Gottesfurcht statt Selbstvergottung
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Christina Weiss
Gottesfurcht statt Selbstvergottung
Rede von Staatsministerin Christina Weiss am 19. Juli 2004 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, anlässlich der Ausstellungseröffnung „20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung“
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie jeder runde Jahrestag des Attentats auf Hitler bietet auch der morgige 20. Juli Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme. Zu fragen ist, inwieweit sich unsere Einstellung gegenüber den Geschehnissen, die nunmehr 60 Jahre zurückliegen, im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten geändert hat. Fast scheint es, als seien uns die Gestalten des Grafen Stauffenberg und seiner zahlreichen Mitverschwörer mit wachsendem zeitlichen Abstand näher gerückt.
Der „Spiegel“ veröffentlichte in der vergangenen Woche Umfrageergebnisse, wonach das Attentat heute bei 33 Prozent aller Deutschen Bewunderung und bei weiteren 40 Prozent immerhin Achtung auslöst. Man darf davon ausgehen, dass eine ähnliche Umfrage in den fünfziger Jahren oder sechziger Jahren eine wesentlich ungünstigere Beurteilung des Widerstands bei weiten Bevölkerungskreisen enthüllt hätte. Lange wirkte die von den Nazis ausgegebene Parole, es handele sich um „Verräter“. Später, als der Zeitgeist mehr nach links ausschlug, unterstellte man der Widerstandsbewegung, ihre Mitglieder hätten allzu lange dem System als bereitwillige Handlanger gedient und die meisten von ihnen hätten sich erst zur Tat durchgerungen, als sich die Niederlage drohend abzeichnete.
Das ist eine ahistorische Betrachtungsweise, die nicht nur die politischen Rahmenbedingungen und die völlig anderen Denktraditionen ignoriert, sondern auch die belegten geschichtlichen Fakten. Wer so denkt, vergisst, welcher psychologischen Zerreißprobe die Mitglieder des deutschen Widerstands ausgesetzt waren. In den besetzten Ländern Europas war der Kampf gegen Hitler und Deutschland eine klare Aufgabe für jeden Patrioten. In Deutschland selbst mussten Menschen, die ihr Land liebten, dessen militärische Niederlage wünschen, weil nur so Recht und Moral zurückkehren konnten. Es ist so unsagbar bequem und selbstgefällig, von der heutigen Zeit aus die Zögerlichkeit vieler deutscher Widerständler zu verurteilen. Dabei hat doch Joachim Fest zurecht gesagt, besonders bewunderungswürdig sei gerade die Bereitschaft jedes der Beteiligten, mit den plötzlich problematisch gewordenen Maximen des eigenen Lebens zu brechen.
Außerdem gibt es genügend Beispiele von Entschlossenheit, die schon viel früher zur Tat drängten, als heute allgemein bekannt ist. Der 20. Juli war zwar der dramatische Höhepunkt des Kampfes gegen die Gewaltherrschaft, und deshalb ist die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock der zentrale Ort der Erinnerung an alle Widerstandskämpfer. Aber der Widerstand begann nicht erst nach Stalingrad, nach der Invasion der West-Alliierten in der Normandie oder nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, sondern bereits 1933. Peter Hoffmann berichtet von 1,6 Millionen Flugblättern im Jahre 1936 und noch 927 430 im Jahre 1937, die von der Untergrund-KPD und der illegalen SPD verbreitet wurden.
Doch auch Teile der konservativ-national gesinnten Eliten, welche die Wiederbewaffnung, die Revision des Versailler Vertrages und andere Maßnahmen der Nazis zunächst begrüßt hatten, erkannten schon früh in Hitler den Verbrecher, den es zu bekämpfen galt. Generalmajor Henning von Tresckow und sein Mitstreiter Hans Oster wurden schon 1934 zu Verschwörern. Bereits 1938 standen sie und viele andere, die am 20. Juli ihr Leben einsetzten und verloren, zum Staatsstreich gegen Hitler bereit. Allerdings wurden sie durch das Münchener Abkommen und die anderen zunächst so glänzenden politischen und militärischen Siege des Diktators lange isoliert. Erst unter den Bedingungen des Krieges näherten sich die verschiedenen Widerstandsfraktionen allmählich an.
