Ihr Werk ist nicht vergeblich gewesen

Ernst Reuter
Ihr Werk ist nicht vergeblich gewesen
Gedenkrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Ernst Reuter am 20. Juli 1952 bei der Grundsteinlegung des Denkmals für die Opfer des 20. Juli 1944 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Bendlerstraße, Berlin



Meine sehr verehrten Anwesenden!


Vor acht Jahren sind an dieser Stelle Männer, die das Beste für Ihr Volk wollten, und die uns alle befreien wollten von der grausamen Tyrannei eines satanischen Regiments, den Tod gestorben für ihr Land, für unser Vaterland und für uns alle. Es geziemt uns nicht, die wir heute in dem vergänglichen Lichte der täglichen Arbeit stehen, große Worte zu gebrauchen. Uns ziemt es nur, uns in Ehrfurcht vor diesen Männern zu verneigen; uns geziemt es nur, in Ehrfurcht den Angehörigen, die hier sind, unsere tiefste Sympathie zum Ausdruck zu bringen; und uns geziemt nur das eine: zu arbeiten, wie sie gearbeitet haben; zu leben, wie sie gelebt haben, und zu handeln, wie sie gehandelt haben, in dem festen Willen, unsere ganze Existenz und unser Leben einzusetzen für die Ziele, die uns allen gemeinsam sind.


Diese Männer hier, sie ruhen in Frieden, sie haben gelitten, aber sie ruhen. Ihr Werk ist nicht vergeblich gewesen, denn es ist nicht immer der äußere Erfolg, der auf die Dauer im Gang der Geschichte zählt. Viele Menschen sind den Opfertod gestorben, und ihr Opfertod ist lebendig und ist lebendig gewesen und lebendiger geblieben als vergänglicher äußerer Ruhm. Denn die Toten leben immer, auch diese Toten.


Diese Toten des 20. Juli und all die Toten, die ihnen gefolgt sind, sie leben immer; sie sind ein lebendiger Beweis dafür, dass in unserem deutschen Volke Kräfte lebendig gewesen sind und immer lebendig sein werden, die über den vergänglichen Tag hinaus dem Ewigen, dem Wahren zustreben.


Wir begreifen es, – wir, die wir heute zu leben und zu arbeiten haben, wir begreifen es sehr genau, wie richtig das Wort ist, dass man die Gegenwart nur versteht und begreifen kann, wenn man die geschichtliche Vergangenheit seines Volkes versteht und begreift. Wir begreifen aber auch, dass man die geschichtliche Vergangenheit des eigenen Volkes nur verstehen kann, wenn man den gegenwärtigen Tag begreift und in ihm lebt.


Es mögen die Geschichtsschreiber der Zukunft je nach ihrer Tagesmeinung, je nach ihrer inneren politischen Überzeugung über das eine oder über das andere, was in dieser grauenvollen Vergangenheit sich abgespielt hat, ihr Urteil fällen. Das wahre Urteil wird immer ein anderes sein.


Groß ist in der Geschichte eines Volkes allein die menschliche Leistung und die menschliche Haltung. In diesem Sinne waren diese Männer und die, die ihnen gefolgt sind, große und echte Deutsche. Und in diesem Sinne respektieren wir aus tiefstem Herzen und tiefster Überzeugung ihre Tat. Wir würden uns selber nicht achten, wenn wir diese Toten nicht achten würden. Wir würden unsere eigene Arbeit nicht erkennen, wenn wir nicht erkennen würden, dass auf tausend unsichtbaren Wegen und durch tausend Kanäle uns mit ihnen unendlich vieles verbindet, und wenn wir nicht die Verpflichtung erkennen würden, ihr Gedächtnis den gegenwärtigen und den zukünftigen Geschlechtern zu erhalten.


Die Macht der Finsternis, die über unser Land gekommen war, die Nacht der Finsternis, die unser Land zu verschlingen drohte, sie hat nicht alles in Deutschland ersticken können. Auch in diesen finsteren Zeiten lebten Männer, in denen die Flamme des Herzens, die Flamme des Gewissens lebendig schlug, und die wussten, dass das Gewissen in der Brust eine größere Kraft darstellt als äußere Macht, der wir Menschen uns beugen müssen.


