Gegen die "Hofmalerei" in der Geschichtswissenschaft – Zur aktuellen Bedeutung des Historikers Franz Schnabel
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Peter Steinbach
Gegen die „Hofmalerei“ in der Geschichtswissenschaft – Zur aktuellen Bedeutung des Historikers Franz Schnabel
Rede von Prof. Dr. Peter Steinbach am 19. Juli 2009 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin aus Anlass der Eröffnung der Sonderausstellung "Franz Schnabel – Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates"
„Die Freiheit ist“, war in der Monatszeitschrift „Hochland“ 1938/39 zu lesen, „für die Masse kein ursprüngliches Bedürfnis, da sie mit ihr nichts anzufangen weiß.“ Diesen Satz, über den man heute vielleicht wieder streiten würde, um die Ablehnung der Demokratie durch den bürgerlich-militärischen Widerstand zu belegen, schrieb ein Historiker am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, der mit seinen Blitzkriegen und Blitzsiegen Hitler auf den Höhepunkt seiner Anerkennung katapultierte. Er war offensichtlich nicht fasziniert, sondern blickte hinter den Schein des NS-Staates, der seine Sogwirkung auf die meisten Zeitgenossen entfaltete. Diese Nachwirkung war noch spürbar, als kritische Biographen die Frage stellten, wie die Deutschen Hitler bewerten würden, wenn er 1939 gestorben wäre. Wir wissen, das weitsichtige Zeitgenossen wie Johann Georg Elser auf diesen Tod hinarbeiteten, das Regimegegner ihn wünschten, weil sie wussten, dass Hitler die deutsche Katastrophe verkörperte und betrieb, dass der Untergang Deutschlands bereits am Tage seiner Machtergreifung begonnen hatte. Den Satz: „Die Freiheit ist für die Masse kein ursprüngliches Bedürfnis, da sie mit ihr nichts anzufangen weiß“ hatte ein Historiker formuliert, der damals kein hohes Ansehen genoss, der von seinem Lehrstuhl vertrieben worden war, weil man Umwidmungen vornehmen wollte. An einer Technischen Hochschule wurden keine Historiker wie Schnabel oder keine Germanisten wie Karl Holl gebraucht: Angewandt sollte die Forschung sein, kriegswichtige Herausforderungen bewältigen. Einsamkeit und Freiheit? Dafür war in einem diktatorischen System kein Platz, es ging um Nützlichkeit, um Wirtschaftsnähe.
Dieser Historiker wurde erst in den 1950er und 1960er Jahren zu einem der anerkanntesten und faszinierendsten Gelehrten. Er wollte „politischer Erzieher und geschichtlicher Denker zugleich“ sein, er wollte, wie sein Zeitgenosse Reinhold Schneider einmal schrieb, durch Reden handeln. Reden – das ist kein ungefährliches Pflaster, denn der Redner wendet sich an die breite Öffentlichkeit, will dort Resonanz finden und gleitet in der Regel schnell in das Gefällige und Zustimmungsfähige ab. Talkshows zeigen es täglich: Es kommt dann nicht mehr darauf an, zu sagen, was man für richtig und notwendig, für eine Botschaft und Ausdruck seiner Mission hält, sondern man macht dem Massengeschmack Konzessionen, prostituiert sich, und zwar im Sinne der Prostituierten, die in Heinrich Bölls zeitkritischem Roman „Ansichten eines Clowns“ zu fragen pflegte: „War ich gut?“
Diese Frage lag Schnabel fern, denn er sagte, was er für richtig hielt, nicht nur als „Offensiv-“, sondern als „Defensivredner“. Er warnte vor dem Verfall der historischen Bildung, vor dem Verlust der historischen Phantasie, dem Niedergang der Bildung. Dabei ging es ihm um seinen Auftrag als Historiker in der Gesellschaft, die – davon war er überzeugt – nicht auf eine historische Tiefendimension und eine historisch-pädagogisch reflektierte Deutung einer gewordenen Gegenwart verzichten könne.
In diesem Sinne bekannte sich Franz Schnabel zur „hervorragendsten Leistung der Historie“: die „Politisierung der Nation auf der Grundlage historischer Bildung“. Daraus leitete sich sein Selbstverständnis ab. Er drückte dies auch in denkbar kritischer Zeit aus, unmittelbar nach Papens Preußenschlag 1932, der mit dem Ende des damaligen demokratischen Bollwerks Preußen eine wichtige Voraussetzung für die Zerstörung der Republik durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten schuf.
Schnabel kommentierte den Verfassungsbruch mit den Worten: „Auch wenn die Diskussion geschlossen sein sollte und künftig nur noch diktiert wird im deutschen Vaterlande, so bleibt es doch die Pflicht der geistig führenden Schicht, so lange ihre Stimme zu erheben, wie dies möglich ist.“ In diesem Zusammenhang artikulierte er die Warnung vor der Gefahr, in die Knechtschaft zu fallen. „Mag das ‚ruere in servitium’ immer weiter um sich greifen und vor längst beschlossenen Dingen jedes Wort ohnmächtig sein, vernichtet werden durch den Spott über Ideologen und ‚radoteurs’, so dürfen doch die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staateslebens nicht unverteidigt bleiben.“
Schnabel diffamierte die gewordenen Verhältnisse nicht, er wollte nicht agitieren, sondern er setzte auf die Fähigkeit, die Gegenwart als geworden zu verstehen und deshalb nicht leichthin preiszugeben. Immer wieder hielt Schnabel seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor, als er den Geist zur Reform beschwor. Er griff ein Thema auf, welches bis in unsere Tage seine große Bedeutung bewahrt hat.
Reform verlangt, so Schnabel, „voraussetzungslos und innerlich frei die Ursachen“ einer Schwierigkeit zu erörtern. Weil überdies „jede Katastrophe immer das Ergebnis einer Verkettung der Dinge und einer geschichtlichen Lage ist, deren Wurzeln in Wahrheit weit zurückreichen in die Vergangenheit“, komme man ohne eine historische Perspektive nicht weiter.
So erinnerte er nach Papens Verfassungsbruch daran, dass der deutsche Staat „auf rechtsstaatlicher und bundesstaatlicher Grundlage erwachsen (sei) und dass die Beseitigung dieses doppelten Charakters einen größeren und schlimmeren Bruch mit der Vergangenheit darstellen würde, als dies jemals die Revolution vom November 1918 gewesen (sei).“ Schnabel rief also nicht zu den Waffen, wie man nachträglich an den Stammtischen politisierender Historiker nicht müde wurde zu fordern, sondern er setzte auf historisches Bewusstsein, auf Phantasie, auf Urteilsvermögen.
Deshalb erinnerte er daran, dass die „Ausdehnung der Parlamentsrechte (...) im Zuge der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung der Vorkriegszeit (lag)“. Und wenn die Monarchien versanken, ohne dass sich „nur ein Finger“ rührte, so sah er darin nur eine Bestätigung für die Verteidigung des parlamentarischen Rechtsstaates: „Alle Angriffe, die damals gegen den Rechtsstaat und gegen den Bundesstaat geführt wurden, sind in blutigen Straßenkämpfen abgeschlagen worden. Die überwiegende Mehrheit des Volkes hielt an dem überlieferten Charakter des deutschen Staates fest und sprach sich in der Nationalversammlung von Weimar für ein Reich aus mit einer rechtsstaatlichen Verfassung und mit der naturgemäßen und historisch gewordenen Gliederung in Stämme und Länder.“ Franz Schnabels Deutung der Revolution von 1918 übertraf an Weitsicht und Unabhängigkeit alles, was bis weit in die 1960er Jahre dazu geschrieben wurde.
Viele derartige Appelle ließen sich aufführen. Sie machen deutlich, dass Schnabel kein emotionalisierender Redner und Vertreter der „Geschichtspolitik“ war, sondern die Geschichte lediglich als Argumentationsfeld benötigte, um Besonnenheit, Multiperspektivität, Prioritätenbewusstsein zu erreichen, aber auch für seine Zuhörer ein Gefühl für die Brüchigkeit der Welt in der wir leben zu schaffen.