In die neue Ordnung nach dem Staatsstreich sollten auch Kommunisten und Sozialdemokraten einbezogen werden. Die Breite und Vielfalt der weltanschaulichen Orientierung und der Motive der Widerstandskämpfer werden in der Ausstellung dokumentiert, die wir heute gemeinsam eröffnen.
All dies, meine Damen und Herren, ist in den vergangenen Tagen und Monaten in Fernsehspielfilmen, Dokumentationen, Presseartikeln und neuen Büchern beleuchtet worden. Der Blick auf den Widerstand fokussierte sich besonders auf den Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der von zwei jüngeren Schauspielern, Sebastian Koch und Harald Schrott, auf ganz unterschiedliche Weise mit großer Wahrhaftigkeit verkörpert wurde.
Aber trotz dieser Vergegenwärtigung seiner Figur durch die populären Medien gibt es eine geistige Grenze, die uns von Stauffenberg und den anderen trennt und die es uns so schwer macht, die Motive für ihr anfängliches Nicht-Handeln ebenso wie ihre spätere Tatkraft wirklich zu verstehen. Der Schlüssel zu dieser Fremdheit liegt, glaube ich, in dem berühmten, umstrittenen, aber doch wohl in einem höheren Sinne authentischen Satz, den Stauffenberg angesichts des Erschießungskommandos im Bendlerblock gerufen haben soll: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Für die hier versammelten unterschiedlichen Spezialisten, von denen jeder ungleich mehr über den deutschen Widerstand weiß als ich, ist dieser Satz möglicherweise nur eine Anekdote. Einer von diesen vielen unsicher überlieferten letzten Sätzen großer Männer. Für mich bleibt er faszinierend und zentral für meine persönliche Wahrnehmung des 20. Juli.
Wir leben ja heute in einer Zeit, in der wir nichts von Heiligkeit hören können, ohne sofort an Scheinheiligkeit zu denken. Und wir betrachten den Staat Deutschland als eine von jeglicher Metaphysik weit entfernte Vertragsgemeinschaft zum gegenseitigen Interessenausgleich. Stauffenbergs Beschwörung des „heiligen Deutschlands“ führt uns zu einem völlig anderen Begriff von Nation und Staatlichkeit, der sowohl den Verschwörern als auch ihren Gegnern noch ganz geläufig war. Sie erinnert uns daran, dass das erste deutsche Reich sich als „heilig“ bestimmt hatte.
Und auch nach dem Ende dieses politischen Gebildes im Jahre 1806 blieb das Wort „Reich“ immer mit der Vorstellung verknüpft, dass Staatlichkeit sich mit dem Bezug auf Gott oder eine andere Manifestation des Absoluten zu legitimieren habe. In den Monarchien berief man sich auf das Gottesgnadentum. Hitler sprach lieber von der „Vorsehung“, deren Werkzeug er sei. Ganz besonders wurden er und seine Anhänger in diesem Glauben bestärkt durch zwei überstandene Attentate: das vom 8. November 1939 in München, welches der bewunderungswürdige Einzelgänger Georg Elser ausführte – und eben durch den Anschlag vom 20. Juli 1944.
Das Widerstandsbündnis hatte sehr klar erkannt, was sich hinter Hitlers „Vorsehung“ verbarg: nämlich die Gleichsetzung der eigenen Person mit dem Absoluten und die Nichtanerkennung irgendeiner Instanz, der er noch moralisch Rechenschaft schuldig sein könnte. In der Regierungserklärung, die nach dem Staatsstreich vom 20. Juli veröffentlicht werden sollte, heißt es: „Wir wollen Gottesfurcht anstelle von Selbstvergottung, Recht und Freiheit anstelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit anstelle von Lüge und Eigennutz.“
Gottesfurcht gegen Selbstvergottung – genau entlang dieser Trennlinie läuft die Grenze zwischen dem Widerstand und den Nazis. Mochten die Konservativen unter den Verschwörern aus ihrem quasireligiösen Patriotismus heraus anfänglich Hitler unterstützt haben, so wuchs doch ihre Distanz je offenbarer der Judenmord und andere Verbrechen wurden. Denn im Gegensatz zu ihm erkannten sie eine Quelle der Moral an, die größer war als sie selbst. Das war der entscheidende Unterschied zweier zunächst so ähnlich erscheinender Auffassungen von metaphysisch begründeter Staatlichkeit: Den Männern und Frauen des Widerstands setzte das Absolute eine Grenze, Hitler identifizierte sich selbst mit dem Absoluten.
