Lehren aus der Geschichte

Manfred Rommel

Lehren aus der Geschichte

Gedenkrede vom Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart Dr. h.c. Manfred Rommel am 20. Juli 1994 in London

Es ist eine große Ehre für mich, dass ich eingeladen wurde, vor diesem erlauchten Zuhörerkreis über ein schwieriges und kontroverses Thema und einen Gegenstand unzähliger Publikationen zu sprechen: Über den deutschen Widerstand gegen Hitler. Heute vor 50 Jahren scheiterte Oberst Graf Stauffenbergs Versuch, Hitler zu töten. Die Zeitzünderbombe, die der Graf zu Hitlers Lagebesprechung mitgebracht hatte, tötete einige Teilnehmer, Hitler jedoch überlebte, kaum verletzt. Die Lagebesprechung war kurzfristig vom Betonbunker, wie zunächst vorgesehen, in eine Lagerbaracke verlegt worden. Die Geschichte hätte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen, wenn das Attentat erfolgreich gewesen wäre. So konnte Hitler jedoch seine Strategie, Deutschland zu vernichten und andere Nationen so viel Schaden wie möglich zuzufügen, fortsetzen. Somit bewahrheitete sich der Satz Johann Wolfgang von Goethes in seinen Anmerkungen zu dämonischen Persönlichkeiten in der Geschichte: „Nemo contra deum nisi deus ipse.“ Was heißen will: „Nur der Dämon selbst kann den Dämonen vernichten.“ Die Deutschen, von denen die Mehrzahl der Ansicht waren, insbesondere im östlichen Teil Deutschlands, dass sie, ob sie wollten oder nicht, mit Hitler im selben Boot saßen, kämpften bis zum bitteren Ende. Kein weiterer Versuch, Hitler zu beseitigen und den Krieg durch einen Umsturz in Deutschland gegen seine katastrophale Führung zu beenden, wurde unternommen.

Graf Stauffenberg, der noch am selben Tag nach Berlin zurückkehrte, wurde von einem Erschießungskommando auf Befehl eines Generals erschossen, der auf seiner Seite zu sein schien, aber die Fronten wechselte, als klar wurde, dass das Attentat des Grafen gescheitert war und Hitler überlebt hatte. Graf Stauffenbergs letzte Worte waren: „Es lebe unser geheiligtes Deutschland!“ In den darauffolgenden Monaten wurden viele Frauen und Männer, die dem Verschwörerkreis angehörten, die im Verdacht standen, mit den Verschwörern zu sympathisieren, die sich in Zirkeln getroffen hatten, die Hitler kritisiert und über dessen Beseitigung oder die Schritte danach diskutiert hatten, vor ein Sondergericht gestellt, zum Tode verurteilt und in der Mehrzahl gehängt oder enthauptet. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt, ihre Familien wurden in Konzentrationslager verschleppt. Viele überlebten jedoch, darunter Gräfin Stauffenberg und ihre Kinder.

Ich spreche von mutigen Frauen und Männern, die ihr Leben für den Widerstand gegen Hitler opferten. Jeder Einzelne verdient, erwähnt zu werden, aber dies würde den heutigen Rahmen sprengen. Meine Ausführungen werden sich deshalb auf die Situation, Vorgeschichte und Umstände des Hitlerregimes und seiner Gegner konzentrieren. Ich muss dabei vereinfachen, werde mich aber bemühen, der Versuchung, ein „terrible simplificateur“ zu werden, zu widerstehen.

Die breite Mehrheit der Deutschen versteht heute angesichts der unter Hitler begangenen Verbrechen und deren geplanter Fortsetzung im Falle eines deutschen Sieges, dass es besser war, den Krieg zu verlieren, als ihn mit Hitler zu gewinnen. Nach dem 2. Weltkrieg haben wir Deutschen umfassende und tatkräftige Hilfe von den Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich zum Wiederaufbau Deutschlands und zur Wiederherstellung der Demokratie erhalten. Niemand stellte nach der schrecklichen Erfahrung mit der NS-Diktatur mehr die Demokratie in Frage oder bestritt, dass sie die einzig denkbare Staatsform ist.

