Gertrud Luckners Hilfe für jüdische Menschen im Spiegel polizeilicher Ermittlungsakten
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Hans-Josef Wollasch
Gertrud Luckners Hilfe für jüdische Menschen im Spiegel polizeilicher Ermittlungsakten
Vortrag von Dr. Hans-Josef Wollasch am 15. Juli 1999 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Was bringt uns dazu, eine Frau wie Gertrud Luckner im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Gedenkanlasses „20. Juli“ in den Scheinwerferkegel hereinzunehmen, der zur Recht auf die Menschen gerichtet ist, die vor 55 Jahren auf höchster politischer Ebene dem totalitären System in Deutschland ein Ende machen wollten, auf ihr Gewissen horchend und ihr Leben wagend? Ist sie eine Ausnahmepersönlichkeit, als Alibi benutzbar, oder eine zufällig ausgewählte Repräsentantin für viele Anpassungsverweigernde an der Basis? Oder ist solches Nachfragen gegenstandslos, wenn Widerstehen damals in jeglicher Motivation und Ausformung seine je eigene Achtung beanspruchen darf?
Aussagen dazu enthält auch das Buch, über das wir hier sprechen. Das Charakteristische und zugleich das Spannende an seinem Inhalt ist, wie sich die Hilfetätigkeit einer Gertrud Luckner und vieler Menschen an ihrer Seite für die Juden in den polizeilichen Ermittlungsakten spiegelt.
Dazu möchte ich Ihnen einiges berichten.
32 Jahre lang, von 1936 bis 1968, war Gertrud Luckner Mitarbeiterin des Deutschen Caritasverbandes gewesen, weitere 27 Jahre dann dessen Pensionärin. So war es nur sinnvoll, und von ihr persönlich auch schon begonnen, ihren dokumentarischen Nachlass im Archiv dieses Verbandes zu hinterlegen. In wahrhaft chaotischem Zustand übernommen und in zermürbender Arbeit geordnet, bietet er unerwartet zahlreiche und wichtige Zeugnisse zum Lebensweg dieses Menschen, beginnend mit der Herkunft von Jane Hartmann und der Ausbildung der adoptierten Gertrud Jane Luckner. Kristallisationspunkte der Biographie sind das entschlossene Eintreten für die vom NS-Staat rechtlos gemachten und verfolgten Juden sowie, daraus sich entfaltend, nach 1945 die Pionierleistung der christlich-jüdischen Verständigung. Die überreichen Ehrungen und Auszeichnungen, die ihr von kirchlicher und weltlicher Seite, im In- und Ausland zuerkannt wurden, lassen die Dankbarkeit und Hochachtung erahnen, die ihr vor allem von jüdisch-israelischer Seite entgegengebracht wurden.
„Die kleine Dame mit dem blauen Mantel“, wie Gertrud Luckner oft genannt wurde, die so unscheinbar wirkte und so unauffällig auftrat, hatte seit Mitte der dreißiger Jahre vom äußersten Südwesten des Deutschen Reiches aus wertvolle Verbindungen in die Hauptstadt aufgebaut: Sie war die Delegierte des Deutschen Caritasverbandes, der zusammen mit dem St. Raphaelsverein in Hamburg im März 1935 den „Hilfsausschuss für katholische Nichtarier“ in Berlin gründete.
Mit der Geschäftsführerin des 1938 errichteten „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, Margarete Sommer, pflegte sie engen Meinungsaustausch über das Organisieren von Hilfemaßnahmen für jüdische Menschen.
Eine der Mitarbeiterinnen dieses Hilfswerks war Gertrud Jaffé, die mit Gertrud Luckner und anderen versuchte, ein jüdisches Kleinkind vor der Deportation zu retten - am Ende ohne Erfolg und mit dem Opfer des eigenen Lebens.
Der Rabbiner Leo Baeck in Berlin, den Gertrud Luckner hoch verehrte, öffnete ihr als Präsident der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ den Zugang zu den Jüdischen Kultusgemeinden in den deutschen Großstädten. Als Kurier gewissermaßen für die noch möglichen Hilfen und Solidaritätssignale zugunsten der Verfolgten hatte die Caritasreferentin aus Freiburg bis in Widerstandskreise hinein ihre Fäden geknüpft.