Der Moral zu gehorchen, war eine Frage der Ehre – noch so ein Wort, das uns fremd geworden ist. Und weil es bei diesem Konzept von Ehre nicht um Egoismus, sondern um Demut ging, waren diese Menschen schließlich sogar bereit, ihr Leben für die Rettung ihrer Ehre und der ihres Vaterlandes zu riskieren. Nirgendwo wird das deutlicher als an der Mahnung Henning von Tresckows an Stauffenberg, das Attentat und der Staatsstreich müssten unabhängig von ihren Erfolgsaussichten gewagt werden.
„Denn“, so Tresckow, „es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat“. Für dieses Ziel setzte Stauffenberg sogar seine formale Soldatenehre aufs Spiel: Er wusste genau, dass man ihn und seine Mitverschwörer in Deutschland und im Ausland vor allem als Verräter betrachten würde. Sie waren bereit, auch dieses Opfer zu bringen. Ganz im Gegensatz zu so vielen Offizierskollegen, die sich auch dann noch an ihren Eid auf Hitler gebunden fühlten, als dieser das Eidverhältnis längst durch millionenfache Schandtaten entehrt und gebrochen hatte.
Das Verhältnis der beiden Männer, deren direkte Konfrontation am 20. Juli 1944 über das Schicksal Deutschlands entschied, ist davon geprägt, dass in ihrem politischen Denken das Wort „Reich“ eine Schlüsselstellung einnahm. Lange Zeit konnte Stauffenberg annehmen, sein „Reich“ sei mit dem Hitlers identisch. Stauffenbergs Reichsbegriff war bekanntlich geprägt von seiner Begegnung mit Stefan George. Auch dieser ließ es sich in seinen letzten Lebenstagen Ende 1933 gerne gefallen, dass das „Neue Reich“, welches er dichterisch erschaut hatte, von den Nazis als ihr Reich ausgegeben wurde. Georges Jünger Stauffenberg war da elf Jahre später weiter. Zwar ist auch in dem „Schwur“, den er gemeinsam mit seinem Bruder Berthold und dem Literaturhistoriker Rudolf Fahrner kurz vor dem Attentat schriftlich niederlegte, noch viel vom kultischen Elitismus Georges erkennbar.
Doch hatte sich der Offizier, genau wie die meisten seiner Mitverschwörer, einer modernen Staatsauffassung angenähert: Für die angestrebte neue Ordnung benutzten sie – nach allem Missbrauch, der mit diesem Begriff getrieben wurde – kaum noch das Wort Reich. Sie wollten keine Militärdiktatur, sie akzeptierten das Primat der Politik, sie wollten Gewaltenteilung und Partizipation. Zuallererst wollten sie „die vollkommene Majestät des Rechts“ wiederherstellen – und mit dieser Forderung rücken sie unserer Vorstellung eines Gemeinwesens bei aller sonstigen Fremdheit wieder ganz nahe. Dabei ist es ganz unerheblich, dass sie sich keine parlamentarische Demokratie vorstellten und wünschten, wie sie dann nach den Regeln des Grundgesetzes wenige Jahre später auf deutschem Boden entstand.
Der Sieg von Freiheit und Recht – dieses Ziel verband den deutschen Widerstand mit den Résistance-Kämpfern in den besetzten europäischen Ländern und darüber hinaus mit dem Widerstand gegen alle europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Einer europäischen Widerstandsbewegung, die zwischen die Fronten zweier Diktaturen geriet, ist in diesem Jahr besonders zu gedenken. Die Rede ist von der polnischen Heimatarmee mit ihrem Warschauer Aufstand im August 1944, dessen wir uns 60 Jahre danach mit großem Respekt erinnern. So ist es folgerichtig und begrüßenswert, dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand nicht nur jetzt die Ausstellung „20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung“ zeigt, sondern auch vom Oktober 2004 an die Ausstellung „Der Warschauer Aufstand“ in Kooperation mit dem Rat für die Gedenkstätten in Warschau.