Nach dem 1. Weltkrieg jedoch stand die junge deutsche Demokratie vor enormen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Den demokratischen Politikern wurde zu Unrecht die Schuld für das deutsche Elend gegeben. Sie mussten gegen Extremisten auf beiden Seiten kämpfen: Am rechten Flügel gegen eine starke politische Bewegung, deren Ziel die Wiedereinführung der Monarchie oder die Einsetzung einer Regierung nach dem Vorbild eines militärischen Hauptquartiers war; am linken Flügel Anhänger Lenins und Stalins, eines Kommunismus, wie er in der Sowjetunion praktiziert wurde. In den Augen vieler Christen war die Sowjetunion das Reich des Bösen, der Feind Gottes. Nebenbei bemerkt: Eine Revolution in Deutschland nach Lenins Art hätte die Welt auch nicht glücklich gemacht. Viele überzeugte Demokraten träumten von einer besseren Demokratie als der real existierenden, und zwar jeweils links oder rechts der Realität. Man neigte ebenfalls dazu, die unpopulärsten, dringend notwendigen Entscheidungen den rivalisierenden Parteien zu überlassen und die eigene Position auf die Worte: „So nicht“, oder „nicht mit uns“ zu beschränken und der Frage auszuweichen: „Wie dann?“

Die militärische Niederlage von 1918 wurde in breiten Kreisen nicht akzeptiert. Der Vertrag von Versailles, insbesondere die immensen Reparationsverpflichtungen, wurden als Versuch angesehen, Deutschland für alle Zeiten der Verarmung und Erniedrigung preiszugeben. Wir Deutschen neigen bisweilen zum Wunschdenken und nehmen deshalb unsere Träume ernster als Fakten. Der deutsche Dichter Heinrich Heine schrieb im 19. Jahrhundert in „Deutschland, ein Wintermärchen, Cap. VII“:

Franzosen und Russen gehört das Land.

Das Meer gehört den Briten.

Wir aber besitzen im Luftreich des Traums

die Herrschaft unumstritten.

Die militärische Niederlage wurde also verleugnet. Es bestand der Glaube oder das Wunschdenken, dass die Armee nicht besiegt, sondern von Verrätern hinterrücks erdolcht worden war, dass die Armee nicht auf dem Schlachtfeld geschlagen worden war. Und dass der Tod von 2 Millionen deutscher Soldaten nicht umsonst und sinnlos gewesen sei, was immer das bedeutete. Es galt als unehrenhaft, ja sogar gefährlich, zu äußern, dass die deutsche Armee den Krieg verloren hatte. Es galt als Beleidigung der Soldaten, die im Krieg gefallen waren. Und weil jüdische Intellektuelle genau dies taten, um die Nation auf den Boden der Tatsachen zu bringen, und weil Karl Marx und Leo Trotzki Juden waren, und bei Christen immer eine religiöse Feindseligkeit gegenüber Juden vorhanden war, begannen immer mehr Menschen, den Juden die Schuld für die Probleme Deutschlands zu geben. Völlig zu Unrecht. Im Allgemeinen waren die deutschen Juden Patrioten und dienten Deutschland mit mehr Einsatzfreude als viele Nichtjuden. Auf diese Weise verbreitete sich die moralische und geistige Krankheit des Antisemitismus mit fatalen Konsequenzen, wie sich später erweisen sollte.

Die Verfassung, die sich das deutsche Volk nach dem 1. Weltkrieg gab, die sogenannte Weimarer Verfassung, verlieh dem Reichspräsidenten mehr Rechte als dem Reichskanzler, der an der Spitze des Kabinetts stand. Der Reichspräsident konnte den Reichstag auflösen und vorläufige Gesetze zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen (Notverordnungsrecht). Je stärker der Druck der erstarkenden Gegnerschaft der Demokratie auf beiden Seiten des politischen Spektrums auf die demokratischen Parteien – Sozialdemokraten, Katholiken und Liberale – wurde, desto größer wurde die Kluft zwischen den demokratischen Parteien in grundlegenden Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Verteidigungspolitik. Je häufiger dringend notwendige Entscheidungen im Reichstag keine Mehrheit finden konnten, desto mehr sah sich die Öffentlichkeit in ihrer Meinung bestätigt, dass das Schicksal der Nation vom Reichspräsidenten abhing.