Schnabel war ein verfassungsstaatlich und föderal denkender Liberaler, ein liberaler Katholik, ein Ordnungsdenker. Deshalb war er antizentralistisch. Er politisierte nicht, um die Sinne abzustumpfen, sondern Politisierung bedeutete für Schnabel, für die Grundprobleme einer politischen Ordnung zu sensibilisieren, in der man lebt und für die man sich täglich zu entscheiden hat. „Entscheidung“ in diesem Sinne war nicht das Ergebnis eines dumpfen Empfindens aus dem Wunsch, etwas zu tun, „gleich was, Hauptsache das!“
Schnabel emotionalisierte nicht suggestiv, sondern rational. Er versuchte, die Wirklichkeit vor das Auge zu rücken. Die Krise des Parteienstaates war für ihn eine entscheidende Voraussetzung für den Zerfall der Weimarer Ordnung. Die Notverordnung gelte unbestritten nur für Ausnahmefälle: „Bei uns dagegen hat die Volksvertretung sich Jahr und Tag selbst abgedankt, sie hat geduldet und in ihrer Angst vor der Verantwortung sogar gerne gesehen, dass immer mehr grundsätzliche Fragen auf diesem außerordentlichen Wege geordnet worden sind.“ So sei aber lediglich eine „Rechtsfiktion“ geschaffen worden, „die schließlich alles gestattete und jedem energischen Machthaber den Weg zeigt, wie er unter scheinbarer Wahrung der Gesetzlichkeit die beiden Grundsäulen unseres Verfassungslebens, den rechtsstaatlichen und den bundesstaatlichen Charakter des Reiches aufheben kann.“
Schnabel analysierte reflektiert und bewahrte Distanz, indem er sich nicht allen modischen Argumenten auslieferte. Obwohl er ein Anhänger von Reformen war, sah er darin keinen Selbstzweck. Die vielzitierte Notwendigkeit der „Reichsreform“ war für ihn keine „Bagatelle“, also kein technisches Organisationsproblem, sondern Ausdruck eines politischen Grundgefühls: „Das ist eben das Kennzeichen neudeutschen Geistes, dass man nicht sieht, wie die Gestaltung des staatlichen Lebens niemals eine reine Zweckmäßigkeitsfrage sein kann.“ Er wandte sich gegen den „unhistorischen Rationalismus“, gegen den Unitarismus als „Produkt der Studierstube, das von norddeutschen Professoren geschaffen und ausgebaut“ worden sei, ein „Ausdruck des Geistes der Gewaltsamkeit, der uniformieren möchte in Verwaltung und Gesinnung, eine Freude am Betrieb, am Organisieren und Disponieren in großen Dimensionen.“ Bürokraten und Militärs strebten nach „einheitlicher Uniform“, nach „gerichteter Front, Ruhe und Ordnung, Bürokraten und Wirtschaftsführer wollen das Reich behandeln wie einen Industriekonzern; Bürokraten und Professoren wollen zugleich die geistig-kulturelle Vereinheitlichung erzwingen.“
Schnabel hielt dagegen: „Das Reich ist nun einmal kein Industriekonzern, der Zweck der staatlichen Verwaltung ist ganz und gar nicht, mit dem geringsten Aufwand an Spesen den höchstmöglichen Gewinn herauszuziehen – der Zweck der staatlichen Verwaltung ist, beizutragen zur Erfüllung der menschlichen Bestimmung.“ Mit dieser Perspektive erinnert Schnabel an den Gedanken der Polis in der Begründung des politischen Zusammenlebens durch Aristoteles, aber er nimmt auch Formulierungen vorweg, die wir zehn Jahre später in den Debatten der Mitglieder des Kreisauer Kreises hören und lesen: „Es wäre unmenschlich, wenn ganze Generationen verurteilt wären zu leben in einem Staate, der nichts anderes wäre als ein wohlrationalisierter Betrieb. Vielleicht herrschten in einem solchem Staatswesen Ruhe und Ordnung, und wir, die wir die Stetigkeit schon lange vermissen und das Tempo der Zivilisation, das in den letzten Jahren geradezu stürmisch gewesen ist, mäßigen müssen – wir sind sehr geneigt, die Ruhe zu würdigen als einen Wert für das gesellschaftliche und staatliche Leben. Aber es gibt auch eine Ruhe des Friedhofes, und es gibt eine Ordnung, in der die Menschen nichts mehr sind als Zahlen: man kennt die berühmten Verse aus dem ‚Don Carlos’. Einer solchen Ordnung würde die notwendige sittliche Grundlage fehlen, weil alles nur gestellt ist auf äußere Autorität und Bequemlichkeit für die Machthaber.“
Wie gelang es Schnabel, Koordinaten einer klarsichtigen, kritischen Bewertung von Phänomenen und Entwicklungen der Gegenwart zu entwickeln? Die Antwort fällt leicht, wenn man seine programmatische Zeitkritik am Verfassungsbruch des Papenschlages sorgfältig liest. Er war ein Mann, der seine Maßstäbe aus dem freiheitlichen Verfassungsstaat entwickelte, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte. Er bekannte sich zu einem Bildungssystems, wie es im 18. und 19. Jahrhundert durchgesetzt worden war, eines Systems der schulischen Bildung und der Kulturpflege und der Gesinnungsbildung, das eben nicht „Sache des Reiches“ war.
Nationale Willensbildung konnte für Schnabel niemals das Ergebnis einer staatlich bewirkten „Vereinheitlichung der Gesinnung“ sein. Das hatte der „erste Versuch“ der wohl „schlimmsten Vergewaltigung“, der „Kulturkampf“ gezeigt. Aus dem Bekenntnis zur Bildung entwickelt sich bei Schnabel eine historisch reflektierte Kritik: „Heute aber ist unsere ganze abendländische Bildung in Brei und Pulver zerrieben, jeder Philosophieprofessor hat sein eigenes System und hält dieses für das allein seligmachende. Wie viele Propheten sind in den letzten Jahren nacheinander Mode gewesen, sind für Schule und allgemeine Bildung als Heilande empfohlen worden, und nach kurzer Zeit gehörten sie schon zum alten Eisen! Wer die Reklame am besten versteht und den wechselnden Machthabern im Reiche sich zu empfehlen weiß – heute ist es ein Vertreter der sogenannten voraussetzungslosen Wissenschaft, morgen wird es ein Rassentheoretiker sein, übermorgen ein Marxist – wird den Erfolg haben, dass ein System den Schulen und Hochschulen als amtlich abgestempelte ‚Reichskultur’ zugrunde gelegt wird und nach ihm die Willen gerichtet werden. Der Meister, der sich im Ministerium und in den mächtigsten Fakultäten seines Faches eine Stellung zu schaffen weiß, wird seine Schüler auf die Katheder und in die Schulverwaltungen setzen, und nirgends wird eine freie Konkurrenz möglich sein.“
In der Tat: Schnabel war ein Pluralist. Freiheit des Geistes war nur in der Vielheit der Kulturzentren möglich. Deshalb war er ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein Kritiker „autokratischer Positionen“, ein Verächter derjenigen, die sich freiwillig in die Gefolgschaft der öffentlich verbreiteten Stimmung begaben.“ Er war Pluralist, so wie er Föderalist war, denn der Grundgedanke des 19. Jahrhunderts, das Macht und Gewalt zu teilen war, bestimmte sein Denken.
Ihm ging es niemals um gefälliges Denken oder gar um eine emotionale Nationalisierung. Im Zentrum seines politischen Denkens stand die Frage der Verantwortlichkeit – gegen „wissenschaftliche Reklame“, gegen die Zentralisation der Kulturpflege, die er als den Tod der Wissenschaft empfand. Er verlangte „freie Konkurrenz“ und leitete daraus die Verantwortung des politischen Lehrers ab. Er war ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein Mann von gestern im Sinne des „Buches Hiob“. Und gerade dadurch wurde er zu einem Mann, dessen Werk aktuell blieb. Allerdings musste Franz Schnabel durch die Nacht des „Dritten Reiches“ hindurch, um noch einmal seine volle Wirkung als akademischer Lehrer und Erzieher entfalten zu können.