Die Befreiung ihrer Völker aus eigener Kraft misslang sowohl der polnischen Heimatarmee als auch dem 20. Juli. Und der östliche Teil Deutschlands hat für dieses Scheitern den gleichen Preis gezahlt wie die Polen: weitere vier Jahrzehnte unter einer anderen Diktatur. Deshalb darf man – bei allem Respekt für die Opfer der Roten Armee bei der Befreiung Europas von der Hitler-Diktatur – auch darüber nachdenken, welche Konsequenzen ein geglückter deutscher Staatsstreich 1944 für die Völker Osteuropas gehabt hätte. Möglicherweise hätte ein rascher Friedensschluss diesen Ländern eine ganz andere Chance auf nationale Eigenständigkeit in Freiheit gewährt.
Heute, fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden des Kommunismus aus Europa, gehören unter den zehn Neulingen der Europäischen Union acht zu jenen Ländern, denen als Folge eines von Deutschen entfesselten Krieges lange Zeit das Selbstbestimmungsrecht entzogen war. Dieses in Freiheit und Recht geeinigte Europa war auch eine der Visionen des deutschen Widerstands. Der Kreisauer Kreis glaubte, ein europäischer Bundesstaat sei zur Selbsterhaltung des Kontinents unumgänglich. Helmuth James Graf von Moltke hielt es damals schon für erstrebenswert, die Souveränität von den Nationalstaaten auf eine gemeinsame europäische Regierung zu übertragen. Ein kühner Gedanke, der immer noch bei vielen auf Skepsis stößt.
Auch das ist ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges: Gerade diejenigen Länder, die ihre Souveränität so lange entbehrt haben, tun sich nun verständlicherweise besonders schwer damit, nationale Befugnisse an die EU abzugeben. Wir Deutschen neigen manchmal dazu, uns als Mustereuropäer aufzuspielen und die Vorbehalte anderer Länder ungeduldig abzutun. Wir sollten nicht vergessen, dass jenes Misstrauen eine Spätfolge deutscher Verbrechen ist. Von Moltke können wir lernen, worum es bei der europäischen Integration eigentlich gehen sollte. Er schrieb 1942, Europa sei weniger eine Frage von komplizierten Organisationen und großen Plänen, sondern „Europa nach dem Krieg ist die Frage: wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden“.
Das Bild des Menschen aufzurichten – das ist ein großes und zugleich bescheidenes Ziel, das wir als Vermächtnis aller Widerstandskämpfer in Deutschland und Europa bewahren wollen. Die neue Ausstellung möge dazu beitragen.
Vielen Dank!
Christina Weiss
Gottesfurcht statt Selbstvergottung
Rede von Staatsministerin Christina Weiss am 19. Juli 2004 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, anlässlich der Ausstellungseröffnung „20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung“
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie jeder runde Jahrestag des Attentats auf Hitler bietet auch der morgige 20. Juli Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme. Zu fragen ist, inwieweit sich unsere Einstellung gegenüber den Geschehnissen, die nunmehr 60 Jahre zurückliegen, im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten geändert hat. Fast scheint es, als seien uns die Gestalten des Grafen Stauffenberg und seiner zahlreichen Mitverschwörer mit wachsendem zeitlichen Abstand näher gerückt.
Der „Spiegel“ veröffentlichte in der vergangenen Woche Umfrageergebnisse, wonach das Attentat heute bei 33 Prozent aller Deutschen Bewunderung und bei weiteren 40 Prozent immerhin Achtung auslöst. Man darf davon ausgehen, dass eine ähnliche Umfrage in den fünfziger Jahren oder sechziger Jahren eine wesentlich ungünstigere Beurteilung des Widerstands bei weiten Bevölkerungskreisen enthüllt hätte. Lange wirkte die von den Nazis ausgegebene Parole, es handele sich um „Verräter“. Später, als der Zeitgeist mehr nach links ausschlug, unterstellte man der Widerstandsbewegung, ihre Mitglieder hätten allzu lange dem System als bereitwillige Handlanger gedient und die meisten von ihnen hätten sich erst zur Tat durchgerungen, als sich die Niederlage drohend abzeichnete.
Das ist eine ahistorische Betrachtungsweise, die nicht nur die politischen Rahmenbedingungen und die völlig anderen Denktraditionen ignoriert, sondern auch die belegten geschichtlichen Fakten. Wer so denkt, vergisst, welcher psychologischen Zerreißprobe die Mitglieder des deutschen Widerstands ausgesetzt waren. In den besetzten Ländern Europas war der Kampf gegen Hitler und Deutschland eine klare Aufgabe für jeden Patrioten. In Deutschland selbst mussten Menschen, die ihr Land liebten, dessen militärische Niederlage wünschen, weil nur so Recht und Moral zurückkehren konnten. Es ist so unsagbar bequem und selbstgefällig, von der heutigen Zeit aus die Zögerlichkeit vieler deutscher Widerständler zu verurteilen. Dabei hat doch Joachim Fest zurecht gesagt, besonders bewunderungswürdig sei gerade die Bereitschaft jedes der Beteiligten, mit den plötzlich problematisch gewordenen Maximen des eigenen Lebens zu brechen.
