Gegen Unrecht vorgehen

Michael Müller


Grußwort des Bundesratspräsidenten und Regierenden Bürgermeisters von Berlin bei der Feierstunde der Bundesregierung am 20. Juli 2018 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin


Wir haben uns heute wieder an dem Ort versammelt, der untrennbar mit den Taten der Männer verbunden ist, die vor 74 Jahren den Versuch unternahmen, das mörderische System der Nationalsozia-listen zu stürzen. An dem Ort, wo sie die Tat planten und wo sie nach dem Scheitern brutal hingerichtet wurden.


Neun Jahre später sprach Berlins erster Regierender Bürgermeister nach dem Krieg, Ernst Reuter, bei der Einweihung des Denkmals für die Opfer davon, dass der 20. Juli 1944 „das erste sichtbare, weithin wirkende Fanal“ war, „das der Welt zeigte, dass in Deutschland der Wille zur Freiheit und der Wille zum eigenen Leben nicht untergegangen war.“


Der Wille zur Freiheit – für die Männer des 20. Juli war er eines der Motive für das Attentat, die sie in ihrer Regierungserklärung für die Zeit nach der Diktatur festhielten. Es hieß hier: „Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wieder hergestellt.“ Mit diesem kurzen Satz wurde nicht nur das Ziel, sondern auch all das beschrieben, was die nationalsozialistische Diktatur zerschlagen hatte: die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit und die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Würde und der moralischen Integrität.


Mit dem zunehmenden Zweifel am nationalsozialistischen System wuchs in den Männern der Wille zur Opposition und schließlich die Bereitschaft zum Tyrannenmord. Sie, die sich einst durch Eid zur Treue gegenüber Adolf Hitler verpflichtet hatten, waren bereit, dafür auf das Äußerste zu gehen. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft, es muss geschehen, denn dieser Mann ist das Böse an sich“, so ist es von Claus Schenk Graf von Stauffenberg überliefert.


Sie machten ihr „Gewissen zur moralischen Instanz“, wie Fritz Stern es formulierte und nahmen sich selbst in die Pflicht - für die Beseitigung Hitlers, für den Staatsstreich und damit auch für das Ende von Krieg und Völkermord. Dafür riskierten sie alles - für sich und ihre Familien und ließen am Ende ihr Leben. Das Attentat scheiterte und die mutigen Verschwörer Ludwig Beck, Friedrich Olbricht, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Werner von Haeften wurden hier im Hof noch in der Nacht des 20. Juli 1944 ermordet. Wir wissen: in den Tagen nach dem


Attentat begann in einem Racheakt eine gnadenlose Jagd auf Angehörige und weitere Regimegegnerinnen und -gegner. Viele Verurteilungen und Hinrichtungen folgten.


Meine Damen und Herren,


die Taten der Männer des 20. Juli stehen für unermesslichen Mut, für Entschlossenheit und für eine schonungslose Selbstverpflichtung auf ihre verinnerlichten Grundwerte.


Wir stehen heute hier voller Respekt vor der Tat dieser Männer, um ihrer zu gedenken und wir nehmen dabei alle anderen mutigen Frauen und Männer des Widerstandes in unser Gedenken mit auf, die sich mit kleinen und großen Taten der mörderischen Diktatur der Nationalsozialisten widersetzten und zu Tausenden dafür verfolgt, gequält und ermordet wurden.


Und wir stehen hier - 74 Jahre nach dem Attentat des 20. Juli 1944 - in dem Wissen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit nicht selbstverständlich sind, dass sie in unserer Geschichte mehr-fach erkämpft, verloren und neu errungen werden mussten. Unweigerlich kommen wir damit auch zur Verantwortung, die sich mit diesem Erbe verbindet. Verantwortung dafür, die Erinnerung an die tapferen Frauen und Männer wach zu halten, die sich dem verbrecherischen System entgegen stellten. Gestern kamen wir im Roten Rathaus zusammen, um mit den Hinterbliebenen der ermordeten Angehörigen zu gedenken. Viele von ihnen engagieren sich heute dafür, dass ihr Gedächtnis bewahrt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird, in Deutschland und in ganz Europa. Denn die Frage der Freiheit ist keine Frage, die an nationalen Grenzen endet. Auch das hatten die mutigen Verschwörer im Auge, als sie ihre Tat planten und begingen.


Ihre Initiative, liebe Angehörige, den Widerstandsakt des 20. Juli 1944 gerade heute, in einer Situation der Zerrissenheit in Europa, wieder in den Rahmen der europäischen Idee einzubetten, ist ein großartiges Anliegen. Wir brauchen ein Europa, das wieder an seine Vision von einem geeinten, solidarischen und humanistischen Europa anknüpft. Ihre Botschaft für ein vereintes Europa kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich danke Ihnen sehr für diesen Aufruf. Wir alle danken Ihnen, dass Sie das Andenken der geliebten verlorenen Menschen mit diesem Appell für Europa verbinden.


Meine Damen und Herren,


der Philosoph und Shoa-Überlebende Elie Wiesel mahnt uns, dass ein wichtiger Schlüssel gegen das Unrecht in dem Kampf gegen die Gleichgültigkeit liege. Nicht Hass sei das Gegenteil von Liebe, sondern die Gleichgültigkeit. Und er macht damit klar, dass Brutalität und Grausamkeit immer in der Hand des Einzelnen liegen und damit auch die Chance, sich zu verweigern und dagegen zu erheben. Und er fordert uns auf, auch in Zeiten der Machtlosigkeit, gegen Unrecht vorzugehen.


Damit ist die Verantwortung zur Wachsamkeit an uns alle übergeben und das in den viel einfacheren Zeiten der Demokratie – die Pflicht zur Wachsamkeit gegen die schleichende Etablierung von Intoleranz und Vorurteilen, von Antisemitismus und Rechtspopulismus. Wir alle erleben, wie auch heute Menschen Hass und Intoleranz schüren - auf dem Rücken der Schwachen. Auf Kosten von Menschen, die sich in allergrößter Not mit ihren Familien auf die gefährliche Flucht begeben. Wir erleben, wie Minderheiten gegen Minderheiten ausgespielt werden.


Verantwortung heute heißt: für Humanität und Solidarität einzutreten. Und das heißt auch: offen gegen Antisemitismus, Rassismus und jegliche Form der Menschenfeindlichkeit aufzustehen und deutlich zu machen – nie mehr und nicht mit uns!


Und der wohl wichtigste Schlüssel zur Mobilisierung der eigenen Widerstandskräfte gegen das Unrecht ist der des Wissens. Das Wissen um die Geschehnisse, die Mechanismen der Diktatur und ihre Motive.


Ich danke Ihnen, Herr Professor Steinbach, Herr Professor Tuchel und Herr Professor von Steinau-Steinrück, dass Sie und Ihre engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit Ihrer Arbeit jeden Tag dazu beitragen, die Menschen über die Geschehnisse vom 20. Juli 1944 zu informieren und die Erinnerung wachzuhalten.


Hier an diesem Ort in Berlin und an vielen anderen Orten, die für Mut, Entschlossenheit und Tapferkeit gegen die Diktatur stehen. Wir stehen heute hier vor ihnen, den Frauen und Männern des deutschen Widerstandes und wir verneigen uns vor ihrem Mut.

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