Im März 1930 gab es einen erneuten Bruch der Koalitionsregierung, und das letzte Kabinett, das auf einer Mehrheit im Parlament beruhte, trat zurück. Alle weiteren Kabinette stützten sich lediglich auf das Vertrauen des Reichspräsidenten. Der immer häufiger zerstrittene Reichstag machte sich selbst handlungsunfähig. Die Reichsregierungen und der Reichskanzler hingen mehr von der Gunst des Reichspräsidenten als vom Vertrauen des Reichstages ab. Im Übrigen war der letzte Reichspräsident, Generalfeldmarschall von Hindenburg, der Nachfolger des Sozialdemokraten Ebert, ein Symbol militärischer Führung und vergangenen militärischen Ruhms. Nach dem Tod Friedrich Eberts, eines moralisch überaus integren Mannes und überzeugten Demokraten, war im Jahre 1925 von Hindenburg als Kandidat der Rechten gewählt worden. Im Jahre 1932 wurde er als Kandidat der demokratischen Parteien zur Verhinderung Hitlers wiedergewählt. Hitler, ein geborener Österreicher, der im selben Jahr deutscher Staatsbürger geworden war, kandidierte ebenfalls für das höchste deutsche Staatsamt. Hindenburg war fast achtzig, als er zum ersten Mal gewählt wurde, ein evangelischer Christ und konservativer Monarchist, der auf starke Unterstützung angewiesen war. Diese Unterstützung erhielt er von einer Gruppe von Beratern, die eine neue, nichtparlamentarische Regierung anstrebten. Die wachsende Abhängigkeit der deutschen Politik vom Reichspräsidenten festigte die Meinung, das parlamentarische System sei schwach und chaotisch, und zur Rettung Deutschlands brauche man eine starke Führung. Somit war das Tor offen für den „Retter“ Adolf Hitler.

Ein Wort zum Heer. Das Heer war nach dem Vertrag von Versailles auf ein Hunderttausend-Mann-Heer reduziert. Neben dem offiziellen Heer bestanden nach dem Ersten Weltkrieg zeitweilig mehr oder weniger paramilitärische Einheiten, sogenannte „Freikorps“, die den Kommunismus in den baltischen Staaten bekämpften oder spontan einberufen wurden, um die putschenden Kommunisten in Bayern niederzuschlagen. Im März 1920 scheiterten Freikorpskämpfer bei einem Putschversuch gegen die demokratische Regierung in Berlin. Später hatten politische Parteien eigene Verbände, die ebenfalls über Waffen verfügten. Insbesondere Hitlers Sturmabteilung, die SA, und die militärischen Einheiten der Kommunisten waren eine ständige Bedrohung für die Stabilität und Sicherheit der Republik. Das Berufsheer, das Hunderttausend-Mann-Heer, war als unpolitische Armee gedacht. Dies bedeutete, die Berufssoldaten besaßen kein Wahlrecht und durften keiner politischen Partei angehören. Dies war plausibel, weil das Heer ebenfalls als Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Innern eingesetzt wurde. So schlug es Aufstände der Kommunisten im Ruhrgebiet und in Sachsen nieder und hatte ebenfalls den Befehl, in den dreißiger Jahren die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, als Straßenkämpfe und Morde auf beiden Seiten die normale Form der Auseinandersetzung zwischen Links- und Rechtsextremen wurden. Die Tugenden, die in allen Armeen, auch in der deutschen Armee, gelehrt wurden, sind Treue, Gehorsam, Disziplin, Mut, Verlässlichkeit. Es war gut, diese Sekundärtugenden zu besitzen, solange sich diese Treue auf demokratische Institutionen bezog. Dies aber änderte sich grundlegend, als im Jahre 1933 die Diktatur die Demokratie ablöste. Von jenem Zeitpunkt an dienten diese Tugenden nicht mehr einer guten Sache, wie wir rückblickend eingestehen müssen. Nach 1933 wäre es besser gewesen, wenn die Armee weniger treu, gehorsam und diszipliniert gewesen wäre. Aber in seiner Regierung erhob Hitler die Sekundärtugend Treue zu einer Primärtugend und schaffte Primärtugenden wie Menschenwürde ab.

In Deutschland wurde die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre durch eine rigorose Deflationspolitik und drastische Ausgabenkürzungen beantwortet. Unter anderem wollte die deutsche Regierung damit demonstrieren, dass Deutschland nicht mehr in der Lage war, Reparationsleistungen für den 1. Weltkrieg zu zahlen und es sich positiv auf die Weltwirtschaft auswirken würde, wenn die Zahlung eingestellt würde. Diese rigorosen Ausgabenkürzungen lösten noch mehr Unruhe aus. Hitlers Partei, die bis dahin eher von untergeordneter Bedeutung war, wurde zur stärksten Fraktion im Reichstag. Angesichts dieser Realität versuchten konservative Politiker und Teile der Liberalen und Katholiken, sich mit Hitler zu arrangieren, in der Hoffnung, sie seien die Herren und er der Knecht. Aber es sollte gerade umgekehrt kommen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, Hitler in eine Regierung zu integrieren, ernannte ihn von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler und Chef einer „Regierung der nationalen Erhebung“. Hitler, von dem bekannt ist, dass er im 1.Weltkrieg nicht vom Gefreiten zum Obergefreiten befördert wurde, weil er über keine „entsprechenden Führereigenschaften“ verfügte, erwies sich als perfekter Organisator. Hitler, der in den Besitz der gesamten legislativen und exekutiven Macht gelangte, wurde durch eiskaltes Taktieren, durch Terror, Willkür, Skrupellosigkeit und Verführung der Verwirrten mit Hilfe seiner SA-Einheiten in wenigen Wochen zum uneingeschränkten Herrscher Deutschlands. Öffentlicher Widerstand war von da ab ausgeschlossen.