Der Gedanke, ihre Erlebnisse während des Dritten Reiches später einmal anhand der polizeilichen Berichte über sie zu schildern, war Gertrud Luckner bereits in der Gestapohaft gekommen. Noch mit 88 Jahren besann sie sich darauf: „Ich bin ja neun Wochen vernommen worden und drei Wochen jede Nacht vernommen worden, von abends um sechs bis zum nächsten Morgen um acht. Und dann lagen so auf dem Tisch so Durchschriften, so ein Häufchen von x-Durchschriften von diesen Akten. Und da habe ich so eines Nachts gedacht: ‘Wenn du hier lebend rauskommst, ist eines dieser Häufchen noch irgendwo’.“ Tatsächlich bekam sie nach überstandener KZ-Zeit in Ravensbrück, im August 1947 die Möglichkeit, zusammen mit dem ihr befreundeten Freiburger Generalstaatsanwalt Karl Siegfried Bader die vom Geheimdienst der britischen Militärregierung in Düsseldorf sichergestellten Gestapo-Akten über sie einzusehen. 200 Seiten durften die beiden aus den drei umfangreichen Aktenbänden photographieren lassen; nachdem die Originalakten seit 1973 als verschollen gelten, sind diese Reproduktionen eine um so wertvollere Quelle geworden.
Oft hat Gertrud Luckner von den überaus wichtigen Gestapo-Dokumenten gesprochen, die sie besaß, und von ihrem Plan, über deren Inhalt einmal zu schreiben. Aber solange sie die Zeitschrift „Freiburger Rundbrief“ in alleiniger Regie redigierte, fehlte ihr dazu die Zeit, und als sie diese Aufgabe 87jährig niederlegen musste, waren ihre Ressourcen aufgebraucht. So hütete sie die seltenen Zeitzeugnisse fast eifersüchtig, zusammen mit vielen persönlichen Dokumenten ihres Lebens, ursprünglich in Stahlkassetten und Ledertaschen, bis ihr dann im hohen Alter in den Papierbergen ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung der Überblick verloren ging und vieles sich vermengte. Aus voluminösen Materialabgaben zu Lebzeiten schon und dann aus dem Nachlass konnten in mühseligem Sortieren noch 167 der ehemals 200 Blatt Kopien der Gestapo-Akten gesichert werden. Ihre Bekanntmachung ist eine Verpflichtung gegenüber einer außergewöhnlichen Frau und ihrem Lebenswerk, ein Beitrag zu ihrer memoria, ein Bericht vom Überleben der Menschlichkeiten im totalitären Staat.
Dieser Nachweis wird dadurch in besonderem Maße glaubwürdig, als er unbeabsichtigt von den damaligen Machthabern erbracht wird. Was in der Sichtweise der Geheimen Staatspolizei als schwerwiegender Vorwurf gegen die „äußerst vorsichtige und erfahrungsreiche Agentin“ Luckner vorgetragen wird, zeigt in Umkehrung ihren Einsatz für Entrechtete und Verfolgte. Am 14. April 1943, drei Wochen nach der Verhaftung, beantragt die federführende Staatspolizeileitstelle Düsseldorf beim Reichssicherheitshauptamt Berlin Schutzhaft, weil „die Luckner im Auftrage des Deutschen Episkopats und insbesondere des Erzbischofs Dr. Gröber in Freiburg in größerem Umfang mit jüdischen Kreisen im gesamten Reichsgebiet Verbindung aufgenommen, ihnen unbeachtet der Konfessionszugehörigkeit geldliche Unterstützung gewährt hat, sowie bei der Verschiebung jüdischen Vermögens behilflich gewesen ist. Darüber hinaus hat die Luckner ein Mitarbeiternetz innerhalb des Reichsgebietes für die Betreuung der Juden aufgebaut und in weltanschaulich-politischem Nachrichtenaustausch mit staatsfeindlichen Kreisen im Auslande gestanden. Es besteht weiter der Verdacht, daß sie Juden beim illegalen Verlassen des Reichsgebietes behilflich gewesen ist.“
Die Mitverantwortung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) für die Tätigkeit Gertrud Luckners stand nach Überzeugung der Gestapo einwandfrei fest. Er war ihr Dienstgeber und bot ihr im Rahmen der sogenannten „Kirchlichen Kriegshilfestelle“ im Werthmannshaus jegliche Arbeitsmöglichkeit. Der Präsident Kreutz wurde von ihr laufend informiert, und die Mitwirkung von Caritasdirektoren, Fürsorgerinnen, Sekretärinnen der Caritas in und außerhalb Freiburgs galt als der „klarste Beweis“ dafür, wie intensiv von der Caritasorganisation aus „diese illegale Arbeit für das Judentum“ bejaht und unterstützt wurde.
