Ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland nie ganz und total mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden kann

Heinz Westphal

Ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland nie ganz und total mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden kann

Gedenkrede des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Heinz Westphal am 20. Juli 1986 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

als im Juni oder Juli 1933 meine Mutter mit meiner Schwester und mir – ich war damals neun Jahre alt – in einem weiten Bogen um die Außenmauern des größten Backsteinblocks des Spandauer Gefängnisses liefen, machten wir unseren Weg in der vergeblichen Hoffnung, hinter einem der zahllosen vergitterten Zellenfenster ein Winken, ein Zeichen des dort mit wohl 500 anderen Hitler-Gegnern eingesperrten Vaters entdecken zu können. Zu diesem Zeitpunkt im Sommer 1933 waren zahlreiche andere Gegner des Nationalsozialismus bereits tot. Es waren vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten, die den Kampf gegen Hitler schon geführt hatten, als dessen Machtübernahme noch zu verhindern gewesen wäre.

Manche von Ihnen waren auf brutale, bestialische Art durch die Horden der SA in den Kellern der GESTAPO umgebracht worden. Nicht ohne Grund hatte Otto Wels seine mutige Rede an dem wohl dunkelsten Tag der deutschen Parlamentsgeschichte am 23. März 1933 geschlossen mit den Worten:

„Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten, wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdient Bewunderung ... “

Das Protokoll verzeichnet hier Lachen bei den Nationalsozialisten, und wir wissen doch, meine Damen und Herren, dass an diesem Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz beschlossen wurde, der KPD bereits ihre 81 Reichsmandate aberkannt worden waren und von den 120 Abgeordneten der Sozialdemokraten nur 94 gegen das Gesetz stimmen konnten, weil andere schon eingesperrt, geflohen oder wie Julius Leber und Karl Severing auf dem Weg zum Reichstag verhaftet worden waren.

Die Arbeiterbewegung setzte jedoch den Widerstand fort. Aus einer Reihe von Organisationen wie den christlichen und sozialistischen Gewerkschaften, dem Arbeitersportbund und dem Reichsbanner hatten sich Unterorganisationen gebildet.

Junge Leute formierten sich in der Gruppe „Neu beginnen“, darunter Richard Löwenthal und Fritz Erler. Die jungen Linken waren enttäuscht von ihrer Partei – oder Gewerkschaftsführungen, die ihnen im Widerstand gegen die anbrandende Naziflut nicht konsequent genug waren. Sie wollten wirksameren Widerstand leisten und setzten hierfür ihr Leben ein. Einige von ihnen, die überleben konnten, haben zehn und zwölf Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern zubringen müssen, bis das Regime in der Asche des von ihm herbeigeführten Zweiten Weltkrieges versank.

Der Widerstand nach 1933 war vielfältig. Es gehörte dazu die bittere Anklage und die politische Aufklärung über die Zustände im Dritten Reich durch die früh ins Exil getriebene geistige Elite unseres Landes, die alle Richtungen des demokratischen Spektrums repräsentierte.

In der protestantischen Kirche bot die Barmer Synode von 1934 die theologische Grundlage für den Kampf gegen Hitler. Nicht viele hörten dieses Zeichen, obwohl ein Mann wie Dietrich Bonhoeffer schon zu dieser Zeit erkannt hatte, dass die Kirche sich nicht nur um die Opfer unter dem Rad zu kümmern habe, sondern dem Rad selbst in die Speichen fallen müsse. In der katholischen Kirche war es ebenfalls nur eine Minderheit tapferer Geistlicher, wie zum Beispiel der Bischof von Münster, Graf von Galen, die durch Tat und Wort den Nationalsozialismus bekämpften.

Doch blieben die Kirchen lange stumm, selbst dann, als am 8. November 1938 das erste große Pogrom gegen die jüdischen Mitbürger im ganzen Reich ihren Widerstand unabweisbar erforderlich machte. Die nach dem Kriege formulierten Schuldbekenntnisse zeugen hiervon.