Der Reichstag änderte die Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und übertrug durch Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im März 1933 die Gesetzgebungsvollmacht auf Hitlers Regierung. Viele Gesetzentwürfe, welche die Verwaltung vorbereitet hatte, die jedoch im Reichstag keine Chance gehabt hatten, wurden nunmehr von Hitler unterschrieben und in Kraft gesetzt. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis Radio, Zeitung, Film, Theater, von denen in den Zeiten der Demokratie und selbst während des deutschen Kaiserreichs Kritik ausging, ein erfolgreiches Instrument der Regierungspropaganda und Gehirnwäsche wurden. Anstatt schlechter gab es nur noch gute Nachrichten. Es ist schamvoll, dies zugeben zu müssen, aber eine Welle des Optimismus begann sich in Deutschland auszubreiten. Mehr Menschen heirateten, mehr Kinder wurden geboren, Arbeitsplätze angeboten, die Wirtschaft schien zu florieren. Die Öffentlichkeit wusste nicht, dass Hitlers Wirtschaftspolitik in der Katastrophe enden musste, weil sie auf öffentliche Aufträge, insbesondere für Aufrüstung, beruhte und von der Notenpresse finanziert wurde. Die Gesellschaft wurde nach und nach immer straffer organisiert. Männer und Frauen, Arbeiter, Manager, Rechtsanwälte und Studenten, Kinder und Jugendliche, wurden in paramilitärischen Einheiten zusammengefasst. An Wochenenden war in den Straßen Trompetenlärm, Dröhnen und Blasen der verschiedenen Organisationen und ihrer Orchester zu vernehmen. Die Soldatenlieder, Musik aus dem Herzen der Menschen, waren in der Vergangenheit sentimentaler gewesen:

Es geht mit gedämpften Trommelklang,

der Ort ist so weit, der Weg ist so lang.

Ach wär' es vorüber und alles vorbei.

Ich glaube, es bricht mir das Herz entzwei.

Jetzt wurden Soldatenlieder optimistisch und aggressiv. Kunstwerke mit einer kritischen Einstellung zum Krieg verschwanden und wurden durch Machwerke, die das Heldentum verherrlichten, ersetzt.

Die Tatsache, dass während des Dritten Reiches von Anfang an jüdische Bürger diskriminiert, misshandelt, enteignet und diffamiert wurden, dass oppositionelle Politiker, Künstler und Journalisten emigrieren mussten, dass politische Gegner in eilig errichteten Konzentrationslagern verschwanden, ging in Propaganda unter. Zunächst wurde Hitler von den Kirchen toleriert. Viele Gläubige waren erleichtert, dass die kommunistische Bedrohung aus Deutschland verschwunden und ihre christlichen Werte gerettet waren. Hitler beeindruckte insbesondere die Protestanten durch sein Bekenntnis, gläubiger Christ zu sein. Aber viele Christen wurden hellhörig, als Hitler versuchte, den Protestantismus dem Nazismus einzuverleiben. Unter den deutschen Katholiken war die Skepsis größer. Aber im Jahre 1933 wurde ein Konkordat zwischen Hitlers Regierung und dem Vatikan in Rom abgeschlossen.

Als Hindenburg im Jahre 1934 starb, vereinigte Hitler die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers. Die meisten Armeeoffiziere waren über Hitlers politische Stoßtruppe, die SA, besorgt und irritiert. So war die Erleichterung groß, als Hitler im Jahre 1934 die wichtigsten SA-Führer ermorden ließ und dadurch den Einfluss der „Braunhemden“ erheblich einschränkte. Die Armee sah jedoch eine neue Gefahr nicht voraus: die SS. Hitlers wichtigster Verbündeter war Erfolg: Die Arbeitslosigkeit verschwand beinahe vollständig, die Reparationsleistungen wurden ausgesetzt – Hitler konnte die Früchte der Arbeit seiner demokratischen Vorgänger ernten. Die deutsche Furcht, früher oder später Opfer überlegener Streitkräfte von Nachbarstaaten zu werden, verschwand: Die deutsche Aufrüstung war durch keine Einschränkungen gebremst. Der Traum, Deutschland mit Österreich zu vereinen, wurde wahr. Selbst die riskante Besetzung der Tschechoslowakei endete unblutig. Immer mehr Deutsche sahen in Hitler einen Heilsbringer. Die Gefolgsleute von Diktatoren fühlen sich selbst als Herren und nicht als Sklaven. Sie fühlen sich besonders frei, weil ihre Meinungsfreiheit nicht durch Andersdenkende eingeschränkt wird. Hitler konnte es sich also leisten, den Deutschen Freiheit zu versprechen. Aber er meinte nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern lediglich die kollektive Freiheit, mit ihm überein zu stimmen.