Ein eher noch größeres Maß an Verantwortung wies die Gestapo der katholischen Kirche zu, wenn Bischöfe eigene Hilfsfonds für die Betreuung christlicher und nichtchristlicher Juden unterhielten und einer Aktivistin wie Gertrud Luckner zur freien Verfügung stellten. Damit und durch die Mitwirkung vieler Geistlicher sei belegt, „daß die katholische Kirche in Deutschland in betonter Ablehnung der deutschen Judenpolitik systematisch die Juden unterstützt, ihnen bei der Flucht behilflich ist und keine Mittel scheut, ihnen nicht nur die Lebensweise zu erleichtern, sondern auch ihren illegalen Aufenthalt im Reichsgebiet möglich zu machen. Die mit der Durchführung dieser Aufgaben betrauten Personen genießen weitest gehende Unterstützung des Episkopates.“
Der Fall Luckner wurde bis vor den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und den Chef der Reichskanzlei, Martin Bormann, getragen, da er „für die Beurteilung der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Staate schwerwiegend sei“. Im gleichen Zusammenhang - dies war im Juni 1943 - arbeitete man im RSHA in Berlin an einer „Denkschrift über das Verhalten des Erzbischofs Dr. Gröber, Freiburg, während des Krieges“. Ohnehin sah die Gestapo im Freiburger Erzbischof, dem Protektor des DCV, den exponierten Vertreter des deutschen Episkopates, der sich durch seine Auftragserteilung an Gertrud Luckner vom Dezember 1941, durch die Geldmittel, die er für ihre Arbeit bereitstellte und ihr anvertraute, schließlich durch die parteinehmenden Nachfragen nach ihrem Verbleib und Schicksal hinter die Hilfe für jüdische Menschen stellte. Aber mehr noch als dadurch wurde er wegen der befürchteten nachrichtendienstlichen Tätigkeit Gertrud Luckners zum Zielobjekt, zum übergeordneten Betreff der Ermittlungen gegen sie: „Nachrichtenzentrale des Erzbischofs Gröber in Freiburg“.
In beklemmender Weise veranschaulicht die Lektüre der Gestapo-Akten, wie schnell, pedantisch und wirksam über einen ins Fadenkreuz der Gestapo geratenen Menschen das Netz der Observierung gelegt wurde, bis hin zur systematischen Postkontrolle, um Namen und Anschriften zu erfassen bis hin zur fahrplangerechten Überwachung von Reisen oder zur Einsetzung einer „Vertrauensperson“ in der Adelhauser Kirche in Freiburg, wo Gertrud Luckner täglich die hl. Messe besuchte.
Sogar von Angestellten bei der Caritaszentrale in Freiburg und beim Caritasverband in Düsseldorf fragte die Gestapo Informationen über Gertrud Luckner und ihre Tätigkeit ab, diese Auskunftsquellen sorgsam abschirmend.
Aber nicht nur von V-Leuten erfährt man aus den Dokumenten, sondern auch von zahlreichen Helfenden an der Seite Gertrud Luckners, die mit vielerlei oft kleinen Diensten ihre Hilfe für jüdische Menschen mittrugen. Mittels ihrer auf immer mehr Beteiligte ausgeweiteten Postüberwachung und Personenüberprüfung musste die Gestapo eine wachsende Zahl Sympathisierender zur Kenntnis nehmen, wobei sie manches Mal über Vornamen oder gar nur Anfangsbuchstaben zu rätseln hatte. Als sie schließlich bei der Verhaftung Gertrud Luckners am Abend des 24. März 1943 im Zug zwischen Offenburg und Karlsruhe „aufschlußreiches Adressenmaterial aus fast allen größeren Städten des Reiches“ beschlagnahmen konnte, hatte sie rund 80 Verdächtige zu durchleuchten (Die Zahl der Helfenden verdoppelt sich fast, wenn man die unmittelbare Nachkriegskorrespondenz Gertrud Luckners mit der frischen Erinnerung an die Ereignisse vor 1945 auswertet).
