"Ich bin aber der Herr, dein Gott, aus Ägyptenland her;und du solltest ja keinen anderen Gott kennen denn mich und keinen Heiland als allein mich."

Helmut Gollwitzer

„Ich bin aber der Herr, dein Gott, aus Ägyptenland her;

und du solltest ja keinen anderen Gott kennen denn mich

und keinen Heiland als allein mich.“

Predigt von Prof. Dr. Helmut Gollwitzer am 20. Juli 1963 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Hosea 13, 4

„Ich bin aber der Herr, dein Gott, aus Ägyptenland her;

und du solltest ja keinen anderen Gott kennen denn mich

und keinen Heiland als allein mich.“

Liebe Freunde!

Wenn ein Mensch, der aus irgendeinem Grunde tief unzufrieden ist mit seinem Leben und mit dem Leben der anderen Menschen um ihn her, fragt, ob es denn nicht die Möglichkeit eines anderen Lebens gebe und wie er denn zu einem anderen Leben, zu einem Leben, das sich lohnt und das Leben genannt zu werden verdient, kommen könne, dann ist dieses Prophetenwort dafür die Antwort. Denn es geht in diesem Worte um unser Leben, um unser hiesiges, irdisches Leben und keineswegs nur um eine speziell religiöse Frage für besonders religiös interessierte Menschen oder um Information über irgendwelche überirdischen Sachverhalte. Das Leben eines jeden von uns wird sich ändern oder gleich bleiben, je nachdem er dieses Wort mit allem Ernst hört und die Aufforderung, die in ihm liegt, befolgt. Es ist die Aufforderung zu einer Bewegung weg von den Göttern, denen wir bisher gedient haben, hin zu diesem einen, der hier aus seiner Verborgenheit und seiner Erhabenheit heraustritt und zu uns spricht.

Luther hat das Wort des Propheten als eine Aufforderung, einen Imperativ übersetzt. Man kann es auch – der hebräische Urtext erlaubt beides – als eine Feststellung übersetzen. Dann lautet es: „Aber ich bin JHWH, dein Gott von Ägyptenlande her. Du kennst keinen Gott neben mir, es gibt keinen Helfer außer mir“. Dann besagt diese Feststellung, dass die Bewegung, zu der der Prophet uns auffordert, das einzig Sinnvolle ist, was jeder von uns tun kann, weil nur dieser eine, der hier spricht, „Gott“ genannt zu werden verdient, weil es mit allen anderen Hilfsversprechungen nichts auf sich hat, weil nur hier Hilfe sich auftut, die wahrhaft Hilfe genannt zu werden verdient.

Die Aufforderung trifft Israel, das umgeben ist von Götteranbetung, das selbst beschäftigt ist mit vielen Göttern. Die Aufforderung dehnt sich auf uns aus und bezieht uns ein, uns vorfindend ebenfalls als Menschen in einer Welt reich an Göttern. Der Wandel der Weltbilder ändert daran nichts, auch nicht der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, auch nicht der Übergang vom Monotheismus zum Atheismus und zum Nihilismus. Zum Gott kann alles werden, was eine Herrschaft über uns ausübt, und alles, wovon wir uns eine Hilfe versprechen. Davon gibt es vielerlei. Es beherrschen uns die Gesetze der Natur und die Abhängigkeiten des sozialen Lebens; es beherrschen uns die Bedürfnisse des Lebens und die Begierden der Seele; wir versprechen uns Hilfe von den Methoden unserer Erkenntnis, von der technischen Anwendung der Wissenschaft, von charismatischen Menschen, die unter uns auftreten und mit suggestiver Macht unsere Hoffnungen auf sich konzentrieren; wir erhoffen uns Erfüllung unseres Daseins vom Dienst am Volke, von der Zugehörigkeit zu einem mächtigen Staate, vom Fortschritt der Kultur, von der Verklärung durch das Schöne, vom Genus aller Art, von der Liebe eines Menschen. Unversehens geraten wir in „Gottes-Dienst“' hinein, unversehens wird uns irgendeine Größe über uns und um uns zur letzten Instanz, von der Sinn und Sinnlosigkeit abhängt, von der wir alles erwarten und alles fürchten, der wir nicht mehr frei und gelassen gegenüberstehen; unversehens wird uns das Relative zum Absoluten. Tritt nach der Enttäuschung an die Stelle der Hoffnung die Skepsis, schlägt der Enthusiasmus in den Nihilismus um, so hat sich doch nichts Wesentliches geändert. Auch wenn wir nichts mehr glauben, ist nichts besser geworden: Was uns beherrscht, herrscht immer noch; was uns droht, fürchten wir immer noch, und trotz aller Enttäuschungen greifen wir immer wieder nach neuen Hoffnungen. Unsere Enttäuschungen sind nur der kurze Zwischenaugenblick zwischen alten und neuen Göttern, das ist unser Leben, – gibt es ein anderes Leben?