Die Geschichte des deutschen Widerstandes nahm im Jahre 1933 ihren Anfang. Von Anfang an wurden natürlich alle, die gegen Hitler waren, von ihm als Feinde verfolgt: deutsche Juden, oppositionelle Journalisten und Künstler, Sozialisten, viele Liberale, Kirchenleute, die hinter die Fassade von Hitlers vorgetäuschtem christlichen Glaubensbekenntnis blickten. In den Anfangszeiten organisierten insbesondere Kommunisten einen überaus effektiven illegalen Widerstand, aber ihre Struktur wurde von der Gestapo zerschlagen. Tausende Oppositioneller opferten ihr Leben durch die Verbreitung von Flugblättern und Artikeln gegen Hitler oder durch den Aufbau geheimer Gruppen von Andersdenkenden. Viele Konservative wussten oder begannen zu begreifen, wie Hitler wirklich war, dass seine Pläne unmenschlich waren, und insbesondere, dass er vor allen Dingen auf einen Krieg zusteuerte. Im Jahre 1938 planten hohe deutsche Offiziere eine Verschwörung gegen Hitler, weil sie einen Kriegsausbruch befürchteten. Aber ihre düstere Vision sollte sich noch nicht bewahrheiten. Im November 1939 versuchte ein Mann namens Georg Elser, der keinerlei Verbindung zu Widerstandsgruppen hatte, Hitler während eines Treffens mit seinen alten Kampfgenossen im Münchener Bürgerbräu-Keller mit einer Zeitzünderbombe zu töten. Er wollte auf diese Weise der Welt einen Krieg ersparen. Es gab einige Tote, Hitler selbst jedoch entkam.

Der Widerstand hatte geringe Erfolgsaussichten. Hitlers Regierungsform und seine Geheimpolizei wurden immer erfolgreicher, ein Triumph der Organisation. Die Andersdenkenden waren, was Organisation und Kommunikation anlangt, stark eingeschränkt. Über der Realität lag ein Propagandaschleier. Es war schwierig, Informationen über verborgene Fakten und Ziele des Nationalsozialismus zu erhalten und gefährlich, diese zu verbreiten. In Deutschlands Zentrum von Politik und Verwaltung, in Berlin, in einigen anderen Großstädten oder Universitäten waren die Möglichkeiten, Verschwörergruppen zu bilden, besser. Aber nicht gut genug. Jedenfalls wurde alles noch schlimmer, als der 2. Weltkrieg ausbrach.

Die Abhängigkeit von der offiziellen Propaganda als einzige Informationsquelle wuchs beträchtlich: Das Hören von ausländischen Radiosendern wurde mit schweren Strafen belegt, vor allen Dingen, wenn die Informationen weiterverbreitet wurden. Dieses sonderbare Gesetz sollte verhindern, dass die deutsche Moral von feindlichem Einfluss untergraben würde. In einem anderen Gesetz wurde zum Wohl der Volksmoral, die nicht beeinträchtigt werden durfte, jegliche Kritik an der Regierung unter schwere Strafen gestellt. Wie beim Ausbruch eines jeden Krieges verband die Mehrheit der Menschen ein starkes Gefühl der Solidarität: mein Land, in guten und in schlechten Tagen. Dieses Gefühl der Solidarität vermischte sich mit nationalem Stolz nach den siegreichen Feldzügen der ersten beiden Kriegsjahre, insbesondere nach dem, was von Winston Churchill als „ihre große Stunde“ bezeichnet wurde. Intellektuell und emotional war der Weg noch weit von: „Deutschland wird siegen“ über „Deutschland muss siegen“ und „Deutschland wird siegen“ zu der Erkenntnis „Besser eine Niederlage als ein Sieg unter Hitler“. Unter den Männern und Frauen des Widerstandes waren viele, die diesen geistigen Weg im Krieg beschritten haben.

