Im Auftrag ihres Gewissens

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ernst Lemmer

Im Auftrag ihres Gewissens

Ansprache des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer am 20. Juli 1962 in der Bonner Beethovenhalle

Kein Volk kann sich seine Zukunft sichern, das einer Stellungnahme zu den erschütternden Begebenheiten seiner Vergangenheit aus dem Wege geht. Zu den erschütternden Begebenheiten unserer jüngeren Vergangenheit zähle ich den 20. Juli 1944, aber auch den 17. Juni 1953 und den 13. August 1961. Ein Volk, das versuchen würde, in der Sphäre unerwarteten Wohlergehens und vermeintlicher Sicherheit nach vorne flüchten zu können, würde die Grundlage seiner Existenz zerstören. Man hört oft, uns Deutschen fehle das revolutionäre Temperament vieler anderer Völker. Die Geschichte zeigt, dass diese Meinung – zuzeiten Vorwurf, zuzeiten Ausdruck der Bewunderung – zu sehr vereinfacht. Das revolutionäre Temperament der Völker äußert sich verschieden. Die großen Revolutionsbewegungen unserer Geschichte sind im 16. Jahrhundert in den blutigen Bauernkriegen nur mühsam erstickt worden. Was im weiteren Ablauf unserer Geschichte geschah, unterstreicht das andersartige revolutionäre Temperament unseres Volkes ebenso wie sein revolutionäres Unglück. Das Aufbegehren gegen die Reaktion des frühen 19. Jahrhunderts mündete in die revolutionären Bewegungen der Jahre 1848 bis 1850. Hier entstand die Forderung nach der deutschen Einheit in Freiheit. Ob die Ereignisse im November 1918 Folge einer Revolution oder Folge des Zusammenbruchs gewesen sind, ist umstritten. Die so genannte Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 war demgegenüber zweifellos nicht das Ergebnis einer revolutionären Bewegung. Dann hätten sich andere Kräfte durchgesetzt als die, die Deutschland zerstörten und eine Welt in Trümmer zerschlugen.

Der 20. Juli 1944 nimmt angesichts all dessen eine Sonderstellung ein, er war nicht von Revolutionären im bisher üblichen Sinne des Wortes getragen. Hohnvoll schrieb vor Jahren die kommunistische Presse von bürgerlichen und adeligen Dilettanten. Diesen Hohn weisen wir zurück. Die Männer und Frauen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben ließen, sind mehr gewesen als Revolutionäre im überlieferten Sinne dieses Wortes. Die heute vor 20 Jahren sich erhoben, vornehmlich jene Männer aus unserem deutschen Soldatentum, mit ihnen führende Persönlichkeiten der freiheitlichen Arbeiterbewegung von einst und eines freiheitlichen Bürgertums, handelten aus Gewissensnot gegen ein System, in dem der Mensch nicht mehr Mensch sein sollte und konnte. Sie standen unter dem Zwang des Gewissens, wie wir alle, die wir nicht in der Emigration waren, die wir hier im Lande jene schreckliche Zeit durchstehen mussten. Und erst als das ganze Verhängnis in seiner überdimensionalen Größe sichtbar wurde, da griffen Männer ein, die zunächst ohne innere Beziehungen zum System ihre Pflicht getan hatten. Sie griffen ein, weil sie mit ihrem Weitblick und mit ihrem Mut dazu sahen, dass das Vaterland dem Abgrund entgegenrollte. Ihr Versuch, dieses Verhängnis aufzuhalten, scheiterte. Trotz und gerade wegen dieses Scheiterns bezeugen wir an diesem 20. Jahrestage vor den anwesenden Hinterbliebenen der Opfer des 20. Juli 1944 unsere große Ehrfurcht vor dem Tod ihrer Väter, ihrer Mütter, ihrer Geschwister und ihrer Kinder für das Vaterland. Darauf haben sie einen Anspruch, den ich als Mitglied einer Regierung, deren Chef heute in den Morgenstunden am Mahnmal der Opfer des Nationalsozialismus den Kranz der Bundesregierung niederlegte, unterstreichen darf. Die Bundeswehr erwies heute ihre Ehrenbezeigung durch das Stellen der Wache zur Erinnerung an ihre Kameraden, die als gute Soldaten und gute Deutsche handelten und starben.

Viele handelten nicht. Ihnen soll kein Vorwurf gemacht werden. Ich bin sicher, im Sinne der Hinterbliebenen zu sprechen, wenn ich erkennen lasse, wie schwer die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen unter einer blutigen Diktatur ist und damals war, so oder so zu handeln. Hier wollen wir keinen Riss schaffen in der inneren Haltung und dem Empfinden unseres Volkes. Aber wir alle sind verpflichtet, ich spreche es noch einmal aus, den Männern des 20. Juli 1944 und den tapferen Frauen in dieser Stunde erneut unsere Ehrfurcht zu bezeugen.