Wie jedoch glaubensstarke Christen beider Konfessionen mutig Zeugnis ihres Widerstandes abgelegt haben, so hat es auch im bürgerlichen Lager Beamte und Diplomaten gegeben, die Konsequenzen zogen, die sie und ihre Familien hart trafen, dennoch schieden sie aus ihren Ämtern, weil sie eine Tätigkeit für diesen von der Nazi-Diktatur okkupierten Staat mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten.

Mit tiefer Beschämung denke ich an diejenigen, die noch ihren Peinigern furchtlos widerstanden, als sie schon eingesperrt waren in KZs, oder an die jüdischen Mitbürger, die – ohnmächtig, Widerstand zu leisten – in die Massenvernichtungslager abtransportiert wurden.

Ausgelöst durch die Planung eines Angriffskrieges, durch den Überfall auf Polen, ausgelöst durch das Erkennen und Miterleben des militärischen Größenwahns, durch die furchtbaren Handlungen im Hinterland der Fronten aufgrund verbrecherischer Befehle, zu deren Durchführung sich Soldaten missbraucht sahen, wuchsen dem Widerstand andere Personenkreise und neue Gruppen zu. Generaloberst Beck, der Kreisauer Kreis und andere sind hier zu nennen.

Aber eigentlich waren es in allen sich bildenden Gruppen des Widerstandes vornehmlich jüngere Menschen, die sich aktiv beteiligten und hervortaten.

Auch Widerstand von Jugendlichen und ihrer eigenen Gruppen gab es von Anfang an und immer wieder, meist als Aufbegehren gegen den Zwang und die militaristischen Formen des Dienstes in den Staatsorganisationen. Das bis heute leuchtende Beispiel des Widerstandes junger Deutscher wurden die Aktionen der Geschwister Scholl und der Münchener Studenten um Professor Huber.

Es ist des Nachdenkens wert, dass fast alle bisher genannten Gruppen Wege und Methoden des Widerstandes wählten, mit denen sie sich aufklärend über die Schandtaten des Regimes an das Volk wandten, Protest und Aufklärung mit Flugblättern, Informationen über das Unrecht und Denkschriften mit zukunftweisenden Plänen sollten zu demokratischem Bewusstsein führen.

Die, die zur Demokratie zurück wollten, wählten die Mittel, die ihrem politischen Ziel gemäß waren und die doch so chancenlos waren gegen die funktionierende Maschinerie des Unrechtsstaates.

Erst besondere Widerstandsgruppen, die mit Akten der Sabotage den in seiner Wirkung gegen das eigene Volk gerichteten Krieg verkürzen wollten, griffen zu anderen Mitteln des Kampfes.

Und erst die in der zeitlichen Folge letzte Gruppierung des Widerstandes, getragen von Offizieren, die planmäßig das Zusammenwirken mit den führenden Köpfen aller demokratischen Lager der inneren Emigration suchten, zog ins Kalkül, den Tyrannen selbst zu beseitigen, den Kopf des Verbrechens abzuschlagen. Nur auf diese Weise erschien es möglich, dem Leiden der Völker durch den Krieg und den Holocaust ein Ende zu setzen, um dann einen Neuanfang wagen zu können.

Die inzwischen aufgearbeitete und dokumentierte Geschichte der zwölf Jahre von Hitlers Machtergreifung bis zu seinem Selbstmord, mit dem er sich der Verantwortung entzog, zeigt, dass Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen Beteiligte an Gruppierungen und Aktionen des Widerstandes waren. Keine war erfolgreich. Auch der späte Ansatz derjenigen, die erkannten, dass ihr Treueid auf infame Weise missbraucht wurde, misslang.