Der Angriff der Deutschen und ihrer Verbündeten auf die Sowjetunion im Juni 1941 brachte die entscheidende Kriegswende. Sein oder Nichtsein war von Anfang an die Devise. Auf beiden Seiten wurde hart und grausam gekämpft. Die deutsche Propaganda beschrieb den Krieg als Feldzug des Guten gegen das Böse, der moralisch überlegenen gegen die Schlechten, der Zivilisation gegen die Barbarei, der germanischen Rasse gegen Asien, freilich mit Ausnahme der Japaner. Sowjetische Gräueltaten wurden in den deutschen Medien breit diskutiert. Die Geschichte lehrt, dass Kreuzfahrer bisweilen grausamer als sogenannte Ungläubige sind. So war es mehr oder weniger auch in Russland, wenn wir an das Vorgehen der Einsatztruppen der SS zur Ausrottung der Juden, Russen und Polen in den Konzentrationslagern im Osten und an anderen Orten, insbesondere den Holocaust, den Völkermord an den Juden in Europa, denken. Natürlich wurde in den deutschen Medien über diese Gräueltaten nicht berichtet, der Propagandaschleier deckte alles zu. Aber da es unmöglich ist, Millionen von Menschen ganz und gar im Geheimen und ohne Augenzeugen zu töten, drangen Informationen über diese Verbrechen durch die Propagandaschleier und verbreiteten Entsetzen und Unglauben. Menschen, die etwas wussten, waren gut beraten, darüber zu schweigen, um sich nicht selbst in tödliche Gefahr zu bringen. Aber viele Männer und Frauen, die gehört oder gesehen hatten, was sich abspielte, schlossen sich der Widerstandsbewegung gegen Hitler an. Dies gilt insbesondere für die Gruppe von Offizieren in Berlin, darunter Graf von Stauffenberg. Dies gilt ebenfalls für eine Gruppe von Mitgliedern und Studenten der Universität München, „Die Weiße Rose“, um die Geschwister Scholl, die im Jahre 1943 vor Gericht gestellt und hingerichtet wurden. Mit bescheidenen Mitteln, mit Flugschriften, die die Verbrechen der Nazis enthüllten, lehnten sie sich gegen die moralische Verderbtheit ihrer Zeit.

Aber viele Deutsche fürchteten, dass Hitler die Brücken hinter Deutschland abgebrochen hatte, insbesondere durch den Überfall auf die Sowjetunion. Je deutlicher wurde, dass sich der Wind gedreht hatte und je mehr sich die sowjetische Armee Deutschland näherte, nachdem sie über tausend Kilometer über ihr verwüstetes Land vorgerückt war, umso weniger war die Mehrzahl der Menschen bereit, die Realität und die Möglichkeit einer deutschen Niederlage zu akzeptieren. Dies galt ebenfalls für viele Soldaten, insbesondere für diejenigen, welche an der Ostfront kämpften. Eine Verschwörung gegen Hitler wurde in der deutschen Armee in Russland weniger erwogen als in Frankreich. Es bestand auch die Hoffnung, Deutschland könne einen Frieden mit Bedingungen aushandeln, solange seine Truppen stark waren. Aber Hitler setzte sich nie mit dieser Möglichkeit auseinander. In Widerstandszirkeln bestand die Hoffnung, die Alliierten könnten einen annehmbaren Frieden anbieten, wenn Hitler beseitigt wäre und eine neue, moralisch erneuerte und anerkannte Regierung ihm folgen würde. Vertreter der westlichen Alliierten, mit denen Angehörige des deutschen Widerstandes im Jahre 1944 Kontakt aufgenommen hatten, machten ihnen indes wenig Hoffnung, dass im Falle eines erfolgreichen Umsturzes von der Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation abgewichen würde. Aber der entscheidende Punkt war: Wie konnte man Hitler beseitigen? Mehrere Attentate wurden geplant, vorbereitet und ausgeführt. Er hat stets überlebt. Viele, die sich an die Zeit nach dem 1. Weltkrieg erinnerten, waren der Ansicht, ein ermordeter Hitler könnte gefährlicher als ein lebendiger werden.