Unsere ausländischen Freunde, die aus Ländern kommen, die von deutschen Truppen besetzt waren, und, noch viel schlimmer, von deutscher Gestapo gepeinigt wurden, wären heute nicht mehr unter uns, wenn nicht der 20. Juli 1944 ihnen gezeigt hätte, dass auch in diesem Volk das Gewissen weiter schlug, auch in diesem Volk die Menschen da waren, die der Freiheit das letzte Opfer brachten. Ja, die Ersten oder mindestens unter den Ersten, die nach dem Zusammenbruch, nach dem totalen Zusammenbruch und der totalen Verachtung unseres Volkes in der Welt, den Weg zu uns fanden, um denen, die es wert waren, die Hand zu reichen, das waren die Deportierten in den Internierungslagern der nationalsozialistischen Zeit, das waren die Widerstandskämpfer in den Ländern, wo sie im Namen unseres Volkes unterdrückt wurden. Ihnen gilt mein Dank, dass sie auch heute an dieser Feierstunde teilnehmen. Es kann gewiss nicht alles in 19 oder 20 Jahren vergessen sein. Und es wäre auch nicht gut, wenn alles in die Vergessenheit geriete. Aber ihre Teilnahme lässt doch erkennen, dass sie die große Wandlung dieser Epoche mit uns verstanden haben, dass sie mit uns alle Völker, die die gleichen Werte der Rechtsstaatlichkeit, der sittlichen Staats- und Gesellschaftsordnung in Europa teilen, heute in der Gemeinschaft der europäischen Nationen zusammenführen wollen.

Ich spreche über den Äther, über diesen Saal hinaus zu meinen Mitbürgern in Stadt und Land, um ihnen zu sagen, dass die Männer und Frauen um den 20. Juli 1944 nicht gestorben sind, damit wir vergessen, was es bedeutet, in Freiheit und Sicherheit leben zu dürfen. Ich glaube, es kann auch von dieser Stelle aus, gerade vor dieser Versammlung der Sorge Ausdruck gegeben werden, dass alles, was wir an Menschenrecht und Bürgerwürde besitzen, einmal wieder verloren gehen kann, wenn wir uns nicht der schicksalhaften Bindungen und Mahnungen bewusst bleiben. Das, was so unendlich viel wert ist, begreift man in der Regel erst dann, wenn man es nicht mehr besitzt.

Als Bundesminister für die gesamtdeutsche Not stehe ich vor Ihnen, um mit meinen Worten zugleich Ihre Gedanken ostwärts auf das traurige Los jener 16 Millionen Landsleute zu lenken, die ohne ihre besondere Schuld noch unter der schweren Hypothek dessen stehen, was die Männer und Frauen vom 20. Juli von unserem Volk fernhalten wollten. Sie sind bis auf den heutigen Tag nicht in den Genuss der Freiheit und Menschenrechte gekommen, weil eine Diktatur eine andere ablöste. Ich will diese Stunde nicht missbrauchen zu einer Polemik mit dem Regime in dem nicht unabhängigen Teil unserer Heimat. Auch Kommunisten sind in dieser schwarzen Epoche unseres Lebens damals für ihre Gesinnung in den Tod gegangen; aber ob sie wohl ahnten, dass einmal ihre Nachfahren die gleiche Missachtung des Menschen und seines Wertes zeigen würden, wie das heute jenseits der traurigen Trennungslinie geschieht? Das kann ich nur fragen! Unter uns weilt ein junger Märtyrer, Lothar Böttcher, der mit 18 Jahren wegen Verteilung von West-Berliner Zeitungen zum ersten Mal und mit 20 Jahren zum zweiten Mal und dann mit 10 Jahren Zuchthaus wegen Verteilung von Flugschriften verurteilt wurde. Er hat auch seinen Freiheitskampf mit seinen Freunden geführt. Er hat vom 19. bis zum 29. Lebensjahr den schönsten Teil seines Lebens hinter den Zuchthausmauern eines anderen Regimes verbringen müssen! Er soll, der vor drei Wochen erst nach voller Abbüßung seiner Strafe als West-Berliner in die Freiheit entlassen wurde, wissen, dass wir in dieser Stunde auch seiner und seiner ungezählten Kameraden, die aus Gesinnungsgründen, aus religiösen und politischen Gründen hinter Zuchthausmauern schmachten müssen, von dieser Stelle aus gedenken!

In den kommunistischen Blättern Ost-Berlins ist der 20. Juli mit keinem Wort erwähnt worden. Das finde ich ganz in Ordnung! Ich beklage mich nicht darüber, denn der Respekt vor dem Menschentum und seiner Würde ist nicht zu teilen! Ganz gleich, wo und wie sie verletzt wird, es bleibt ein Vergehen gegen die Menschlichkeit, das die Täter brandmarkt, ob sie Nationalsozialisten waren oder Kommunisten sind.

Meine Damen und Herren, das erschütternde Geschehen vor 20 Jahren hat offenbart, dass es auch in Zeiten der tiefsten Bedrückung und Not Deutsche gibt und hoffentlich immer geben wird, die ihr ganzes Handeln in ihrem Leben, in ihrem Beruf und in der Politik in erster Linie vom Gewissen bestimmen lassen. Die Opfer des 20. Juli 1944 handelten im Auftrage ihres Gewissens. An ihm und nicht an der Macht werden die Zeiten gemessen.







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