Wir gedenken heute dieser mutigen Menschen, durch deren Tat und Opfer am 20. Juli 1944 der Widerstand gegen Hitler für das eigene Volk sichtbar geworden ist. Wir müssen bekennen, dass diese herausragende Aktion des deutschen Widerstandes gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime kein Signal für die Erhebung der Massen gegen den Verführer und Unterdrücker wurde.

Sie wurde kein Signal, obwohl die meisten zu dieser Zeit an der militärischen Niederlage nicht mehr zweifelten und obwohl nur noch die nutznießenden Funktionsträger des Systems, die Schergen der SS und ein Teil der in ihrem Idealismus aufs Schlimmste getäuschten und missbrauchten Jugend zu diesem „Führer“ standen.

Ich erinnere mich noch an das eigene Erleben dieses Tages. Zusammen mit vielen Gleichaltrigen war ich als zwanzigjähriger Soldat zu dieser Zeit in einer Ausbildungskaserne. Es gab kein offenes Sprechen über die durch Rundfunk gemeldeten Ereignisse um das Attentat auf Hitler. Es gab weder Jubel oder Erleichterung, weil das Attentat erfolglos war, noch gab es spontane Reaktionen der Enttäuschung.

Andererseits war die Gefährdung, die eine freimütige Äußerung für den Einzelnen bedeutete, sehr vielen dieser Zwanzigjährigen durchaus bewusst. Die Mechanismen des totalen Staates funktionierten bis zum bitteren Ende.

Erst auf dem Rückmarsch in Ostpreußen im Januar 1945 habe ich erstmals von einem Kameraden mir gegenüber den Satz gehört: „Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn das Attentat am 20. Juli erfolgreich gewesen wäre.“

Nur tiefe persönliche Betroffenheit löste damals diese Bemerkung aus, denn ein gemeinsamer Freund war wenige Stunden vorher gefallen. Und was dachte ich selbst an diesem 20. Juli des Jahres 1944?

Als jemand, der aus einem antifaschistischen Elternhaus kam, war man mit seinen Gedanken und seiner Enttäuschung über das Scheitern allein. Es gab zwei Gedanken, die mich bewegten:

Einerseits dachte ich: Endlich haben auch führende Militärs erkannt, was Hitler für unser Volk bedeutet und sich gegen ihn gewandt. Und andererseits habe ich auch gedacht: Du selbst gehörst nicht zu den Handelnden gegen diesen Diktator und Zerstörer. Ich habe mich geschämt.

Meine Generation muss sich also fragen lassen: „Wenn ihr nicht zu denen gehört habt, die sich mutig auflehnten, was habt ihr getan, um zu verhindern, dass es in unserem Land je wieder zu solchen Verbrechen gegen die Freiheit und gegen die Würde der Menschen kommt, wie damals unter Hitler?“ Es ist die ständige Frage auch an das eigene Gewissen. Sie ist auch nach mehr als 40 Jahren nicht veraltet und stellt sich immer wieder neu.

Gewiss dürfen wir sagen, dass wir Mitwirkende waren am Aufbau eines demokratischen Staatswesens. Dies wäre nicht gelungen, wenn es nicht die Tradition des Widerstandes – und da meine ich den Widerstand in seiner Gesamtheit von 1933 bis 1945 – gegeben hätte. Dies wäre aber auch nicht gelungen, wenn es nicht den Beitrag der Frauen und Männer gegeben hätte, die im Exil in diesen Jahren das andere Deutschland verkörpert haben.

Ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland nie ganz und total mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden kann.

Mit ihrer Hilfe dürfen wir vielleicht sogar ein wenig stolz sein, erstmalig in der Geschichte unseres Landes mit Erfolg ein parlamentarisches Regierungssystem zustande gebracht zu haben, bei dem der Streit der Meinungen zwischen den Parteien die Verfassungsplattform nicht ins Wanken bringt, bei dem Wahlniederlagen mit dem folgenden Machtwechsel friedlich ertragen werden. Dafür gibt es in der Welt leider nicht übermäßig viele Beispiele.