Schnabel zweifelte nicht daran, dass der Staat auch Kulturstaat sei. Das bedeutete für ihn aber nicht, dass der Historiker zum „Hofmaler“ werden müsse, dass sich die Geschichte „nicht über das Niveau von Sedansfeiern“ erhebe. Er kritisierte die „Dienstbarkeit der Geschichtsschreibung im Zeichen des Nationalismus“ und des „Imperialismus“ und damit Treitschke, der die „Stimmung des Volkes“ im Sinne Bismarcks beeinflusste, aber niemals dessen Vertrauen und wohl nicht einmal die Achtung des Kanzlers erlangte. Um dies zu erklären, berief sich Schnabel auf die alte Geschichte und zitierte Sueton, der überliefert, wie sehr Tiberius Zeitgenossen verachtete, die sich in die Knechtschaft – ruunt in servitutem – stürzten.
Der Historiker als Herold der Mächtigen, als Reichstags-Politiker gar, mehr ein „Katheter-Redner“ denn Historiker, „kein Humanist“, sondern ein „Trommler“, der als Monomane sein Auditorium nicht zu überzeugen, sondern zu überreden wusste, der durch „rauschendes Pathos“ verhinderte, dass die Oberflächlichkeit seiner Argumente durchschaut wurde und zugleich die Personifizierung der Alltags-Feststellung war: „Hass macht blind.“
Treitschke war also für Schnabel „das Gegenteil dessen, was vom Historiker erwartet wird: taub und infolgedessen auch geistig unbelehrbar“. Er habe versucht, wie eine unbändige Kraft auf den Staat zu wirken und die Staatsführung auf eine Bahn zu treiben. Ironisierend fasste er sein vernichtendes Urteil über den Historiker, der an den Stammtischen diskutiert in dem knappen Satz zusammen: „Kaiser und Kanzler waren schwächer als dieser Rhetor.“ Und dieser Satz steigerte sich zu dem Vorwurf: „Er hatte nicht die mindeste Achtung vor dem vor ihm sitzenden Auditorium; hemmungslos hat er die politischen Leidenschaften entfesselt. Er bedachte nicht, dass da die jungen Leute saßen, die berufen waren, in den nächsten Jahren Deutschland zu regieren und zu verwalten.“ Welche Alternative bot hingegen Schnabel? „Maxima debetur puero reverentia.“
Deshalb lehnte er die politischen Professoren ab, die das Katheder zur Tribüne machten. Er durchschaute die propagandistische Nationalisierung und wollte sich nicht zum Instrument einer Hyperpolitisierung machen. Deshalb verfiel er dieser Stimmung nicht. Denn er war ein Ordnungsdenker, kein Machthistoriker. Aus diesem Grunde entwickelte er ein tiefes Gespür für Ordnungskonflikte, für den Willen der Menschen, sich eine politische Ordnung zu schaffen, sie zu verstehen, sich stets aufs neue für sie zu entscheiden. Besonders deutlich wird das in seinem Hauptwerk, der vierbändigen „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“.
Das 19. Jahrhundert stellt nach Schnabel die Grundlage der Gegenwart dar. Er machte deutlich, in welchem Maße es mit unseren gegenwärtigen politischen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnissen zusammenhängt. Schnabel wollte immer zeigen, wie die Gegenwart geworden ist. Er schaute aus seiner Gegenwart auf die Vergangenheit, wollte die in dem Vergangenen angelegten Möglichkeiten erkunden, sie bewerten und kritisch befragen. Nur so ließ sich entscheiden, was aus frühen Entwürfen politischer Gestaltung und den Anfängen der Verfassungs- und Ordnungskonflikte geworden war.
Damit erreichte er etwas, was manchen seiner Kollegen nicht vergönnt war: Er sah in der Gegenwart niemals das Ziel, den Endpunkt, die Vollendung der Vergangenheit. Sondern Schnabel verstand es stets, durch die Auseinandersetzung mit der Fülle der in der Geschichte angelegten Möglichkeiten eine Distanzierung von der Gegenwart zu erreichen. Dies war im Jahrhundert der Diktaturen eine entscheidende Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Menschen angesichts totalitärer weltanschaulicher Führungsansprüche von ideologisch legitimierten Zwangssystemen und für die Verteidigung der eigenen Werte durch die Widerständigkeit des Individuums.
Die Gefahren, die von der Homogenierung der Gefühle im Zuge einer Durchpolitisierung der Nation ausgingen, erkannte Schnabel, und folglich auch die Folgen einer „Monopolisierung des Vaterlandes“ durch politische Bewegungen, wie Theodor Heuss einmal kritisch bemerkte. Distanzieren konnte sich nur, wer sich auf gesicherter eigener Wertegrundlage zu behaupten wusste. Entscheidend war der Wille, sich gegenüber politischen Zumutungen in Anstand zu behaupten.
Heute spricht man von Zivilcourage, wenn man diese Art der Distanzierung ausdrücken will. Franz Schnabel kannte diesen Begriff und verwandte ihn in einer Rede, die er anlässlich der Neujahrsfeier der Badischen Staatsregierung im Karlsruher Landestheater hielt. Zivilcourage, sagte er, „(veranlasse) den Einzelnen, zeitig auf Besserung zu dringen, auch wenn er dadurch sich selbst in seinem Kreise unbeliebt (mache)“. Er hielt mit dieser Bemerkung den Deutschen einen Spiegel vor, die es „bei allem Wagemut in geschäftlichen und soldatischen Dingen“ gerade an dieser Bürgertugend hatten fehlen lassen.
Dietrich Bonhoeffer dachte fast fünfzehn Jahre später, am Ende des Jahres 1942, auch über den Begriff „Civilcourage“ nach. „Viel Tapferkeit und Aufopferung“ habe man gezeigt, aber nicht damit gerechnet, dass die „Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag missbraucht werden könne zum Bösen.“ Es fehle das Gefühl für die „Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag.“ Stattdessen sah Bonhoeffer „verantwortungslose Skrupellosigkeit“, auch „selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte“. Deshalb definierte er „Civilcourage“ als eine Folge der „freien Verantwortlichkeit des freien Mannes“, die für ihn auf einem Gott beruhe, der „das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“
Schnabels knapper Satz über die „Zivilcourage“ als wichtigste politische Tugend und Fähigkeit des Individuums im Zeitalter der Diktaturen könnte in das Zentrum einer erneuten Auseinandersetzung mit seinem Werk rücken. Sie ist notwendig, diskutieren die Historiker zur Zeit doch vor allem über die Verstrickung deutscher Historiker in das nationalsozialistische System. Schnabel lehrt uns, eine andere Frage zu stellen. Es geht nicht nur um Anpassung, sondern es geht um die Klärung der Voraussetzungen für geistige Unabhängigkeit, für die Selbstbehauptung durch Distanzierung von Zeitströmungen, die Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Karriere.
Der Begriff der Zivilcourage, den wir eigentlich immer mit Gandhis Protest in Indien verbinden, macht deutlich, dass es beim Blick auf das 20. Jahrhundert der Nationalstaaten nicht um eine identifizierende, sondern nur um eine reflektiert-distanzierende, um eine „brechende“ Geschichtsbetrachtung gehen kann.
Es ging Schnabel nicht um Identifikation mit der Nationalgeschichte, sondern um die Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten, ihrer weißen und eben auch schwarzen Stränge, um die Auseinandersetzung mit einer Ambivalenz und Gebrochenheit, die einer reichsdeutschen Nationalisierung und Politisierung diametral entgegenstand. Das unterschied ihn von Treitschke, dem er mit seiner eigenen Geschichte des 19. Jahrhunderts etwas entgegenstellen wollte, was jenseits der preußisch-deutschen Reichsgründung und allen daraus abzuleitenden Weiterungen eines „inneren Kampfkurses“ lag – gegen Demokraten und Liberale, gegen Katholiken und Sozialdemokraten, gegen die nicht deutsch sprechenden Gruppen, schließlich gegen die Juden.