Acht Monate zogen sich die bürokratisch genau festgehaltenen Ermittlungen und Vernehmungen gegen diese Personen hin, gegen Hausfrauen, Fürsorgerinnen, Caritasdirektoren, Ordensfrauen, Geistliche, Quäker, Juden. So lange blieb Gertrud Luckner in den Polizeigefängnissen Karlsruhe, Wuppertal und Düsseldorf in Haft. Ihre eigenen Verhöre überstand sie hochkonzentriert, nächtliches Wachsein gewohnt, mit dem Glück, körperlich nicht misshandelt zu werden; es sei bei Drohungen geblieben, schrieb sie im September 1945, „angerührt hat mich nie jemand.“
Bedrohlich wurde die Situation für sie, als sie am 22. Juli 1943 auf Anforderung des Reichssicherheitshauptamts in das Gefängnis Berlin-Alexanderplatz verlegt wurde, weil man dort im Zuge aktueller Ermittlungen gegen Personen, „die in einer Hoch- und Landesverratssache verwickelt sind“, auf Querverbindungen zu Gertrud Luckner gestoßen war. Anschuldigungen in dieser Richtung führten in den meisten Fällen zum Prozess vor dem Volksgerichtshof, zumal Gertrud Luckner tatsächlich nach ihren eigenen Worten Widerstandskreisen sehr nahe stand. Mit Namen nannte sie Dietrich Bonhoeffer, Ernst von Harnack, P. Alfred Delp SJ: „Die haben mir auch immer gesagt, was man machen muß, wie man retten kann. Ich habe die ja alle besucht.“
Am 5. November 1943 wurde die „Pazifistin, katholische Aktivistin und fanatische Gegnerin des Nationalsozialismus“ Gertrud Luckner, der man ihre Judenhilfe, nicht aber das Betreiben einer Nachrichtenzentrale nachweisen konnte, in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg in Mecklenburg eingeliefert. Für die Gestapoleitstelle Düsseldorf hatte damit „die Angelegenheit Frl. Dr. Luckner (inzwischen) ihre Erledigung gefunden.“ Den Deutschen Caritasverband und das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg ließ man über Verbleib und Schicksal Gertrud Luckners weiterhin im Ungewissen, ja man hatte dort sogar die Falschmeldung verbreitet, sie sei bereits „umgelegt“ worden.
Die eineinhalb Jahre im KZ hat Gertrud Luckner überlebt, dank ihrer individuellen Energie und inneren Gefestigkeit, dank Briefen und Lebensmittelpaketen von draußen, dank aber auch der schützenden Wirkung einer kleinen Gruppe von Schicksalsgenossinnen um sie herum, bestehend aus der Liobaschwester Eva („Placida“) Laubhardt aus Freiburg-Günterstal, der Lehrerin, Quäkerin und Sozialdemokratin Hildegard Hansche aus Berlin, der Seelsorgehelferin Katharina Katzenmaier aus dem saarländischen Püttlingen und einigen Wiener Kommunistinnen.
Über den Marsch aus dem Lager mit der Kolonne der „letzten 500“ Ende April 1945, durch das sich auflösende Kriegsgeschehen in Mecklenburg, über den abenteuerlichen Weg nach Süddeutschland und das Sich-hinein-Tasten in eine neue Aufgabe und Alltagsnormalität berichtet Gertrud Luckner in einem Tagebuch, das zusammen mit einer Darstellung ihrer Versöhnungs- und Verständigungsarbeit zu ihrem 100. Geburtstag vom „Freiburger Rundbrief e.V.“ veröffentlicht werden wird.
Die widersprüchlichen Empfindungen des Sich-Freuens über die eigene Lebensbewahrung, des Trauerns über zu wenige gerettete Leben, der Schuld, Mithelfende ins Unglück gebracht zu haben, verdrängte Gertrud Luckner im Übermaß der Arbeit. Und wenn sie auch 1947 die verblüffende Äußerung machen konnte, sie habe die Zeit im KZ „als eine besondere Gnade“ für sich werten können, so wurde sie doch im Alter vom erlebten Graun eingeholt. Um einen hohen persönlichen Preis von zwei Jahren der Unfreiheit und Lebensbedrohung und den daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und seelischen Belastungen hat die konsequente Pazifistin, Quäkerin und ökumenische Christin Gertrud Luckner ein „testimonium caritatis“ abgelegt, wie es Karl Siegfried Bader ausgedrückt hat, ein lebendiges Zeugnis der Nächstenliebe, mit dem sie manchem Verzweifelten „den Glauben an die Menschheit“ wiedergegeben hat.