Und lassen Sie mich angesichts des jüngsten Terroranschlags hinzufügen: Wir werden uns die Demokratie als Lebensform unserer Gesellschaft nicht mehr zerstören lassen! Der Rechtsstaat unseres Grundgesetzes hat sich Mittel geschaffen, um sich zu wehren. Unterstützt von der Bevölkerung, von allen demokratischen Bürgern unseres Landes, treten wir denen entgegen, die mit ihren feigen Mordanschlägen unsere freiheitliche Ordnung zerbomben wollen.

Lassen Sie uns aber dabei ein wachsames Auge darauf haben, dass die verständlichen Abwehrreaktionen der Bürger gegen die anarchistischen Gewalttaten nicht umschlagen in die Befürwortung eines staatlichen Handelns, das uns die gewonnene Freiheit wieder nimmt. Es geht um verantwortungsbewussten Gebrauch des Rechts und der Freiheit, nicht um schärfere Gesetze, deren Wirkung die Einschränkung von Freiheit für alle ist. Auch eine reaktionäre Welle kann unsere immer noch junge Demokratie gefährden.

Als es kurz nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes galt, sich mit einem neuen Einparteien-System auf dem Boden unseres Landes auseinander zu setzen, haben wir uns auf der freiheitlichen Seite engagiert. Daran muss man gerade hier in Berlin kurz vor dem 25. Jahrestag der Errichtung der Mauer erinnern. Wir haben den demokratischen Weg der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Gegenüber gewählt. Nun sind wir wenigstens so weit, dass beide Seiten sich im Klaren darüber sind, von Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen. Aber die Tatsache, dass die Mauer nicht abgetragen ist, zeigt, wie groß die gestellte Aufgabe noch ist, Grenzen unwichtig werden zu lassen.

Hierher – bei der Betrachtung des Verhaltens der Generation, die sich fragen lassen muss, was sie zur Verhinderung einer Wiederholung eines diktatorischen Regimes getan hat – gehört auch eine Anmerkung, bei der ich zweifele, ob wir dem gestellten Anspruch gerecht werden: Wir haben zwar als Konsequenz aus unseren Erfahrungen friedliche und freiheitliche Wege in die Zukunft für unser Volk aufgezeigt, ob wir uns aber mit unseren Ideen und deren politischer Umsetzung in die Wirklichkeit den kritischen Fragen und Urteilen der nachwachsenden jungen Generation genügend stellen, ob wir aufmerksam und offen genug für die Annahme von Kritik sind, da habe ich Zweifel. Junge Menschen stellen an politisches Handeln und die Politiker hohe Ansprüche, auch moralische Ansprüche. Haben sie noch Recht damit? Ich finde: Ja!

Und gerade deshalb müssen wir uns selbstkritisch fragen, ob wir erfolgreich waren in der wohl wesentlichen Aufgabe, nämlich der Aufgabe, im Bewusstsein der Menschen die Konsequenzen aus der deutschen Vergangenheit auf Dauer zu verankern.

Man kann guten Gewissens sagen, dass eine Grundübereinstimmung der Deutschen erreicht wurde, alles tun zu müssen, um den Frieden zu erhalten und ihn sicherer zu machen. Aber ist es uns gelungen, aus den Köpfen der Menschen unseres Volkes den Gedanken endgültig zu verbannen, sich je wieder einem nationalistischen Verführer unterzuordnen?

Ist es gelungen, den Rassismus zu ersticken, andere Völker und andere Rassen gleich zu achten? Wird nicht wieder Schuld für Missstände bei Ausländern, ja sogar bei den wenigen jüdischen Mitbürgern abgelagert, die noch in Deutschland verblieben sind?