Was wir heute hier, das Volk von Berlin, gemeinsam mit der äußersten Hingabe und mit der äußersten Kraftanstrengung erstreben, unser Land zu befreien, das Joch abzuschütteln, das wir als Erbe übernommen haben aus diesen finsteren entsetzlichen Tagen, und unser Land seiner Einheit und seiner Freiheit wieder zuzuführen, das würden wir leichter erreichen können, wenn diese Männer nicht hätten sterben müssen, sondern wenn diese Männer am Leben geblieben wären. Dann würde vieles, vieles anders sein.


Gewiss, wir würden auch unsere Nöte und unsere Kümmernisse haben, und der Unverstand der Welt würde auch diesen Männern das Leben und uns allen das Leben nicht leicht gemacht haben. Aber Millionen hätten ihr Leben sparen können, Millionen würden unter uns sein. Und wichtiger als alle äußeren Zerstörungen und äußeren Verluste sind die entsetzlichen Verluste an Menschen, die wir erlitten haben, denn immer sind es die Guten, sind es die Tapferen, sind es die Aufrechten, die in der Geschichte zuerst den dunklen Weg des Todes gehen müssen. Wenn diese Männer heute leben würden, wäre vielleicht die grauenvolle Spaltung unseres Vaterlandes vermieden; unsere Stadt würde sicher nur halb so zerstört sein wie sie zerstört ist; und wir würden nicht nach rechts und links umschauen müssen nach Menschen, die uns helfen. Aber das mag alles sein; die Geschichte hat es anders gewollt. Trotzdem haben diese Männer uns etwas hinterlassen, das ich höher schätze als alle irdischen Güter. Sie haben uns hinterlassen das Vermächtnis tapferer Herzen und das Vermächtnis, dass es Menschen gibt, die für ihre Überzeugung in dem Bewusstsein zu sterben bereit sind, dass diesem Tod einmal eine echte Auferstehung folgen wird, die Auferstehung unseres Volkes zur Wahrheit, zur Freiheit und zu einem neuen Geiste.


Darf ich Sie, meine verehrten Angehörigen, die Sie hier heute unter uns weilen, nur bitten, der tiefen Sympathie und Anteilnahme von uns allen gewiss zu sein; aber darf ich Sie auch bitten zu verstehen, dass wir der Meinung sind, mehr noch als Sympathie und Anteilnahme zählt die Tat. Auf anderen Wegen, mit anderen Mitteln, unter anderen geschichtlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten müssen wir heute, acht Jahre nach dem Tode dieser Männer, unseren Weg gehen, entschlossen, aus ihrem Geiste Deutschland wieder aufzubauen.


Eines war groß an diesen Männern: Sie hatten begriffen, dass es über Schranken hinweg, über traditionelle Unterschiede hinweg etwas Gemeinsames gibt und etwas Gemeinsames geben muss. Wir sind allzu sehr und allzu leicht geneigt, in den Mühen der Tage diese große geschichtliche Wahrheit zu vergessen, dass ein Volk nicht leben kann ohne das Bewusstsein davon, dass es auch in ihm etwas Gemeinsames geben muss, das Menschen immer wieder in gemeinsamer Arbeit zusammenführt. In dieser unserer Stadt Berlin ist dieser Geist – dessen sind wir dankbar und froh – nicht ausgestorben, und er kann nicht aussterben, weil die tödliche Bedrohung, der wir alle immer noch ausgesetzt sind, zu nahe und zu gegenwärtig ist. Wir fühlen uns darum mit diesen Toten erst recht verbunden. Und ich bitte Sie, zu begreifen und zu verstehen, dass wir unsere gegenwärtige Arbeit leisten wollen in dem Sinne, dass es eine Verbindung zwischen der Vergangenheit, zwischen der Gegenwart und der Zukunft unseres Volkes geben muss und für alle Zeiten geben wird.


Aus diesem echten Verständnis für das Bedeutende, was in der Vergangenheit gewesen ist; für das Große, was wir heute zu leisten haben, und für die Zukunft, der wir entgegengehen wollen, – allein aus dieser Verbindung kann eine neue Welt erwachsen, kann der Unverstand, der uns auch heute noch umgibt, überwunden werden, kann die Härte, die Trägheit des Herzens beseitigt werden und kann eine Welt erwachsen, in der Völker und Menschen verstehen, dass sie für den Frieden zu arbeiten haben, und da der Bruder dem Bruder zu helfen hat, in einem besseren Verständnis für die echte soziale Gemeinsamkeit, Gerechtigkeit und Freiheit all derer, die Menschenantlitz tragen, die arbeiten, sich mühen und quälen, damit sie als Menschen leben, schaffen und arbeiten können, damit sie ihren Kindern und Enkeln eine freie Erde hinterlassen.