Wer sich wie Treitschke mit dem preußischen Weg deutscher Geschichte identifizierte und seine Zuhörer emotional erregen wollte, stieß bei Schnabel auf Kritik. „Die historischen Studien“ seien „nicht Sache des Staates“, erklärte er im Jahr vor seiner Emeritierung. Nicht einmal Hobbes, der alle denkbaren Lebensgebiete dem Inhaber der höchsten Gewalt zugeordnet habe, habe von der Geschichte gesprochen. Hofhistoriographen seien zwar als „Spender des Ruhmes“ benutzt worden, aber das „Studium der Vergangenheit zu einem Monopol des Staates zu machen“, sei den absoluten Herrschern nicht gekommen. Erst Napoleon habe den Staat benutzt, um das Bild der Geschichte zu prägen. Napoleon drohte, und hier kommt wieder das Wort Courage in den Blick, wie Schnabel zitierte: „Sollte aber einer die Courage haben anders zu lehren und zu drucken: il faut le décourager par la police.“
Dagegen wandte sich Schnabel und bekannte sich zur „freien Initiative“ der Forscher, die schließlich „den Bonaparte in uns selbst bekämpften“ und sich einer „rückhaltlosen Selbsterkenntnis“ unterzogen: „Kein fremdes Interesse, keine Staatsräson, kein Vorurteil“ sollte die wissenschaftliche Erkenntnis belasten. Das war ein glühendes Bekenntnis zur individuellen Forschung, das allerdings den Tendenzen der organisierten Wissenschaft völlig widersprach. Immer öfter ging der Staat dazu über, wissenschaftliche Großunternehmen zu stützen und zu ermöglichen. Er machte die Forscher von sich abhängig und unterwarf sie seinen Zwecken. Museen, Institute, Kommissionen bildeten große, ständig wachsende Apparate aus, die nur der Staat beschaffen und denen nur er die Räume bauen konnte.“ Die Konsequenzen waren unübersehbar: „Aus dieser Not der sich ins Grenzenlose dehnenden Wissenschaft erwachsen den Staaten eine vorher nie erlebte Macht und Stellung, und dies kam dem Streben der Staaten nach Expansion und Konzentration entgegen.“
Die Konsequenzen sind in der reichsdeutschen Geschichtsschreibung sichtbar, die in Sybel und Treitschke zu gipfeln scheint. Sie hat Schnabel als Gefahr erkannt, sie wollte er überwinden. Das ist der Kern seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts. Schnabel war der Überzeugung, „dass in einer Zeit, die so viele überkommene Werte vernichtet hat, Besseres zu tun ist, als die wenigen feststehenden Formen unseres nationalen Lebens umzuwerfen.“ So hatte er in der Untergangsstunde der Weimarer Republik geschrieben. „Feststehende Formen – das war das Ergebnis der Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts.“
Bis heute hat dieses Jahrhundert unsere Phantasie beflügelt und unser historisches Urteil strapaziert. Es wurde zunächst begriffen vom Anfang her, in der Erinnerung an die Französische Revolution und ihre Folgen, und galt dann als Ausdruck einer Umbrucherfahrung. „Es wird gezeigt, wie die Bindung der Personen und Sachen, die in einer tausendjährigen Gesellschaftsordnung und Staatsordnung eines halben Jahrtausends das 19. Jahrhundert noch erreicht hat, aufgelöst wurde durch eine neue Gesellschafts- und Staatsordnung, durch das Prinzip der freien Bewegung.“
Mit der Reichsgründung verschob sich zumindest in Deutschland die Perspektive. Die europäische Geschichtsdeutung wurde nationalstaatlich verengt. Früh wurde dieses Bild in Schnabels Werk aufgebrochen, der drei „gewaltige Perioden“ konstatierte: „ein kurzes, nur das 19. Jahrhundert umfassende Zeitalter der Freiheit zwischen den beiden Zeitaltern der Autorität, von denen das eine ein volles Jahrhundert in Geltung war und das andere, das Massenzeitalter gerade jetzt sich heranbildet und vermutlich auch von sehr langer Dauer sein wird.“
Von der Einheit des 19. Jahrhunderts spricht heute niemand mehr, stattdessen wird im Nebeneinander von Gegensätzen die Grundlage einer Mehrschichtigkeit und Ambivalenz ausgemacht, die nicht negativ bewertet wird. Denn nach dem 19. Jahrhundert kamen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts - Weltkriege, Zivilisationsbrüche, letztlich der Untergang einer Zivilisation. Was dem 19. Jahrhundert an „Einheit und Tiefe“ abging, sagte Schnabel 1937 in der Neuauflage des ersten Bandes seiner „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“, habe es „ersetzt durch die Breite der Wirkung, durch die bunte Vielgestaltigkeit seiner Motive und durch den Reichtum seiner Formen, seiner Massen und Wandlungen, durch die Rastlosigkeit des schaffenden Willens.“ Ausdruck dieses Prozesses war die Teilnahme der Bevölkerung am geschichtlichen Leben und die Auflösung der abendländischen Einheit im Individualismus.
Schnabels Grundthesen lassen sich nicht nur als Ausdruck kulturkritischer Distanzierung von den Erscheinungen der Gegenwart deuten, sondern sie stellen auch seine Annäherung an die Wirklichkeit der sozialen Entwicklungen dar, die aus dem 19. Jahrhundert das Jahrhundert der fundamentalen Politisierung und Demokratisierung machten.
Wer historische Entwicklungen analysiert, fragt nach Einfluss- und Wirkungsfaktoren, nicht zuletzt nach Akteuren. Wer, so muss gefragt werden, deutete Konflikte, wer hielt die Erinnerung an Auseinandersetzungen im Bewusstsein? Das waren natürlich Politiker, Publizisten, auch Pädagogen und gewiss auch Wissenschaftler. Zu ihnen gehörten die Historiker, die im 19. Jahrhundert nicht selten als die eigentlichen Politikwissenschaftler ihrer Zeit empfunden wurden. Schnabel ist seiner Rolle gerecht geworden. Er wollte kein Präceptor sein, sondern den Sinn für die historischen Grundlagen unserer Maßstäbe und unserer Gegenwart wecken.
Wer seine Texte heute liest, fühlt sich eingeladen, grundsätzlich nachzudenken über die Gesellschaft in der wir leben, und auch immer neu über die Aufgabe des Staates zu reflektieren. Als Industrieunternehmen konnte sich Schnabel den Staat nicht vorstellen. Und unvorstellbar war es ihm, Bildung Nützlichkeitsvorstellungen zu unterwerfen. Er bekannte sich zur Freiheit und zur Verantwortung. Die Pädagogisierung der Universität in den 1970er Jahren, die Bürokratisierung der Bildung in den 1980er Jahren, die Utilitarisierung aller Bildungsbemühungen in den 1990er Jahre hätten ihn herausgefordert. „Heute“, hatte er in den 1930er Jahren formuliert, „ist unsere ganze abendländische Bildung in Brei und Pulver zerrieben“.
Vielleicht sollten die Beschwörer neuer Bildungseliten mit Schnabel lernen, dass Bildung keine Funktion des Geldes, sondern Ausdruck des Willens ist, ihre Grundlagen zu schaffen, zu verteidigen und zu verbessern. Schnabels Werk ist keineswegs nur Ausdruck seiner Zeit, sondern so lange von zeitloser Bedeutung, wie es den Verfassungsstaat gibt, der in Deutschland in seiner Stabilität eben auch das Ergebnis und der Geschichte und der Erfahrungen mit einem diktatorischen System wie dem NS-Staat war. Das wusste Schnabel, dafür wirkte er. Deshalb bin ich froh, dass seiner in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf diese Weise gedacht wird.