Ich würde gern eine positive Antwort auf diese Fragen geben können; aber die schlimmen Briefe, die Heinz Galinsky bekam, als er sich gegen Äußerungen von Politikern über jüdisches Verhalten zur Wehr setzte, sprechen für sich und zeugen genauso von dem alten braunen Geist wie die „Nachhilfe“, die mir einige anonyme Schreiber zur Vorbereitung auf diese Gedenkveranstaltung glaubten erteilen zu müssen. Wir müssen diese Beispiele von offener und versteckter Feindschaft gegen unsere demokratische Ordnung ernst nehmen.

Und es gilt der leider noch weit verbreiteten Einstellung vieler Mitbürger entgegenzuwirken, die nicht erinnert werden möchten an diese Zeit, die nur ungern über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegen möchten, auch wenn es dabei gar nicht um persönliche Schuld geht.

Wer keine eigene befriedigende Antwort über seine Rolle damals geben kann, verdrängt lieber die Erinnerung, statt durch das offene Eingestehen eines erkannten und inzwischen korrigierten Fehlers den Weg freizumachen für sich selbst und für seine fragenden Kinder.

Aber wenn durch diese menschlich nahe liegende Verhaltensweise früheres Fehlverhalten vertuscht werden soll und Trotzreaktionen hervorgerufen werden, dann – so finde ich – muss der Finger in diese Wunde gelegt werden. Denn dabei wird sichtbar, dass die Vergangenheit nicht verarbeitet worden ist. Fruchtbare Aufarbeitung erfolgt dann, wenn die Erinnerung an das Schreckliche genutzt wird, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen, damit das Schreckliche sich nie wiederholen kann.

Im Mittelpunkt des Denkens von Elie Wiesel, des jüdischen Philosophen und Schriftstellers, der als Kind Auschwitz überlebte, steht der Gedanke, Erinnerung fruchtbar zu machen für die Immunisierung gegen alle Spielarten faschistischen, Menschenwürde verachtenden Denkens und Handelns. Ich möchte Ja zu diesem Denkansatz sagen und ihn unseren Schulen, unseren Organisationen und unseren Parteien empfehlen für ihre staatsbürgerliche, für ihre politische Bildungsarbeit.

Deshalb kommt die späte Ehrung für General Olbricht im Heeresamt der Bundeswehr nicht zu spät. Entscheidend ist, dass sie kommt und zwar nicht vom Minister verordnet, sondern aus der Truppe heraus.

Wir müssen weiter unruhig bleiben, wie jene Lehrer des Kurt-Huber-Gymnasiums in Gräfelfing, die vor einigen Tagen ein Buch über Professor Kurt Huber, den Mentor der „Weißen Rose“, herausgegeben haben, der in Stadelheim auf dem Schafott sterben musste.

Diese Lehrer gaben ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass wir in all den Jahren nicht geschafft haben, nur einen einzigen Blutrichter des Volksgerichtshofes vor Gericht zu bringen und der Bundestag dessen Urteile erst im letzten Jahr für nichtig erklärte.

Die Erinnerung fruchtbar zu machen und die Unruhe weiterzutragen, darin liegt auch weiterhin die Aufgabe meiner Generation.

Aber ist das geschilderte Problem des Verdrängens begrenzt auf die zahlenmäßig immer geringer werdende Personengruppe, die schon in den Jahren des Dritten Reiches erwachsen war?

Wenn ich mit Ja antworte, dann ist diese Antwort nur zum Teil richtig. Muss man nicht befürchten, dass nun sogar schon einige Politiker, die einer jüngeren Generation angehören, auf Wählerstimmen spekulieren, wenn sie es unterlassen, vorhandener Ausländerfeindlichkeit entgegenzutreten? Ist es nicht so, dass einige Leute schnell dabei sind, sogar das Grundgesetz ändern zu wollen, um eine negative Stimmung gegen vornehmlich aus Asien und Afrika kommende Asylbewerber bei sich einzufangen, statt dem Missbrauch (auch dem politischen Missbrauch dieses Problems durch die DDR-Führung) mit konkretem Handeln entgegenzutreten, ohne das Asylrecht zu beschädigen?