Hans-Josef Wollasch
Gertrud Luckners Hilfe für jüdische Menschen im Spiegel polizeilicher Ermittlungsakten
Vortrag von Dr. Hans-Josef Wollasch am 15. Juli 1999 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Was bringt uns dazu, eine Frau wie Gertrud Luckner im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Gedenkanlasses „20. Juli“ in den Scheinwerferkegel hereinzunehmen, der zur Recht auf die Menschen gerichtet ist, die vor 55 Jahren auf höchster politischer Ebene dem totalitären System in Deutschland ein Ende machen wollten, auf ihr Gewissen horchend und ihr Leben wagend? Ist sie eine Ausnahmepersönlichkeit, als Alibi benutzbar, oder eine zufällig ausgewählte Repräsentantin für viele Anpassungsverweigernde an der Basis? Oder ist solches Nachfragen gegenstandslos, wenn Widerstehen damals in jeglicher Motivation und Ausformung seine je eigene Achtung beanspruchen darf?
Aussagen dazu enthält auch das Buch, über das wir hier sprechen. Das Charakteristische und zugleich das Spannende an seinem Inhalt ist, wie sich die Hilfetätigkeit einer Gertrud Luckner und vieler Menschen an ihrer Seite für die Juden in den polizeilichen Ermittlungsakten spiegelt.
Dazu möchte ich Ihnen einiges berichten.
32 Jahre lang, von 1936 bis 1968, war Gertrud Luckner Mitarbeiterin des Deutschen Caritasverbandes gewesen, weitere 27 Jahre dann dessen Pensionärin. So war es nur sinnvoll, und von ihr persönlich auch schon begonnen, ihren dokumentarischen Nachlass im Archiv dieses Verbandes zu hinterlegen. In wahrhaft chaotischem Zustand übernommen und in zermürbender Arbeit geordnet, bietet er unerwartet zahlreiche und wichtige Zeugnisse zum Lebensweg dieses Menschen, beginnend mit der Herkunft von Jane Hartmann und der Ausbildung der adoptierten Gertrud Jane Luckner. Kristallisationspunkte der Biographie sind das entschlossene Eintreten für die vom NS-Staat rechtlos gemachten und verfolgten Juden sowie, daraus sich entfaltend, nach 1945 die Pionierleistung der christlich-jüdischen Verständigung. Die überreichen Ehrungen und Auszeichnungen, die ihr von kirchlicher und weltlicher Seite, im In- und Ausland zuerkannt wurden, lassen die Dankbarkeit und Hochachtung erahnen, die ihr vor allem von jüdisch-israelischer Seite entgegengebracht wurden.
„Die kleine Dame mit dem blauen Mantel“, wie Gertrud Luckner oft genannt wurde, die so unscheinbar wirkte und so unauffällig auftrat, hatte seit Mitte der dreißiger Jahre vom äußersten Südwesten des Deutschen Reiches aus wertvolle Verbindungen in die Hauptstadt aufgebaut: Sie war die Delegierte des Deutschen Caritasverbandes, der zusammen mit dem St. Raphaelsverein in Hamburg im März 1935 den „Hilfsausschuss für katholische Nichtarier“ in Berlin gründete.
Mit der Geschäftsführerin des 1938 errichteten „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, Margarete Sommer, pflegte sie engen Meinungsaustausch über das Organisieren von Hilfemaßnahmen für jüdische Menschen.
Eine der Mitarbeiterinnen dieses Hilfswerks war Gertrud Jaffé, die mit Gertrud Luckner und anderen versuchte, ein jüdisches Kleinkind vor der Deportation zu retten - am Ende ohne Erfolg und mit dem Opfer des eigenen Lebens.
Der Rabbiner Leo Baeck in Berlin, den Gertrud Luckner hoch verehrte, öffnete ihr als Präsident der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ den Zugang zu den Jüdischen Kultusgemeinden in den deutschen Großstädten. Als Kurier gewissermaßen für die noch möglichen Hilfen und Solidaritätssignale zugunsten der Verfolgten hatte die Caritasreferentin aus Freiburg bis in Widerstandskreise hinein ihre Fäden geknüpft.