Peter Steinbach
Gegen die „Hofmalerei“ in der Geschichtswissenschaft – Zur aktuellen Bedeutung des Historikers Franz Schnabel
Rede von Prof. Dr. Peter Steinbach am 19. Juli 2009 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin aus Anlass der Eröffnung der Sonderausstellung "Franz Schnabel – Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates"
„Die Freiheit ist“, war in der Monatszeitschrift „Hochland“ 1938/39 zu lesen, „für die Masse kein ursprüngliches Bedürfnis, da sie mit ihr nichts anzufangen weiß.“ Diesen Satz, über den man heute vielleicht wieder streiten würde, um die Ablehnung der Demokratie durch den bürgerlich-militärischen Widerstand zu belegen, schrieb ein Historiker am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, der mit seinen Blitzkriegen und Blitzsiegen Hitler auf den Höhepunkt seiner Anerkennung katapultierte. Er war offensichtlich nicht fasziniert, sondern blickte hinter den Schein des NS-Staates, der seine Sogwirkung auf die meisten Zeitgenossen entfaltete. Diese Nachwirkung war noch spürbar, als kritische Biographen die Frage stellten, wie die Deutschen Hitler bewerten würden, wenn er 1939 gestorben wäre. Wir wissen, das weitsichtige Zeitgenossen wie Johann Georg Elser auf diesen Tod hinarbeiteten, das Regimegegner ihn wünschten, weil sie wussten, dass Hitler die deutsche Katastrophe verkörperte und betrieb, dass der Untergang Deutschlands bereits am Tage seiner Machtergreifung begonnen hatte. Den Satz: „Die Freiheit ist für die Masse kein ursprüngliches Bedürfnis, da sie mit ihr nichts anzufangen weiß“ hatte ein Historiker formuliert, der damals kein hohes Ansehen genoss, der von seinem Lehrstuhl vertrieben worden war, weil man Umwidmungen vornehmen wollte. An einer Technischen Hochschule wurden keine Historiker wie Schnabel oder keine Germanisten wie Karl Holl gebraucht: Angewandt sollte die Forschung sein, kriegswichtige Herausforderungen bewältigen. Einsamkeit und Freiheit? Dafür war in einem diktatorischen System kein Platz, es ging um Nützlichkeit, um Wirtschaftsnähe.
Dieser Historiker wurde erst in den 1950er und 1960er Jahren zu einem der anerkanntesten und faszinierendsten Gelehrten. Er wollte „politischer Erzieher und geschichtlicher Denker zugleich“ sein, er wollte, wie sein Zeitgenosse Reinhold Schneider einmal schrieb, durch Reden handeln. Reden – das ist kein ungefährliches Pflaster, denn der Redner wendet sich an die breite Öffentlichkeit, will dort Resonanz finden und gleitet in der Regel schnell in das Gefällige und Zustimmungsfähige ab. Talkshows zeigen es täglich: Es kommt dann nicht mehr darauf an, zu sagen, was man für richtig und notwendig, für eine Botschaft und Ausdruck seiner Mission hält, sondern man macht dem Massengeschmack Konzessionen, prostituiert sich, und zwar im Sinne der Prostituierten, die in Heinrich Bölls zeitkritischem Roman „Ansichten eines Clowns“ zu fragen pflegte: „War ich gut?“
Diese Frage lag Schnabel fern, denn er sagte, was er für richtig hielt, nicht nur als „Offensiv-“, sondern als „Defensivredner“. Er warnte vor dem Verfall der historischen Bildung, vor dem Verlust der historischen Phantasie, dem Niedergang der Bildung. Dabei ging es ihm um seinen Auftrag als Historiker in der Gesellschaft, die – davon war er überzeugt – nicht auf eine historische Tiefendimension und eine historisch-pädagogisch reflektierte Deutung einer gewordenen Gegenwart verzichten könne.
In diesem Sinne bekannte sich Franz Schnabel zur „hervorragendsten Leistung der Historie“: die „Politisierung der Nation auf der Grundlage historischer Bildung“. Daraus leitete sich sein Selbstverständnis ab. Er drückte dies auch in denkbar kritischer Zeit aus, unmittelbar nach Papens Preußenschlag 1932, der mit dem Ende des damaligen demokratischen Bollwerks Preußen eine wichtige Voraussetzung für die Zerstörung der Republik durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten schuf.
Schnabel kommentierte den Verfassungsbruch mit den Worten: „Auch wenn die Diskussion geschlossen sein sollte und künftig nur noch diktiert wird im deutschen Vaterlande, so bleibt es doch die Pflicht der geistig führenden Schicht, so lange ihre Stimme zu erheben, wie dies möglich ist.“ In diesem Zusammenhang artikulierte er die Warnung vor der Gefahr, in die Knechtschaft zu fallen. „Mag das ‚ruere in servitium’ immer weiter um sich greifen und vor längst beschlossenen Dingen jedes Wort ohnmächtig sein, vernichtet werden durch den Spott über Ideologen und ‚radoteurs’, so dürfen doch die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staateslebens nicht unverteidigt bleiben.“
Schnabel diffamierte die gewordenen Verhältnisse nicht, er wollte nicht agitieren, sondern er setzte auf die Fähigkeit, die Gegenwart als geworden zu verstehen und deshalb nicht leichthin preiszugeben. Immer wieder hielt Schnabel seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor, als er den Geist zur Reform beschwor. Er griff ein Thema auf, welches bis in unsere Tage seine große Bedeutung bewahrt hat.
Reform verlangt, so Schnabel, „voraussetzungslos und innerlich frei die Ursachen“ einer Schwierigkeit zu erörtern. Weil überdies „jede Katastrophe immer das Ergebnis einer Verkettung der Dinge und einer geschichtlichen Lage ist, deren Wurzeln in Wahrheit weit zurückreichen in die Vergangenheit“, komme man ohne eine historische Perspektive nicht weiter.
So erinnerte er nach Papens Verfassungsbruch daran, dass der deutsche Staat „auf rechtsstaatlicher und bundesstaatlicher Grundlage erwachsen (sei) und dass die Beseitigung dieses doppelten Charakters einen größeren und schlimmeren Bruch mit der Vergangenheit darstellen würde, als dies jemals die Revolution vom November 1918 gewesen (sei).“ Schnabel rief also nicht zu den Waffen, wie man nachträglich an den Stammtischen politisierender Historiker nicht müde wurde zu fordern, sondern er setzte auf historisches Bewusstsein, auf Phantasie, auf Urteilsvermögen.
Deshalb erinnerte er daran, dass die „Ausdehnung der Parlamentsrechte (...) im Zuge der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung der Vorkriegszeit (lag)“. Und wenn die Monarchien versanken, ohne dass sich „nur ein Finger“ rührte, so sah er darin nur eine Bestätigung für die Verteidigung des parlamentarischen Rechtsstaates: „Alle Angriffe, die damals gegen den Rechtsstaat und gegen den Bundesstaat geführt wurden, sind in blutigen Straßenkämpfen abgeschlagen worden. Die überwiegende Mehrheit des Volkes hielt an dem überlieferten Charakter des deutschen Staates fest und sprach sich in der Nationalversammlung von Weimar für ein Reich aus mit einer rechtsstaatlichen Verfassung und mit der naturgemäßen und historisch gewordenen Gliederung in Stämme und Länder.“ Franz Schnabels Deutung der Revolution von 1918 übertraf an Weitsicht und Unabhängigkeit alles, was bis weit in die 1960er Jahre dazu geschrieben wurde.
Viele derartige Appelle ließen sich aufführen. Sie machen deutlich, dass Schnabel kein emotionalisierender Redner und Vertreter der „Geschichtspolitik“ war, sondern die Geschichte lediglich als Argumentationsfeld benötigte, um Besonnenheit, Multiperspektivität, Prioritätenbewusstsein zu erreichen, aber auch für seine Zuhörer ein Gefühl für die Brüchigkeit der Welt in der wir leben zu schaffen.