Es war doch unsere eigene Vergangenheit, die uns die Feder geführt hat bei der Fassung des Artikel 16 unseres Grundgesetzes!

Und war es nicht ein Alarmzeichen, wenn in diesem Jahr gleich mehrfach durch gewählte Mandatsträger den Juden generell negative Verhaltensweisen unterstellt wurden?

Was soll man schließlich dazu sagen, wenn nun ein Kultusminister den Lehrern aufgibt, die Schüler auch die erste Strophe des Deutschlandliedes zu lehren, nicht etwa mit dem Hinweis, sich kritisch mit dem überholten Denken des vorigen Jahrhunderts auseinander zu setzen, sondern mit der Absicht, diese Strophe auch singen zu lassen?

Ich will hier nur sehr kühl dazu anmerken, dass in diesem Land diese Strophe über zwölf Jahre lang mit dem zum Hitler-Gruß erhobenen Arm bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gesungen werden musste, und für die Nazis war der Inhalt dieser Strophe Ausdruck ihrer Großmacht-Träume und ihrer nationalistischen Überheblichkeit, mit der sie binnen kurzem unser Land zugrunde richteten und viele Millionen Tote hinterließen. Darüber muss in unseren Schulen wohl oder übel gesprochen und nicht gesungen werden.

Mir geht es nicht darum, Ängste zu wecken oder gar „den Teufel an die Wand zu malen“. Nein, gerade in die jungen nachwachsenden Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – und es sind nun schon mehrere – habe ich ein großes Zutrauen.

Die eigentlich prägenden Gruppierungen, die sich öffentlich artikulieren und wohl auch die Mehrheit repräsentieren, engagierten und engagieren sich für internationale Verständigung, für Freundschaft über Grenzen hinweg nach West und Ost, für Hilfe gegenüber den Schwachen, für Frieden und für die Dritte Welt.

Doch es bleibt in unserer Verantwortung, solches Denken und Verhalten zu stabilisieren und dafür müssen wir – besser als in den vergangenen Jahren – eine Vorbild-Rolle wahrnehmen; sollte ich besser sagen: wiedergewinnen?

Eine freiheitliche Demokratie muss, und dies ist eine der wichtigen Lehren der deutschen Vergangenheit, in sich stabil sein, sie muss fertig werden mit der Gefahr, dass ihre Feinde die demokratischen Freiheiten nutzen, um diese dann auszuhöhlen und zu zerstören.

Dies ist zwar auch eine Frage der Konstruktion der demokratischen Institutionen; aber es ist wohl mehr noch ein Problem von Aufklärung, Bildung und Erziehung. Die leider wiederholbare Fehlvorstellung, dass ein autoritärer Führer besser sei als die sich um das richtige Regieren streitenden Parteien, kann nur mühsam beseitigt und muss wohl für jede nachkommende Generation erneut am Beispiel unserer Vergangenheit ausgeräumt werden.

Wer die Lehren aus unserer Vergangenheit ziehen will, muss wissen, dass leider nach wie vor nationalistische Töne schnell eine gefährliche und breit wirkende Anziehungskraft besitzen.

Und da diese Erfahrung nicht nur auf unser Land beschränkt ist, besteht die Lehre darin, sich überall in der Welt für die Verwirklichung von menschlichen Grundrechten, für einen höheren Grad an Freiheit und für die Erhaltung des Friedens einzusetzen.

Die Frauen und Männer des Widerstandes, junge und ältere aus allen Schichten unseres Volkes, haben uns dafür ein Beispiel gegeben. Ihres Opfers zu gedenken haben wir uns an diesem Jahrestag des 20. Juli 1944 zusammengefunden.

Ihr Engagement für diese wirklichen und dauerhaften Ideale der Menschheit ermöglicht es uns, der Jugend nachahmenswerte Vorbilder zu zeigen.