Die Hoffnung vieler Widerstandskämpfer, Hitler zu beseitigen, konzentrierte sich auf die Streitkräfte, insbesondere auf die Armee. Tatsächlich hatten im Jahre 1938 angesichts der Kriegsbedrohung die Generäle Beck und Halder einen Plan ausgearbeitet mit dem Ziel, Hitler zu entfernen und Truppen gegen sein Regime einzusetzen. Aber der Plan wurde nicht ausgeführt, weil Hitler ein Abkommen mit den Premierministern Frankreichs und Großbritanniens schloss. Wir werden nie erfahren, ob dieser Plan funktioniert hätte, und vor allen Dingen, ob die Truppen den Generälen gegen Hitler gefolgt wären. Zumindest in Kriegszeiten war es beinahe hoffnungslos, eine deutsche Militäreinheit gegen Hitlers Regierung zum Einsatz zu bringen. Treue und Gehorsam waren der Armee eingetrichtert worden, so dass jedenfalls mein Vater es für unmöglich hielt, dass die Generäle die Armee zum Vorgehen gegen Hitler bewegen konnten. Was er jedoch für möglich hielt, war, dass sich die Truppen angesichts eines militärischen Zusammenbruchs ergeben würden.

Das Militär war aus einem anderen Grund ein untaugliches Instrument für einen Umsturz. Es ist zwar richtig: Die Armee besaß eine gewisse Autonomie. Berufssoldaten waren mit Ausnahme einiger Ehrenmitglieder nicht Mitglieder der NSDAP. Aber an der Spitze war kein Berufssoldat, kein militärischer Oberbefehlshaber. Im Jahre 1938 ernannte sich Hitler zum Obersten Befehlshaber der Wehrmacht; im Jahre 1941 ebenfalls zum Obersten Befehlshaber des Heeres. Hitler war ein Meister der Regel: Teile und Herrsche. Die militärischen Befehlshaber der Heere und der Heeresgruppen waren mit der Führung ihrer Heeresverbände beschäftigt. Sie hatten überaus selten die Gelegenheit, einander zu treffen, miteinander zu sprechen und Meinungen auszutauschen. Somit ist die Vorstellung von der deutschen Wehrmacht als einer Einheit und einer politisch geschlossenen Formation, die so etwas wie die „Volonté Générale“ verkörperte, unrealistisch.

Unter den misstrauischen Augen der Diktatur war es unmöglich, den deutschen Widerstand wie ein modernes Unternehmen zu organisieren, mit Funktionsträgern und Aufsichtsrat. Aber trotz dieser Erschwernisse wurde ein beachtlicher Organisationsgrad erreicht. Zwischen den eigenständig operierenden Gruppen bestanden Verbindungen. Einer der geistigen Führer des Widerstandes war Carl Goerdeler, ein konservativer evangelischer Christ und Kommunalpolitiker, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Sein Bruder Fritz, selbst Oberbürgermeister, unterstützte ebenfalls den Widerstand. Beide Brüder wurden später wegen ihrer Beteiligung an der Verschwörung hingerichtet. Im Jahre 1933 war Carl Goerdeler eine hochgeachtete Persönlichkeit in Deutschland. Hitler hätte ihn gerne für seine Sache gewonnen. Aber Goerdeler lehnte von Anfang an jede Art der Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus ab. Und von Anfang an sah er, dass Hitlers moralische Grundsätze eher einer Antimoral glichen, dass Hitler die christliche Religion und die ethische Grundlage der deutschen Zivilisation zerstören wollte, dass das Ziel seiner Politik Krieg war und er im Grunde ein Reich der Unterdrückung und Unmenschlichkeit anstrebte, in dem er der einzige Herr über das menschliche Leben sein würde. Mit großem Mut sprach Goerdeler zu vielen Menschen über seine Befürchtungen, Hoffnungen und Projekte. In den dreißiger Jahren schrieb er Briefe und verfasste Denkschriften, die er amerikanischen und britischen Politikern sandte, um sie vor Hitler und seinen kriegerischen Plänen zu warnen. Goerdeler sah mit Verzweiflung, wie verwirrt die Deutschen waren. Im Jahre 1937 betonte er in einer Denkschrift, die er nach seinem Rücktritt verfasst hatte, dass selbst unter den glühendsten Nationalsozialisten niemand die wahre Bedeutung des Nationalsozialismus kannte. Für Goerdeler war es von entscheidender Bedeutung, dass Deutschland zu einem Rechtsstaat auf der Grundlage der Verfassung zurückkehrte. Für ihn beruhte jede rechtmäßige Regierung auf den christlichen Lehren der Bibel. Er sprach mit Generälen und erinnerte sie an ihre Verantwortung. Er versuchte, die deutschen Widerstandsgruppen zu vereinigen, deren Zusammenarbeit zu fördern und gemeinsame Modelle von dem, was nach Hitlers Sturz kommen konnte und sollte und wie die moralischen Wunden geheilt werden konnten, zu entwickeln. Er war ein großer Mann. Es grenzt schon beinahe an ein Wunder, dass Hitlers Gestapo erst im Jahre 1944 auf die Spur seiner zahlreichen Aktivitäten im Widerstand kam.

