer und Frauen des Widerstandes, so sie aktuell sind, auch selbstverständlich, d.h. gesichertes Gut, gesicherte Norm des Handelns?

Ich möchte nur drei Bereiche ansprechen, hier und heute nicht auf ihre Europa- und Friedenssicherungspläne eingehen. Es ging den Hitler-Gegnern um die Pflicht der politisch Handelnden, wahrhaftig zu sein.

Sind heute Verlässlichkeit und Integrität der Politiker und aller Verantwortlichen selbstverständlich? Ist es selbstverständlich, die Öffentlichkeit über Sachverhalte aufzuklären, damit sie sich ihr eigenes Urteil bilden kann?

Kennen wir nicht die Arroganz der Macht, die Volksaufklärung gar nicht nötig hat? Geben wir uns selbst nicht zu oft damit zufrieden, dass politische Maßnahmen uns „gut verkauft“ werden?

Es ging den Hitler-Gegnern um die Wahrung der Menschenwürde, der Menschenrechte aller Menschen. Sie forderten, über nationale Grenzen hinweg, sich für sie einzusetzen; wohl wissend, dass es Terror-Systeme gibt, in denen die Schwachen, Machtlosen allein sich nicht wehren können.

Ist der Schutz von Minderheiten in unserem eigenen Land uns selbstverständlich?

Ist der Schutz von Schwachen und Machtlosen unserer Welt selbstverständlich?

Es ging den Hitler-Gegnern um die Wahrung gerade auch der eigenen Menschenwürde. Darum, dass jeder Einzelne mit sich und seinem Gewissen im Reinen sein konnte, der Verführung widerstand, nur den eigenen Vorteil zu suchen. Schon die Einstellungen in einer Gesellschaft können diesem Opportunismus Vorschub leisten oder ihn eindämmen. Noch entscheidender ist der Einfluss des Staates. Der nationalsozialistische Staat machte sich die Verführbarkeit des Menschen zunutze. So konnte der Opportunismus ein Einfallstor für Hitlers Erfolge werden und die Menschen korrumpieren.

Ist unsere Gesellschaft, ist jeder Einzelne von uns ganz selbstverständlich gegen die Gefahr des Opportunismus gefeit?

Auch wenn in eine Vergangenheitsform gekleidet, können uns Bonhoeffers Worte noch heute als drängende Fragen begleiten; sie finden sich in der Sammlung von Betrachtungen „Nach zehn Jahren“ unter der Oberschrift:

Sind wir noch brauchbar?

„Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?

..., nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen.

Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, daß wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?“

Sind wir noch brauchbar?

(Aus: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung)







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20.07.1988
Dr. Hanna-Renate Laurien
Dr. Hanna-Renate Laurien