Wir Deutsche kommen her aus der Erfahrung einer Welle von Hingabe an einen solchen Gottesdienst. Wir denken am heutigen Tage zurück an die Verzückung der Massen und an die massenhafte Opferung auf dem Altar neuer Götter. Einige von uns standen von Anfang an mit Entsetzen abseits, wir alle sehen am Ende den Zusammenbruch dieses blutigen Kultes, wir haben die Gewalt solcher Götter ebenso wie ihre Nichtigkeit erfahren, wir fragen, ob dies der ganze Inhalt der Menschheitsgeschichte sein muss, ob der Kreislauf von Hoffnung und Enttäuschung unentrinnbar ist. Wir fragen, ob es nicht noch ein anderes Leben gibt. Wir sollten, gebrannt durch solche Erfahrungen, die aufmerksamsten Hörer dieser Aufforderung und dieser Feststellung sein, die von Israel ausgeht zu uns allen.

Israel steht in der Mitte der Völker als die Gruppe von Menschen, der es geschehen ist, dass ihr ein anderes Leben gezeigt und eröffnet worden ist. Die christliche Kirche ist die Erweiterung dieses Lebens auf alle Völker, das Eindringen dieses neuen Lebens in die alte Wirklichkeit der Völker. Es ist Israel geschehen und es geschieht uns die christliche Botschaft, dass der böse Kreislauf aufgebrochen worden ist. Es ist Schluss gemacht worden mit diesem Ausgeliefertsein an die Götter, an ihre Verführungen und ihre Enttäuschungen. Es ist damit Schluss gemacht worden durch ein mächtiges Wort, das Israel traf und durch das sich ein Anderer mit dieser kleinen Menschengruppe verband, ein Neuer, einer, der nicht in die Reihe der Götter gehört, der nicht eine vergötzte irdische Größe ist, aber auch nicht nur eine abstrakte überirdische Idee. Mit mächtigem Wort ist eine neue Wirklichkeit entstanden, ein Bund zwischen Ewigkeit und Zeit, ein Bund zwischen dem wahren Gott, d.h. dem wahren Herrn und der wahren Hilfe – und diesen Menschen. Dieser Bund ist die Freiheit Israels. Durch diesen Bund ist es nicht mehr allein und also nicht mehr preisgegeben der Gewalt und der Nichtigkeit der Götter. Dieser Bund ist in seiner Menschheitsbedeutung offenbar geworden als Jesus, von Juden und Heiden ausgestoßen, am Kreuze hing und dann als das auferstandene Licht, als der auferstandene Herr und die auferstandene Hilfe, als die Sonne der siegreichen Barmherzigkeit des lebendigen Gottes über Israel und der ganzen Menschheit aufging. Mit mächtigem Wort greift dieser Bund nach uns und stellt uns in die Freiheit, in das neue und andere Leben.

Der Bund bringt Freiheit, die positive, die lebendige Freiheit. Enttäuschung und Skepsis befreit auch, nämlich von Illusionen; aber das ist, für sich allein genommen, nur eine negative, ja tödliche Freiheit. Wir spüren, wie sie das Leben aushöhlt, und werden deshalb gerade dadurch verführt, uns nach einer Durststrecke des Nihilismus wieder in neuen Götzendienst zu stürzen. Wo es aber geschieht, dass das Wort des wahren, lebendigen Gottes uns in seinen Bund stellt, da geraten wir in eine Freiheit, in der das Hoffen und das Lieben und das Glauben nicht zersetzt werden, sondern erst recht zu leben anfangen. Das ist damals in unseren Blick getreten, als wir so gerne den Ausdruck „Die Freiheit der Gebundenen” gebrauchten.