Außerdem gibt es genügend Beispiele von Entschlossenheit, die schon viel früher zur Tat drängten, als heute allgemein bekannt ist. Der 20. Juli war zwar der dramatische Höhepunkt des Kampfes gegen die Gewaltherrschaft, und deshalb ist die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock der zentrale Ort der Erinnerung an alle Widerstandskämpfer. Aber der Widerstand begann nicht erst nach Stalingrad, nach der Invasion der West-Alliierten in der Normandie oder nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, sondern bereits 1933. Peter Hoffmann berichtet von 1,6 Millionen Flugblättern im Jahre 1936 und noch 927 430 im Jahre 1937, die von der Untergrund-KPD und der illegalen SPD verbreitet wurden.
Doch auch Teile der konservativ-national gesinnten Eliten, welche die Wiederbewaffnung, die Revision des Versailler Vertrages und andere Maßnahmen der Nazis zunächst begrüßt hatten, erkannten schon früh in Hitler den Verbrecher, den es zu bekämpfen galt. Generalmajor Henning von Tresckow und sein Mitstreiter Hans Oster wurden schon 1934 zu Verschwörern. Bereits 1938 standen sie und viele andere, die am 20. Juli ihr Leben einsetzten und verloren, zum Staatsstreich gegen Hitler bereit. Allerdings wurden sie durch das Münchener Abkommen und die anderen zunächst so glänzenden politischen und militärischen Siege des Diktators lange isoliert. Erst unter den Bedingungen des Krieges näherten sich die verschiedenen Widerstandsfraktionen allmählich an.
In die neue Ordnung nach dem Staatsstreich sollten auch Kommunisten und Sozialdemokraten einbezogen werden. Die Breite und Vielfalt der weltanschaulichen Orientierung und der Motive der Widerstandskämpfer werden in der Ausstellung dokumentiert, die wir heute gemeinsam eröffnen.
All dies, meine Damen und Herren, ist in den vergangenen Tagen und Monaten in Fernsehspielfilmen, Dokumentationen, Presseartikeln und neuen Büchern beleuchtet worden. Der Blick auf den Widerstand fokussierte sich besonders auf den Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der von zwei jüngeren Schauspielern, Sebastian Koch und Harald Schrott, auf ganz unterschiedliche Weise mit großer Wahrhaftigkeit verkörpert wurde.
Aber trotz dieser Vergegenwärtigung seiner Figur durch die populären Medien gibt es eine geistige Grenze, die uns von Stauffenberg und den anderen trennt und die es uns so schwer macht, die Motive für ihr anfängliches Nicht-Handeln ebenso wie ihre spätere Tatkraft wirklich zu verstehen. Der Schlüssel zu dieser Fremdheit liegt, glaube ich, in dem berühmten, umstrittenen, aber doch wohl in einem höheren Sinne authentischen Satz, den Stauffenberg angesichts des Erschießungskommandos im Bendlerblock gerufen haben soll: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Für die hier versammelten unterschiedlichen Spezialisten, von denen jeder ungleich mehr über den deutschen Widerstand weiß als ich, ist dieser Satz möglicherweise nur eine Anekdote. Einer von diesen vielen unsicher überlieferten letzten Sätzen großer Männer. Für mich bleibt er faszinierend und zentral für meine persönliche Wahrnehmung des 20. Juli.
Wir leben ja heute in einer Zeit, in der wir nichts von Heiligkeit hören können, ohne sofort an Scheinheiligkeit zu denken. Und wir betrachten den Staat Deutschland als eine von jeglicher Metaphysik weit entfernte Vertragsgemeinschaft zum gegenseitigen Interessenausgleich. Stauffenbergs Beschwörung des „heiligen Deutschlands“ führt uns zu einem völlig anderen Begriff von Nation und Staatlichkeit, der sowohl den Verschwörern als auch ihren Gegnern noch ganz geläufig war. Sie erinnert uns daran, dass das erste deutsche Reich sich als „heilig“ bestimmt hatte.