Der Gedanke, ihre Erlebnisse während des Dritten Reiches später einmal anhand der polizeilichen Berichte über sie zu schildern, war Gertrud Luckner bereits in der Gestapohaft gekommen. Noch mit 88 Jahren besann sie sich darauf: „Ich bin ja neun Wochen vernommen worden und drei Wochen jede Nacht vernommen worden, von abends um sechs bis zum nächsten Morgen um acht. Und dann lagen so auf dem Tisch so Durchschriften, so ein Häufchen von x-Durchschriften von diesen Akten. Und da habe ich so eines Nachts gedacht: ‘Wenn du hier lebend rauskommst, ist eines dieser Häufchen noch irgendwo’.“ Tatsächlich bekam sie nach überstandener KZ-Zeit in Ravensbrück, im August 1947 die Möglichkeit, zusammen mit dem ihr befreundeten Freiburger Generalstaatsanwalt Karl Siegfried Bader die vom Geheimdienst der britischen Militärregierung in Düsseldorf sichergestellten Gestapo-Akten über sie einzusehen. 200 Seiten durften die beiden aus den drei umfangreichen Aktenbänden photographieren lassen; nachdem die Originalakten seit 1973 als verschollen gelten, sind diese Reproduktionen eine um so wertvollere Quelle geworden.
Oft hat Gertrud Luckner von den überaus wichtigen Gestapo-Dokumenten gesprochen, die sie besaß, und von ihrem Plan, über deren Inhalt einmal zu schreiben. Aber solange sie die Zeitschrift „Freiburger Rundbrief“ in alleiniger Regie redigierte, fehlte ihr dazu die Zeit, und als sie diese Aufgabe 87jährig niederlegen musste, waren ihre Ressourcen aufgebraucht. So hütete sie die seltenen Zeitzeugnisse fast eifersüchtig, zusammen mit vielen persönlichen Dokumenten ihres Lebens, ursprünglich in Stahlkassetten und Ledertaschen, bis ihr dann im hohen Alter in den Papierbergen ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung der Überblick verloren ging und vieles sich vermengte. Aus voluminösen Materialabgaben zu Lebzeiten schon und dann aus dem Nachlass konnten in mühseligem Sortieren noch 167 der ehemals 200 Blatt Kopien der Gestapo-Akten gesichert werden. Ihre Bekanntmachung ist eine Verpflichtung gegenüber einer außergewöhnlichen Frau und ihrem Lebenswerk, ein Beitrag zu ihrer memoria, ein Bericht vom Überleben der Menschlichkeiten im totalitären Staat.
Dieser Nachweis wird dadurch in besonderem Maße glaubwürdig, als er unbeabsichtigt von den damaligen Machthabern erbracht wird. Was in der Sichtweise der Geheimen Staatspolizei als schwerwiegender Vorwurf gegen die „äußerst vorsichtige und erfahrungsreiche Agentin“ Luckner vorgetragen wird, zeigt in Umkehrung ihren Einsatz für Entrechtete und Verfolgte. Am 14. April 1943, drei Wochen nach der Verhaftung, beantragt die federführende Staatspolizeileitstelle Düsseldorf beim Reichssicherheitshauptamt Berlin Schutzhaft, weil „die Luckner im Auftrage des Deutschen Episkopats und insbesondere des Erzbischofs Dr. Gröber in Freiburg in größerem Umfang mit jüdischen Kreisen im gesamten Reichsgebiet Verbindung aufgenommen, ihnen unbeachtet der Konfessionszugehörigkeit geldliche Unterstützung gewährt hat, sowie bei der Verschiebung jüdischen Vermögens behilflich gewesen ist. Darüber hinaus hat die Luckner ein Mitarbeiternetz innerhalb des Reichsgebietes für die Betreuung der Juden aufgebaut und in weltanschaulich-politischem Nachrichtenaustausch mit staatsfeindlichen Kreisen im Auslande gestanden. Es besteht weiter der Verdacht, daß sie Juden beim illegalen Verlassen des Reichsgebietes behilflich gewesen ist.“
Die Mitverantwortung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) für die Tätigkeit Gertrud Luckners stand nach Überzeugung der Gestapo einwandfrei fest. Er war ihr Dienstgeber und bot ihr im Rahmen der sogenannten „Kirchlichen Kriegshilfestelle“ im Werthmannshaus jegliche Arbeitsmöglichkeit. Der Präsident Kreutz wurde von ihr laufend informiert, und die Mitwirkung von Caritasdirektoren, Fürsorgerinnen, Sekretärinnen der Caritas in und außerhalb Freiburgs galt als der „klarste Beweis“ dafür, wie intensiv von der Caritasorganisation aus „diese illegale Arbeit für das Judentum“ bejaht und unterstützt wurde.