Es ist schön, gerade durch seine Mehrdeutigkeit: Er nennt die Freiheit, in der gerade der Jünger Jesu Christi, der Knecht des lebendigen Gottes, der demütige Hörer der Gottesbotschaft, der Untertan der Gottesherrschaft steht, aufs Engste gebunden an das Gebot seines Herrn, ganz ohnmächtig ohne die Hilfe seines Herrn, ganz angewiesen auf das Dabeisein dieses anderen. Dieser dem lebendigen Gott ganz Unfreie, durch den lebendigen Gott ganz Gebundene ist frei zu furchtloser Gehorsamsverweigerung gegenüber den Göttern, vor denen alle anderen in Furcht erstarren. Er ist frei zu eigenem Urteil, frei zur realistischen Erkenntnis der Dinge, wie sie sind, frei für die nüchternen Wahrheiten, dass 2+2=4 ist, dass das Irdische irdisch und das Relative relativ ist, frei für den gesunden Menschenverstand, frei für den Ruf des Gewissens, frei zu kühnen Unternehmungen der Liebe, frei zur Respektlosigkeit gegenüber den Göttern, frei aber auch zu den kleinen Respektierungen der kleinen irdischen Worte, zu den kleinen Hoffnungen, ohne sie zu vergötzen, ohne sich auf Gedeih und Verderb an sie zu klammern, ohne ihnen zu verfallen. Eben die Freiheit der innerlich an Gott Gebundenen konnten wir dann auch voll Dank rühmen als die Freiheit der äußerlich Gebundenen, die Freiheit der Gefangenen in der Zelle, vor dem Richter und auf dem letzten Wege zur Hinrichtung, die Freiheit des Gewissens gegenüber den äußerlich Freien, den Bütteln und Gläubigen des Systems, die ihr Gewissen verraten, verkauft und dem Befehl von Menschen unterworfen hatten, die Freiheit der „Sieger in Fesseln”, wie wir sie im Titel einer Schrift einmal mit Recht genannt haben. Mit Recht, nämlich ohne sie zu heroisieren, ohne die Stunden der Verzweiflung, der Unsicherheit, der Angst und ohne die menschlichen Grenzen dieser Sieger zu übersehen. Wir danken mit einem solchen Ausdruck dem, der sie in Fesseln, in der Bedrängnis von Angst und Zweifel hat bestehen und siegen lassen, der ihnen die Freiheit gerettet hat durch sein heimliches Dabeisein, dadurch, dass er ihnen ins Herz gesprochen hat dieses freimachende: „Ich bin dein Herr, dein Gott; du kennst keinen Gott neben mir, es gibt keinen Helfer außer mir.“

Es ist ein großes Zeugnis, das sie uns gegeben haben. Wir sollen uns nicht allzu sehr deprimieren lassen durch die deprimierende Frage, ob es heute ungehört verhallt, ob ihr Opfer sich gelohnt hat, ob das Deutschland von heute dem Deutschland ihrer Hoffnung entspricht. Ob ein Opfer sich gelohnt hat, entscheidet sich nicht am Weitergang der äußeren Geschichte, sondern daran, ob es angenommen und gesegnet wird vom lebendigen Gott, – und das ist ein Vorgang, der sich unserer Augen und unserer Kontrolle entzieht. Jenes Zeugnis hat freilich sein Werk an uns, an der nachwachsenden Generation, noch nicht genügend getan. Sonst wäre ja unmöglich, dass unter uns wieder allerlei gescheites Gerede in Philosophie und Literatur mehr gilt als die Botschaft vom Bunde Gottes und vom Kreuze Christi, dass das strenge, in jenen schweren Tagen von uns gelernte Kriterium: „Was besteht in der letzten Stunde?“ nicht mehr von uns angelegt wird, – dass die müde Frage, ob das Christentum nicht antiquiert und Gott vielleicht tot sei, unter uns umgeht wenige Jahre nach solchem Zeugnis vom lebendigen Gott, in Leiden und Sterben bewährt. Aber entscheidend ist doch nur, dass wir selbst jetzt durch ihr Zeugnis aufgerüttelt werden, alle Resignation abschütteln und mit neuer Hoffnung das neue Leben ins Auge fassen. Es will in unserem Leben Platz gewinnen. Unser Leben soll zu einem Ort der Freiheit werden, der Freiheit der Gebundenen. Dazu tritt er an uns heran mit dieser Feststellung: „Ich bin der Herr, dein Gott, von der Zeit der Tyrannei und der falschen Götter her. Du kennst keinen Gott neben mir, es gibt keinen Helfer außer mir“, – und mit der daraus folgenden Aufforderung: „Du solltest ja keinen anderen Gott kennen denn mich und keinen Heiland als allein mich!“

Amen.