Und auch nach dem Ende dieses politischen Gebildes im Jahre 1806 blieb das Wort „Reich“ immer mit der Vorstellung verknüpft, dass Staatlichkeit sich mit dem Bezug auf Gott oder eine andere Manifestation des Absoluten zu legitimieren habe. In den Monarchien berief man sich auf das Gottesgnadentum. Hitler sprach lieber von der „Vorsehung“, deren Werkzeug er sei. Ganz besonders wurden er und seine Anhänger in diesem Glauben bestärkt durch zwei überstandene Attentate: das vom 8. November 1939 in München, welches der bewunderungswürdige Einzelgänger Georg Elser ausführte – und eben durch den Anschlag vom 20. Juli 1944.
Das Widerstandsbündnis hatte sehr klar erkannt, was sich hinter Hitlers „Vorsehung“ verbarg: nämlich die Gleichsetzung der eigenen Person mit dem Absoluten und die Nichtanerkennung irgendeiner Instanz, der er noch moralisch Rechenschaft schuldig sein könnte. In der Regierungserklärung, die nach dem Staatsstreich vom 20. Juli veröffentlicht werden sollte, heißt es: „Wir wollen Gottesfurcht anstelle von Selbstvergottung, Recht und Freiheit anstelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit anstelle von Lüge und Eigennutz.“
Gottesfurcht gegen Selbstvergottung – genau entlang dieser Trennlinie läuft die Grenze zwischen dem Widerstand und den Nazis. Mochten die Konservativen unter den Verschwörern aus ihrem quasireligiösen Patriotismus heraus anfänglich Hitler unterstützt haben, so wuchs doch ihre Distanz je offenbarer der Judenmord und andere Verbrechen wurden. Denn im Gegensatz zu ihm erkannten sie eine Quelle der Moral an, die größer war als sie selbst. Das war der entscheidende Unterschied zweier zunächst so ähnlich erscheinender Auffassungen von metaphysisch begründeter Staatlichkeit: Den Männern und Frauen des Widerstands setzte das Absolute eine Grenze, Hitler identifizierte sich selbst mit dem Absoluten.
Der Moral zu gehorchen, war eine Frage der Ehre – noch so ein Wort, das uns fremd geworden ist. Und weil es bei diesem Konzept von Ehre nicht um Egoismus, sondern um Demut ging, waren diese Menschen schließlich sogar bereit, ihr Leben für die Rettung ihrer Ehre und der ihres Vaterlandes zu riskieren. Nirgendwo wird das deutlicher als an der Mahnung Henning von Tresckows an Stauffenberg, das Attentat und der Staatsstreich müssten unabhängig von ihren Erfolgsaussichten gewagt werden.
„Denn“, so Tresckow, „es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat“. Für dieses Ziel setzte Stauffenberg sogar seine formale Soldatenehre aufs Spiel: Er wusste genau, dass man ihn und seine Mitverschwörer in Deutschland und im Ausland vor allem als Verräter betrachten würde. Sie waren bereit, auch dieses Opfer zu bringen. Ganz im Gegensatz zu so vielen Offizierskollegen, die sich auch dann noch an ihren Eid auf Hitler gebunden fühlten, als dieser das Eidverhältnis längst durch millionenfache Schandtaten entehrt und gebrochen hatte.
Das Verhältnis der beiden Männer, deren direkte Konfrontation am 20. Juli 1944 über das Schicksal Deutschlands entschied, ist davon geprägt, dass in ihrem politischen Denken das Wort „Reich“ eine Schlüsselstellung einnahm. Lange Zeit konnte Stauffenberg annehmen, sein „Reich“ sei mit dem Hitlers identisch. Stauffenbergs Reichsbegriff war bekanntlich geprägt von seiner Begegnung mit Stefan George. Auch dieser ließ es sich in seinen letzten Lebenstagen Ende 1933 gerne gefallen, dass das „Neue Reich“, welches er dichterisch erschaut hatte, von den Nazis als ihr Reich ausgegeben wurde. Georges Jünger Stauffenberg war da elf Jahre später weiter. Zwar ist auch in dem „Schwur“, den er gemeinsam mit seinem Bruder Berthold und dem Literaturhistoriker Rudolf Fahrner kurz vor dem Attentat schriftlich niederlegte, noch viel vom kultischen Elitismus Georges erkennbar.