Schnabel war ein verfassungsstaatlich und föderal denkender Liberaler, ein liberaler Katholik, ein Ordnungsdenker. Deshalb war er antizentralistisch. Er politisierte nicht, um die Sinne abzustumpfen, sondern Politisierung bedeutete für Schnabel, für die Grundprobleme einer politischen Ordnung zu sensibilisieren, in der man lebt und für die man sich täglich zu entscheiden hat. „Entscheidung“ in diesem Sinne war nicht das Ergebnis eines dumpfen Empfindens aus dem Wunsch, etwas zu tun, „gleich was, Hauptsache das!“
Schnabel emotionalisierte nicht suggestiv, sondern rational. Er versuchte, die Wirklichkeit vor das Auge zu rücken. Die Krise des Parteienstaates war für ihn eine entscheidende Voraussetzung für den Zerfall der Weimarer Ordnung. Die Notverordnung gelte unbestritten nur für Ausnahmefälle: „Bei uns dagegen hat die Volksvertretung sich Jahr und Tag selbst abgedankt, sie hat geduldet und in ihrer Angst vor der Verantwortung sogar gerne gesehen, dass immer mehr grundsätzliche Fragen auf diesem außerordentlichen Wege geordnet worden sind.“ So sei aber lediglich eine „Rechtsfiktion“ geschaffen worden, „die schließlich alles gestattete und jedem energischen Machthaber den Weg zeigt, wie er unter scheinbarer Wahrung der Gesetzlichkeit die beiden Grundsäulen unseres Verfassungslebens, den rechtsstaatlichen und den bundesstaatlichen Charakter des Reiches aufheben kann.“
Schnabel analysierte reflektiert und bewahrte Distanz, indem er sich nicht allen modischen Argumenten auslieferte. Obwohl er ein Anhänger von Reformen war, sah er darin keinen Selbstzweck. Die vielzitierte Notwendigkeit der „Reichsreform“ war für ihn keine „Bagatelle“, also kein technisches Organisationsproblem, sondern Ausdruck eines politischen Grundgefühls: „Das ist eben das Kennzeichen neudeutschen Geistes, dass man nicht sieht, wie die Gestaltung des staatlichen Lebens niemals eine reine Zweckmäßigkeitsfrage sein kann.“ Er wandte sich gegen den „unhistorischen Rationalismus“, gegen den Unitarismus als „Produkt der Studierstube, das von norddeutschen Professoren geschaffen und ausgebaut“ worden sei, ein „Ausdruck des Geistes der Gewaltsamkeit, der uniformieren möchte in Verwaltung und Gesinnung, eine Freude am Betrieb, am Organisieren und Disponieren in großen Dimensionen.“ Bürokraten und Militärs strebten nach „einheitlicher Uniform“, nach „gerichteter Front, Ruhe und Ordnung, Bürokraten und Wirtschaftsführer wollen das Reich behandeln wie einen Industriekonzern; Bürokraten und Professoren wollen zugleich die geistig-kulturelle Vereinheitlichung erzwingen.“
Schnabel hielt dagegen: „Das Reich ist nun einmal kein Industriekonzern, der Zweck der staatlichen Verwaltung ist ganz und gar nicht, mit dem geringsten Aufwand an Spesen den höchstmöglichen Gewinn herauszuziehen – der Zweck der staatlichen Verwaltung ist, beizutragen zur Erfüllung der menschlichen Bestimmung.“ Mit dieser Perspektive erinnert Schnabel an den Gedanken der Polis in der Begründung des politischen Zusammenlebens durch Aristoteles, aber er nimmt auch Formulierungen vorweg, die wir zehn Jahre später in den Debatten der Mitglieder des Kreisauer Kreises hören und lesen: „Es wäre unmenschlich, wenn ganze Generationen verurteilt wären zu leben in einem Staate, der nichts anderes wäre als ein wohlrationalisierter Betrieb. Vielleicht herrschten in einem solchem Staatswesen Ruhe und Ordnung, und wir, die wir die Stetigkeit schon lange vermissen und das Tempo der Zivilisation, das in den letzten Jahren geradezu stürmisch gewesen ist, mäßigen müssen – wir sind sehr geneigt, die Ruhe zu würdigen als einen Wert für das gesellschaftliche und staatliche Leben. Aber es gibt auch eine Ruhe des Friedhofes, und es gibt eine Ordnung, in der die Menschen nichts mehr sind als Zahlen: man kennt die berühmten Verse aus dem ‚Don Carlos’. Einer solchen Ordnung würde die notwendige sittliche Grundlage fehlen, weil alles nur gestellt ist auf äußere Autorität und Bequemlichkeit für die Machthaber.“
Wie gelang es Schnabel, Koordinaten einer klarsichtigen, kritischen Bewertung von Phänomenen und Entwicklungen der Gegenwart zu entwickeln? Die Antwort fällt leicht, wenn man seine programmatische Zeitkritik am Verfassungsbruch des Papenschlages sorgfältig liest. Er war ein Mann, der seine Maßstäbe aus dem freiheitlichen Verfassungsstaat entwickelte, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte. Er bekannte sich zu einem Bildungssystems, wie es im 18. und 19. Jahrhundert durchgesetzt worden war, eines Systems der schulischen Bildung und der Kulturpflege und der Gesinnungsbildung, das eben nicht „Sache des Reiches“ war.
Nationale Willensbildung konnte für Schnabel niemals das Ergebnis einer staatlich bewirkten „Vereinheitlichung der Gesinnung“ sein. Das hatte der „erste Versuch“ der wohl „schlimmsten Vergewaltigung“, der „Kulturkampf“ gezeigt. Aus dem Bekenntnis zur Bildung entwickelt sich bei Schnabel eine historisch reflektierte Kritik: „Heute aber ist unsere ganze abendländische Bildung in Brei und Pulver zerrieben, jeder Philosophieprofessor hat sein eigenes System und hält dieses für das allein seligmachende. Wie viele Propheten sind in den letzten Jahren nacheinander Mode gewesen, sind für Schule und allgemeine Bildung als Heilande empfohlen worden, und nach kurzer Zeit gehörten sie schon zum alten Eisen! Wer die Reklame am besten versteht und den wechselnden Machthabern im Reiche sich zu empfehlen weiß – heute ist es ein Vertreter der sogenannten voraussetzungslosen Wissenschaft, morgen wird es ein Rassentheoretiker sein, übermorgen ein Marxist – wird den Erfolg haben, dass ein System den Schulen und Hochschulen als amtlich abgestempelte ‚Reichskultur’ zugrunde gelegt wird und nach ihm die Willen gerichtet werden. Der Meister, der sich im Ministerium und in den mächtigsten Fakultäten seines Faches eine Stellung zu schaffen weiß, wird seine Schüler auf die Katheder und in die Schulverwaltungen setzen, und nirgends wird eine freie Konkurrenz möglich sein.“
In der Tat: Schnabel war ein Pluralist. Freiheit des Geistes war nur in der Vielheit der Kulturzentren möglich. Deshalb war er ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein Kritiker „autokratischer Positionen“, ein Verächter derjenigen, die sich freiwillig in die Gefolgschaft der öffentlich verbreiteten Stimmung begaben.“ Er war Pluralist, so wie er Föderalist war, denn der Grundgedanke des 19. Jahrhunderts, das Macht und Gewalt zu teilen war, bestimmte sein Denken.
Ihm ging es niemals um gefälliges Denken oder gar um eine emotionale Nationalisierung. Im Zentrum seines politischen Denkens stand die Frage der Verantwortlichkeit – gegen „wissenschaftliche Reklame“, gegen die Zentralisation der Kulturpflege, die er als den Tod der Wissenschaft empfand. Er verlangte „freie Konkurrenz“ und leitete daraus die Verantwortung des politischen Lehrers ab. Er war ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein Mann von gestern im Sinne des „Buches Hiob“. Und gerade dadurch wurde er zu einem Mann, dessen Werk aktuell blieb. Allerdings musste Franz Schnabel durch die Nacht des „Dritten Reiches“ hindurch, um noch einmal seine volle Wirkung als akademischer Lehrer und Erzieher entfalten zu können.