Ein eher noch größeres Maß an Verantwortung wies die Gestapo der katholischen Kirche zu, wenn Bischöfe eigene Hilfsfonds für die Betreuung christlicher und nichtchristlicher Juden unterhielten und einer Aktivistin wie Gertrud Luckner zur freien Verfügung stellten. Damit und durch die Mitwirkung vieler Geistlicher sei belegt, „daß die katholische Kirche in Deutschland in betonter Ablehnung der deutschen Judenpolitik systematisch die Juden unterstützt, ihnen bei der Flucht behilflich ist und keine Mittel scheut, ihnen nicht nur die Lebensweise zu erleichtern, sondern auch ihren illegalen Aufenthalt im Reichsgebiet möglich zu machen. Die mit der Durchführung dieser Aufgaben betrauten Personen genießen weitest gehende Unterstützung des Episkopates.“
Der Fall Luckner wurde bis vor den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und den Chef der Reichskanzlei, Martin Bormann, getragen, da er „für die Beurteilung der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Staate schwerwiegend sei“. Im gleichen Zusammenhang - dies war im Juni 1943 - arbeitete man im RSHA in Berlin an einer „Denkschrift über das Verhalten des Erzbischofs Dr. Gröber, Freiburg, während des Krieges“. Ohnehin sah die Gestapo im Freiburger Erzbischof, dem Protektor des DCV, den exponierten Vertreter des deutschen Episkopates, der sich durch seine Auftragserteilung an Gertrud Luckner vom Dezember 1941, durch die Geldmittel, die er für ihre Arbeit bereitstellte und ihr anvertraute, schließlich durch die parteinehmenden Nachfragen nach ihrem Verbleib und Schicksal hinter die Hilfe für jüdische Menschen stellte. Aber mehr noch als dadurch wurde er wegen der befürchteten nachrichtendienstlichen Tätigkeit Gertrud Luckners zum Zielobjekt, zum übergeordneten Betreff der Ermittlungen gegen sie: „Nachrichtenzentrale des Erzbischofs Gröber in Freiburg“.
In beklemmender Weise veranschaulicht die Lektüre der Gestapo-Akten, wie schnell, pedantisch und wirksam über einen ins Fadenkreuz der Gestapo geratenen Menschen das Netz der Observierung gelegt wurde, bis hin zur systematischen Postkontrolle, um Namen und Anschriften zu erfassen bis hin zur fahrplangerechten Überwachung von Reisen oder zur Einsetzung einer „Vertrauensperson“ in der Adelhauser Kirche in Freiburg, wo Gertrud Luckner täglich die hl. Messe besuchte.
Sogar von Angestellten bei der Caritaszentrale in Freiburg und beim Caritasverband in Düsseldorf fragte die Gestapo Informationen über Gertrud Luckner und ihre Tätigkeit ab, diese Auskunftsquellen sorgsam abschirmend.
Aber nicht nur von V-Leuten erfährt man aus den Dokumenten, sondern auch von zahlreichen Helfenden an der Seite Gertrud Luckners, die mit vielerlei oft kleinen Diensten ihre Hilfe für jüdische Menschen mittrugen. Mittels ihrer auf immer mehr Beteiligte ausgeweiteten Postüberwachung und Personenüberprüfung musste die Gestapo eine wachsende Zahl Sympathisierender zur Kenntnis nehmen, wobei sie manches Mal über Vornamen oder gar nur Anfangsbuchstaben zu rätseln hatte. Als sie schließlich bei der Verhaftung Gertrud Luckners am Abend des 24. März 1943 im Zug zwischen Offenburg und Karlsruhe „aufschlußreiches Adressenmaterial aus fast allen größeren Städten des Reiches“ beschlagnahmen konnte, hatte sie rund 80 Verdächtige zu durchleuchten (Die Zahl der Helfenden verdoppelt sich fast, wenn man die unmittelbare Nachkriegskorrespondenz Gertrud Luckners mit der frischen Erinnerung an die Ereignisse vor 1945 auswertet).