Doch hatte sich der Offizier, genau wie die meisten seiner Mitverschwörer, einer modernen Staatsauffassung angenähert: Für die angestrebte neue Ordnung benutzten sie – nach allem Missbrauch, der mit diesem Begriff getrieben wurde – kaum noch das Wort Reich. Sie wollten keine Militärdiktatur, sie akzeptierten das Primat der Politik, sie wollten Gewaltenteilung und Partizipation. Zuallererst wollten sie „die vollkommene Majestät des Rechts“ wiederherstellen – und mit dieser Forderung rücken sie unserer Vorstellung eines Gemeinwesens bei aller sonstigen Fremdheit wieder ganz nahe. Dabei ist es ganz unerheblich, dass sie sich keine parlamentarische Demokratie vorstellten und wünschten, wie sie dann nach den Regeln des Grundgesetzes wenige Jahre später auf deutschem Boden entstand.
Der Sieg von Freiheit und Recht – dieses Ziel verband den deutschen Widerstand mit den Résistance-Kämpfern in den besetzten europäischen Ländern und darüber hinaus mit dem Widerstand gegen alle europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Einer europäischen Widerstandsbewegung, die zwischen die Fronten zweier Diktaturen geriet, ist in diesem Jahr besonders zu gedenken. Die Rede ist von der polnischen Heimatarmee mit ihrem Warschauer Aufstand im August 1944, dessen wir uns 60 Jahre danach mit großem Respekt erinnern. So ist es folgerichtig und begrüßenswert, dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand nicht nur jetzt die Ausstellung „20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung“ zeigt, sondern auch vom Oktober 2004 an die Ausstellung „Der Warschauer Aufstand“ in Kooperation mit dem Rat für die Gedenkstätten in Warschau.
Die Befreiung ihrer Völker aus eigener Kraft misslang sowohl der polnischen Heimatarmee als auch dem 20. Juli. Und der östliche Teil Deutschlands hat für dieses Scheitern den gleichen Preis gezahlt wie die Polen: weitere vier Jahrzehnte unter einer anderen Diktatur. Deshalb darf man – bei allem Respekt für die Opfer der Roten Armee bei der Befreiung Europas von der Hitler-Diktatur – auch darüber nachdenken, welche Konsequenzen ein geglückter deutscher Staatsstreich 1944 für die Völker Osteuropas gehabt hätte. Möglicherweise hätte ein rascher Friedensschluss diesen Ländern eine ganz andere Chance auf nationale Eigenständigkeit in Freiheit gewährt.
Heute, fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden des Kommunismus aus Europa, gehören unter den zehn Neulingen der Europäischen Union acht zu jenen Ländern, denen als Folge eines von Deutschen entfesselten Krieges lange Zeit das Selbstbestimmungsrecht entzogen war. Dieses in Freiheit und Recht geeinigte Europa war auch eine der Visionen des deutschen Widerstands. Der Kreisauer Kreis glaubte, ein europäischer Bundesstaat sei zur Selbsterhaltung des Kontinents unumgänglich. Helmuth James Graf von Moltke hielt es damals schon für erstrebenswert, die Souveränität von den Nationalstaaten auf eine gemeinsame europäische Regierung zu übertragen. Ein kühner Gedanke, der immer noch bei vielen auf Skepsis stößt.
Auch das ist ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges: Gerade diejenigen Länder, die ihre Souveränität so lange entbehrt haben, tun sich nun verständlicherweise besonders schwer damit, nationale Befugnisse an die EU abzugeben. Wir Deutschen neigen manchmal dazu, uns als Mustereuropäer aufzuspielen und die Vorbehalte anderer Länder ungeduldig abzutun. Wir sollten nicht vergessen, dass jenes Misstrauen eine Spätfolge deutscher Verbrechen ist. Von Moltke können wir lernen, worum es bei der europäischen Integration eigentlich gehen sollte. Er schrieb 1942, Europa sei weniger eine Frage von komplizierten Organisationen und großen Plänen, sondern „Europa nach dem Krieg ist die Frage: wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden“.
Das Bild des Menschen aufzurichten – das ist ein großes und zugleich bescheidenes Ziel, das wir als Vermächtnis aller Widerstandskämpfer in Deutschland und Europa bewahren wollen. Die neue Ausstellung möge dazu beitragen.
Vielen Dank!