Schnabel zweifelte nicht daran, dass der Staat auch Kulturstaat sei. Das bedeutete für ihn aber nicht, dass der Historiker zum „Hofmaler“ werden müsse, dass sich die Geschichte „nicht über das Niveau von Sedansfeiern“ erhebe. Er kritisierte die „Dienstbarkeit der Geschichtsschreibung im Zeichen des Nationalismus“ und des „Imperialismus“ und damit Treitschke, der die „Stimmung des Volkes“ im Sinne Bismarcks beeinflusste, aber niemals dessen Vertrauen und wohl nicht einmal die Achtung des Kanzlers erlangte. Um dies zu erklären, berief sich Schnabel auf die alte Geschichte und zitierte Sueton, der überliefert, wie sehr Tiberius Zeitgenossen verachtete, die sich in die Knechtschaft – ruunt in servitutem – stürzten.
Der Historiker als Herold der Mächtigen, als Reichstags-Politiker gar, mehr ein „Katheter-Redner“ denn Historiker, „kein Humanist“, sondern ein „Trommler“, der als Monomane sein Auditorium nicht zu überzeugen, sondern zu überreden wusste, der durch „rauschendes Pathos“ verhinderte, dass die Oberflächlichkeit seiner Argumente durchschaut wurde und zugleich die Personifizierung der Alltags-Feststellung war: „Hass macht blind.“
Treitschke war also für Schnabel „das Gegenteil dessen, was vom Historiker erwartet wird: taub und infolgedessen auch geistig unbelehrbar“. Er habe versucht, wie eine unbändige Kraft auf den Staat zu wirken und die Staatsführung auf eine Bahn zu treiben. Ironisierend fasste er sein vernichtendes Urteil über den Historiker, der an den Stammtischen diskutiert in dem knappen Satz zusammen: „Kaiser und Kanzler waren schwächer als dieser Rhetor.“ Und dieser Satz steigerte sich zu dem Vorwurf: „Er hatte nicht die mindeste Achtung vor dem vor ihm sitzenden Auditorium; hemmungslos hat er die politischen Leidenschaften entfesselt. Er bedachte nicht, dass da die jungen Leute saßen, die berufen waren, in den nächsten Jahren Deutschland zu regieren und zu verwalten.“ Welche Alternative bot hingegen Schnabel? „Maxima debetur puero reverentia.“
Deshalb lehnte er die politischen Professoren ab, die das Katheder zur Tribüne machten. Er durchschaute die propagandistische Nationalisierung und wollte sich nicht zum Instrument einer Hyperpolitisierung machen. Deshalb verfiel er dieser Stimmung nicht. Denn er war ein Ordnungsdenker, kein Machthistoriker. Aus diesem Grunde entwickelte er ein tiefes Gespür für Ordnungskonflikte, für den Willen der Menschen, sich eine politische Ordnung zu schaffen, sie zu verstehen, sich stets aufs neue für sie zu entscheiden. Besonders deutlich wird das in seinem Hauptwerk, der vierbändigen „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“.
Das 19. Jahrhundert stellt nach Schnabel die Grundlage der Gegenwart dar. Er machte deutlich, in welchem Maße es mit unseren gegenwärtigen politischen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnissen zusammenhängt. Schnabel wollte immer zeigen, wie die Gegenwart geworden ist. Er schaute aus seiner Gegenwart auf die Vergangenheit, wollte die in dem Vergangenen angelegten Möglichkeiten erkunden, sie bewerten und kritisch befragen. Nur so ließ sich entscheiden, was aus frühen Entwürfen politischer Gestaltung und den Anfängen der Verfassungs- und Ordnungskonflikte geworden war.
Damit erreichte er etwas, was manchen seiner Kollegen nicht vergönnt war: Er sah in der Gegenwart niemals das Ziel, den Endpunkt, die Vollendung der Vergangenheit. Sondern Schnabel verstand es stets, durch die Auseinandersetzung mit der Fülle der in der Geschichte angelegten Möglichkeiten eine Distanzierung von der Gegenwart zu erreichen. Dies war im Jahrhundert der Diktaturen eine entscheidende Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Menschen angesichts totalitärer weltanschaulicher Führungsansprüche von ideologisch legitimierten Zwangssystemen und für die Verteidigung der eigenen Werte durch die Widerständigkeit des Individuums.
Die Gefahren, die von der Homogenierung der Gefühle im Zuge einer Durchpolitisierung der Nation ausgingen, erkannte Schnabel, und folglich auch die Folgen einer „Monopolisierung des Vaterlandes“ durch politische Bewegungen, wie Theodor Heuss einmal kritisch bemerkte. Distanzieren konnte sich nur, wer sich auf gesicherter eigener Wertegrundlage zu behaupten wusste. Entscheidend war der Wille, sich gegenüber politischen Zumutungen in Anstand zu behaupten.
Heute spricht man von Zivilcourage, wenn man diese Art der Distanzierung ausdrücken will. Franz Schnabel kannte diesen Begriff und verwandte ihn in einer Rede, die er anlässlich der Neujahrsfeier der Badischen Staatsregierung im Karlsruher Landestheater hielt. Zivilcourage, sagte er, „(veranlasse) den Einzelnen, zeitig auf Besserung zu dringen, auch wenn er dadurch sich selbst in seinem Kreise unbeliebt (mache)“. Er hielt mit dieser Bemerkung den Deutschen einen Spiegel vor, die es „bei allem Wagemut in geschäftlichen und soldatischen Dingen“ gerade an dieser Bürgertugend hatten fehlen lassen.
Dietrich Bonhoeffer dachte fast fünfzehn Jahre später, am Ende des Jahres 1942, auch über den Begriff „Civilcourage“ nach. „Viel Tapferkeit und Aufopferung“ habe man gezeigt, aber nicht damit gerechnet, dass die „Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag missbraucht werden könne zum Bösen.“ Es fehle das Gefühl für die „Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag.“ Stattdessen sah Bonhoeffer „verantwortungslose Skrupellosigkeit“, auch „selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte“. Deshalb definierte er „Civilcourage“ als eine Folge der „freien Verantwortlichkeit des freien Mannes“, die für ihn auf einem Gott beruhe, der „das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“
Schnabels knapper Satz über die „Zivilcourage“ als wichtigste politische Tugend und Fähigkeit des Individuums im Zeitalter der Diktaturen könnte in das Zentrum einer erneuten Auseinandersetzung mit seinem Werk rücken. Sie ist notwendig, diskutieren die Historiker zur Zeit doch vor allem über die Verstrickung deutscher Historiker in das nationalsozialistische System. Schnabel lehrt uns, eine andere Frage zu stellen. Es geht nicht nur um Anpassung, sondern es geht um die Klärung der Voraussetzungen für geistige Unabhängigkeit, für die Selbstbehauptung durch Distanzierung von Zeitströmungen, die Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Karriere.
Der Begriff der Zivilcourage, den wir eigentlich immer mit Gandhis Protest in Indien verbinden, macht deutlich, dass es beim Blick auf das 20. Jahrhundert der Nationalstaaten nicht um eine identifizierende, sondern nur um eine reflektiert-distanzierende, um eine „brechende“ Geschichtsbetrachtung gehen kann.
Es ging Schnabel nicht um Identifikation mit der Nationalgeschichte, sondern um die Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten, ihrer weißen und eben auch schwarzen Stränge, um die Auseinandersetzung mit einer Ambivalenz und Gebrochenheit, die einer reichsdeutschen Nationalisierung und Politisierung diametral entgegenstand. Das unterschied ihn von Treitschke, dem er mit seiner eigenen Geschichte des 19. Jahrhunderts etwas entgegenstellen wollte, was jenseits der preußisch-deutschen Reichsgründung und allen daraus abzuleitenden Weiterungen eines „inneren Kampfkurses“ lag – gegen Demokraten und Liberale, gegen Katholiken und Sozialdemokraten, gegen die nicht deutsch sprechenden Gruppen, schließlich gegen die Juden.