Acht Monate zogen sich die bürokratisch genau festgehaltenen Ermittlungen und Vernehmungen gegen diese Personen hin, gegen Hausfrauen, Fürsorgerinnen, Caritasdirektoren, Ordensfrauen, Geistliche, Quäker, Juden. So lange blieb Gertrud Luckner in den Polizeigefängnissen Karlsruhe, Wuppertal und Düsseldorf in Haft. Ihre eigenen Verhöre überstand sie hochkonzentriert, nächtliches Wachsein gewohnt, mit dem Glück, körperlich nicht misshandelt zu werden; es sei bei Drohungen geblieben, schrieb sie im September 1945, „angerührt hat mich nie jemand.“
Bedrohlich wurde die Situation für sie, als sie am 22. Juli 1943 auf Anforderung des Reichssicherheitshauptamts in das Gefängnis Berlin-Alexanderplatz verlegt wurde, weil man dort im Zuge aktueller Ermittlungen gegen Personen, „die in einer Hoch- und Landesverratssache verwickelt sind“, auf Querverbindungen zu Gertrud Luckner gestoßen war. Anschuldigungen in dieser Richtung führten in den meisten Fällen zum Prozess vor dem Volksgerichtshof, zumal Gertrud Luckner tatsächlich nach ihren eigenen Worten Widerstandskreisen sehr nahe stand. Mit Namen nannte sie Dietrich Bonhoeffer, Ernst von Harnack, P. Alfred Delp SJ: „Die haben mir auch immer gesagt, was man machen muß, wie man retten kann. Ich habe die ja alle besucht.“
Am 5. November 1943 wurde die „Pazifistin, katholische Aktivistin und fanatische Gegnerin des Nationalsozialismus“ Gertrud Luckner, der man ihre Judenhilfe, nicht aber das Betreiben einer Nachrichtenzentrale nachweisen konnte, in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg in Mecklenburg eingeliefert. Für die Gestapoleitstelle Düsseldorf hatte damit „die Angelegenheit Frl. Dr. Luckner (inzwischen) ihre Erledigung gefunden.“ Den Deutschen Caritasverband und das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg ließ man über Verbleib und Schicksal Gertrud Luckners weiterhin im Ungewissen, ja man hatte dort sogar die Falschmeldung verbreitet, sie sei bereits „umgelegt“ worden.
Die eineinhalb Jahre im KZ hat Gertrud Luckner überlebt, dank ihrer individuellen Energie und inneren Gefestigkeit, dank Briefen und Lebensmittelpaketen von draußen, dank aber auch der schützenden Wirkung einer kleinen Gruppe von Schicksalsgenossinnen um sie herum, bestehend aus der Liobaschwester Eva („Placida“) Laubhardt aus Freiburg-Günterstal, der Lehrerin, Quäkerin und Sozialdemokratin Hildegard Hansche aus Berlin, der Seelsorgehelferin Katharina Katzenmaier aus dem saarländischen Püttlingen und einigen Wiener Kommunistinnen.
Über den Marsch aus dem Lager mit der Kolonne der „letzten 500“ Ende April 1945, durch das sich auflösende Kriegsgeschehen in Mecklenburg, über den abenteuerlichen Weg nach Süddeutschland und das Sich-hinein-Tasten in eine neue Aufgabe und Alltagsnormalität berichtet Gertrud Luckner in einem Tagebuch, das zusammen mit einer Darstellung ihrer Versöhnungs- und Verständigungsarbeit zu ihrem 100. Geburtstag vom „Freiburger Rundbrief e.V.“ veröffentlicht werden wird.
Die widersprüchlichen Empfindungen des Sich-Freuens über die eigene Lebensbewahrung, des Trauerns über zu wenige gerettete Leben, der Schuld, Mithelfende ins Unglück gebracht zu haben, verdrängte Gertrud Luckner im Übermaß der Arbeit. Und wenn sie auch 1947 die verblüffende Äußerung machen konnte, sie habe die Zeit im KZ „als eine besondere Gnade“ für sich werten können, so wurde sie doch im Alter vom erlebten Graun eingeholt. Um einen hohen persönlichen Preis von zwei Jahren der Unfreiheit und Lebensbedrohung und den daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und seelischen Belastungen hat die konsequente Pazifistin, Quäkerin und ökumenische Christin Gertrud Luckner ein „testimonium caritatis“ abgelegt, wie es Karl Siegfried Bader ausgedrückt hat, ein lebendiges Zeugnis der Nächstenliebe, mit dem sie manchem Verzweifelten „den Glauben an die Menschheit“ wiedergegeben hat.