Hier in Berlin, im Schreine der Nation, sind diese Toten an dieser Stelle so gut eingebettet, wie sie nur eingebettet sein können. Das ist unsere tiefe Überzeugung. Die Ehrung, die wir ihnen erweisen, erweisen wir ihnen in dem Bewusstsein, dass diese Ehrung eine dauernde sein muss, die sich tief, tief in die Herzen unseres Volkes einprägen muss, dass Großes in einem Volk nur erwachsen kann aus der Arbeit freier Menschen, die für die Freiheit zu leben und zu sterben bereit sind. Ihnen reichen wir die Hände, und wir reichen die Hände der künftigen Generation, die schon unter uns ist und die unser und ihr Werk vollenden möge.


Der Senat von Berlin hat die Anregung, die vom Grafen Schwerin an uns kam vor einiger Zeit, diese Stelle wieder herzustellen und hier ein Denkmal für die Gefallenen zu errichten, gern aufgenommen. Wir haben das Bedürfnis gehabt, es so gut und so schön zu machen, wie wir es heute können; und wir haben das Bedürfnis gehabt, es so zu machen, dass es bleibend ist und nicht mehr vergessen werden kann. Wir haben das Gefühl gehabt, dass keine Stadt in Deutschland so sehr geeignet sein kann, diese Toten in den Schrein der Nation und in das Gedächtnis aller Deutschen aufzunehmen, als dieses unser geliebtes Berlin, das aus diesem Geiste heraus seinen Weg durch eine dunkle Gegenwart in eine helle Zukunft – wie wir sicher sind – gehen wird.


Indem wir uns in tiefem Respekt vor den Toten verneigen, indem wir den Angehörigen, die hier unter uns weilen, die Hand drücken, einigen wir uns alle in dem Gelöbnis fortzufahren, nicht zu wanken, keine Sekunde, bis wir dieses Ziel erreicht haben. Dann wird die Schmach der Vergangenheit ausgelöscht sein, und dann wird Deutschland aus eigener Leistung heraus gesühnt haben, was es in diesen furchtbaren Jahren begangen hat, wenn es sich selbst innerlich befreit und dann der Welt nicht mehr eine Bedrohung ist, sondern für die Welt auch ein sicherer Hort der Freiheit und der Gerechtigkeit, und wenn die Welt überzeugt sein kann, dass man mit diesem Volk zusammenarbeiten kann und arbeiten muss.
Die Toten ruhen in Frieden. Der Friede, in dem sie ruhen – er möge in stillen Stunden uns auch die Überzeugung geben, dass der Friede nur kommen kann für Menschen, die ihr Leben zu geben bereit sind. Niemand kann Größeres tun, als dass er sein Leben lässt für die Freunde. Das haben diese Männer getan. Was können wir, die wir heute arbeiten, anderes tun, als geloben, mit ihnen zusammen fortzuschreiten, bis das große Werk vollendet ist, bis die Banner der Freiheit über unsern Häuptern wehen und bis die Schande der Vergangenheit ausgelöscht ist und bis das ganze Volk mit uns, die wir heute erkennen, worum es sich handelt, vereinigt ist in dem Bekenntnis zu dem Leben und zu dem Sterben all derer, die über den Tag hinaus an die Zukunft ihres Volkes gedacht haben.


Ich verlese nun die Urkunde, die wir in den Grundstein dieses hier zu errichtenden Denkmals einlegen wollen:


„Zur Wahrung der deutschen Ehre und im Kampf des deutschen Volkes für die Befreiung von der Hitlerdiktatur ließen am 20. Juli 1944 an dieser Stelle ihr Leben:


Ludwig Beck, Generaloberst
Friedrich Olbricht, General der Infanterie
Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Oberst
Albrecht Mertz von Quirnheim, Oberst im Generalstab
Werner von Haeften, Oberleutnant


Ihnen folgten mehr als 2 000 Mitkämpfer dieser Widerstandsbewegung, Männer und Frauen aus allen Kreisen des deutschen Volkes in den Tod.
Berlin ehrt durch diesen Gedenkstein alle Widerstandskämpfer gegen den Naziterror.“