Wer sich wie Treitschke mit dem preußischen Weg deutscher Geschichte identifizierte und seine Zuhörer emotional erregen wollte, stieß bei Schnabel auf Kritik. „Die historischen Studien“ seien „nicht Sache des Staates“, erklärte er im Jahr vor seiner Emeritierung. Nicht einmal Hobbes, der alle denkbaren Lebensgebiete dem Inhaber der höchsten Gewalt zugeordnet habe, habe von der Geschichte gesprochen. Hofhistoriographen seien zwar als „Spender des Ruhmes“ benutzt worden, aber das „Studium der Vergangenheit zu einem Monopol des Staates zu machen“, sei den absoluten Herrschern nicht gekommen. Erst Napoleon habe den Staat benutzt, um das Bild der Geschichte zu prägen. Napoleon drohte, und hier kommt wieder das Wort Courage in den Blick, wie Schnabel zitierte: „Sollte aber einer die Courage haben anders zu lehren und zu drucken: il faut le décourager par la police.“
Dagegen wandte sich Schnabel und bekannte sich zur „freien Initiative“ der Forscher, die schließlich „den Bonaparte in uns selbst bekämpften“ und sich einer „rückhaltlosen Selbsterkenntnis“ unterzogen: „Kein fremdes Interesse, keine Staatsräson, kein Vorurteil“ sollte die wissenschaftliche Erkenntnis belasten. Das war ein glühendes Bekenntnis zur individuellen Forschung, das allerdings den Tendenzen der organisierten Wissenschaft völlig widersprach. Immer öfter ging der Staat dazu über, wissenschaftliche Großunternehmen zu stützen und zu ermöglichen. Er machte die Forscher von sich abhängig und unterwarf sie seinen Zwecken. Museen, Institute, Kommissionen bildeten große, ständig wachsende Apparate aus, die nur der Staat beschaffen und denen nur er die Räume bauen konnte.“ Die Konsequenzen waren unübersehbar: „Aus dieser Not der sich ins Grenzenlose dehnenden Wissenschaft erwachsen den Staaten eine vorher nie erlebte Macht und Stellung, und dies kam dem Streben der Staaten nach Expansion und Konzentration entgegen.“
Die Konsequenzen sind in der reichsdeutschen Geschichtsschreibung sichtbar, die in Sybel und Treitschke zu gipfeln scheint. Sie hat Schnabel als Gefahr erkannt, sie wollte er überwinden. Das ist der Kern seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts. Schnabel war der Überzeugung, „dass in einer Zeit, die so viele überkommene Werte vernichtet hat, Besseres zu tun ist, als die wenigen feststehenden Formen unseres nationalen Lebens umzuwerfen.“ So hatte er in der Untergangsstunde der Weimarer Republik geschrieben. „Feststehende Formen – das war das Ergebnis der Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts.“
Bis heute hat dieses Jahrhundert unsere Phantasie beflügelt und unser historisches Urteil strapaziert. Es wurde zunächst begriffen vom Anfang her, in der Erinnerung an die Französische Revolution und ihre Folgen, und galt dann als Ausdruck einer Umbrucherfahrung. „Es wird gezeigt, wie die Bindung der Personen und Sachen, die in einer tausendjährigen Gesellschaftsordnung und Staatsordnung eines halben Jahrtausends das 19. Jahrhundert noch erreicht hat, aufgelöst wurde durch eine neue Gesellschafts- und Staatsordnung, durch das Prinzip der freien Bewegung.“
Mit der Reichsgründung verschob sich zumindest in Deutschland die Perspektive. Die europäische Geschichtsdeutung wurde nationalstaatlich verengt. Früh wurde dieses Bild in Schnabels Werk aufgebrochen, der drei „gewaltige Perioden“ konstatierte: „ein kurzes, nur das 19. Jahrhundert umfassende Zeitalter der Freiheit zwischen den beiden Zeitaltern der Autorität, von denen das eine ein volles Jahrhundert in Geltung war und das andere, das Massenzeitalter gerade jetzt sich heranbildet und vermutlich auch von sehr langer Dauer sein wird.“
Von der Einheit des 19. Jahrhunderts spricht heute niemand mehr, stattdessen wird im Nebeneinander von Gegensätzen die Grundlage einer Mehrschichtigkeit und Ambivalenz ausgemacht, die nicht negativ bewertet wird. Denn nach dem 19. Jahrhundert kamen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts - Weltkriege, Zivilisationsbrüche, letztlich der Untergang einer Zivilisation. Was dem 19. Jahrhundert an „Einheit und Tiefe“ abging, sagte Schnabel 1937 in der Neuauflage des ersten Bandes seiner „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“, habe es „ersetzt durch die Breite der Wirkung, durch die bunte Vielgestaltigkeit seiner Motive und durch den Reichtum seiner Formen, seiner Massen und Wandlungen, durch die Rastlosigkeit des schaffenden Willens.“ Ausdruck dieses Prozesses war die Teilnahme der Bevölkerung am geschichtlichen Leben und die Auflösung der abendländischen Einheit im Individualismus.
Schnabels Grundthesen lassen sich nicht nur als Ausdruck kulturkritischer Distanzierung von den Erscheinungen der Gegenwart deuten, sondern sie stellen auch seine Annäherung an die Wirklichkeit der sozialen Entwicklungen dar, die aus dem 19. Jahrhundert das Jahrhundert der fundamentalen Politisierung und Demokratisierung machten.
Wer historische Entwicklungen analysiert, fragt nach Einfluss- und Wirkungsfaktoren, nicht zuletzt nach Akteuren. Wer, so muss gefragt werden, deutete Konflikte, wer hielt die Erinnerung an Auseinandersetzungen im Bewusstsein? Das waren natürlich Politiker, Publizisten, auch Pädagogen und gewiss auch Wissenschaftler. Zu ihnen gehörten die Historiker, die im 19. Jahrhundert nicht selten als die eigentlichen Politikwissenschaftler ihrer Zeit empfunden wurden. Schnabel ist seiner Rolle gerecht geworden. Er wollte kein Präceptor sein, sondern den Sinn für die historischen Grundlagen unserer Maßstäbe und unserer Gegenwart wecken.
Wer seine Texte heute liest, fühlt sich eingeladen, grundsätzlich nachzudenken über die Gesellschaft in der wir leben, und auch immer neu über die Aufgabe des Staates zu reflektieren. Als Industrieunternehmen konnte sich Schnabel den Staat nicht vorstellen. Und unvorstellbar war es ihm, Bildung Nützlichkeitsvorstellungen zu unterwerfen. Er bekannte sich zur Freiheit und zur Verantwortung. Die Pädagogisierung der Universität in den 1970er Jahren, die Bürokratisierung der Bildung in den 1980er Jahren, die Utilitarisierung aller Bildungsbemühungen in den 1990er Jahre hätten ihn herausgefordert. „Heute“, hatte er in den 1930er Jahren formuliert, „ist unsere ganze abendländische Bildung in Brei und Pulver zerrieben“.
Vielleicht sollten die Beschwörer neuer Bildungseliten mit Schnabel lernen, dass Bildung keine Funktion des Geldes, sondern Ausdruck des Willens ist, ihre Grundlagen zu schaffen, zu verteidigen und zu verbessern. Schnabels Werk ist keineswegs nur Ausdruck seiner Zeit, sondern so lange von zeitloser Bedeutung, wie es den Verfassungsstaat gibt, der in Deutschland in seiner Stabilität eben auch das Ergebnis und der Geschichte und der Erfahrungen mit einem diktatorischen System wie dem NS-Staat war. Das wusste Schnabel, dafür wirkte er. Deshalb bin ich froh, dass seiner in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf diese Weise gedacht wird.