Im Jahr 1938 formierte sich die wichtigste Gruppe um den ehemaligen Generalstabschef Beck. Dieser Gruppe gehörten ebenfalls Armeestäbe und militärische Dienststellen in Berlin an, unter anderem das Oberkommando des deutschen Ersatzheeres und das Allgemeine Heeresamt, zuständig für den Armeenachschub und die Armeeverwaltung. Der militärischen Widerstandsgruppe war eine zivile oder politische Gruppe angeschlossen, in der fast alle Oppositionskreise vertreten waren: Konservative, Liberale, Sozialisten, Kirche. Die Politiker und Soldaten diskutierten über Möglichkeiten, Hitler und sein Regime zu stürzen und durch eine Regierung, die moralische Werte achtete, abzulösen. In illegalen Gruppen sprachen sie darüber, wie diese Regierung zusammengesetzt sein sollte, sie erarbeiteten Verfassungsentwürfe und politische Visionen, in denen sich die unterschiedlichen politischen Strömungen gegen Hitler wiederfanden. Sie erstellten Listen mit den Namen der potentiellen Mitglieder einer zukünftigen Regierung nach dem Sturz Hitlers. Kurz gesagt: Sie bereiteten eine politische Strategie vor, die anschließend ausgeführt werden sollte. Sie hatten außerdem Kontakt zu neutralen und sogar amerikanischen und britischen Persönlichkeiten. Sie waren in Berlin als Informationszentrum gut informiert über die kriminelle Seite der Politik Hitlers. Die moralische Abscheu vor diesen Verbrechen war ihr Hauptmotiv für die Verschwörung.

Wie aber konnte man Hitlers Regime beenden? Dies war die entscheidende Frage. Es gab drei Möglichkeiten: Erstens, Hitler gibt auf und tritt ab, zweitens, das deutsche Heer kapituliert in Frankreich nach der alliierten Landung und drittens, Hitler wird getötet.

Die Verschwörer in Berlin waren immer mehr davon überzeugt, dass jeder Umsturzversuch in einer Tötung Hitlers ihren Ausgangspunkt haben musste. Die Aufregung nach seinem Tod würde einer ausgeklügelten Strategie eine Erfolgschance geben: Ganz legal hatte der Stab des deutschen Ersatzheeres eine Strategie zur Niederschlagung innerer Unruhen in Deutschland ausgearbeitet, die von der ständig wachsenden Zahl von Zwangsarbeitern hätten ausgehen können. Dieser Operationsplan trug den Namen „Walküre“ und sollte die öffentliche Ordnung mit drakonischen Maßnahmen, unter anderem Standgerichte und Ausgangssperren wiederherstellen. Die Verschwörer wollten diesen Plan und die schubladenfertigen Befehle als Instrument der Verschwörung nutzen.

Offiziell als Unterdrückungsinstrument geplant, wurde dieser Plan insgeheim zu einem Werkzeug des Umsturzes. Der Einsatz von Truppen gegen die Regierung in dem Glauben, dass sie tatsächlich im Auftrag der Regierung handelten, hätte möglicherweise in einer Situation des allgemeinen Durcheinanders nach Hitlers Tod funktioniert. Aber es funktionierte nicht am 20. Juli, als Hitler Graf von Stauffenbergs Attentatsversuch überlebte. Die Empfänger der „Walküre“-Befehle waren verwirrt. Einige, die im Übereifer ihre Befehle ausgeführt hatten, verloren die Fassung, als sie erfuhren, dass Hitler noch am Leben war. Das Wachbataillon in Berlin wechselte die Fronten und stellte sich gegen die Verschwörer. Der militärische Befehlshaber von Paris, General von Stülpnagel, der unverzüglich angeordnet hatte, die Gestapo unter Arrest zu stellen, versuchte vergeblich, sich zu erschießen. Er fiel blind in die Hände der Häscher, wurde verurteilt und hingerichtet.

Graf Stauffenberg, der an einer schweren körperlichen Behinderung litt – er hatte ein Auge, seine rechte Hand und zwei Finger der anderen in Tunesien verloren –, hatte bereits zweimal zuvor versucht, Hitler zu töten: am 11. Juli 1944 in Berchtesgaden und am 15. Juli in Rastenburg. Zuvor hatten bereits Offiziere der Berliner Gruppe den Plan, Hitler zu töten. Aber von Stauffenberg brachte den Widerstand vom Stadium der Planung in das der aktiven Realität. Aus diesem Grund ist er meiner Meinung nach die wichtigste Persönlichkeit im deutschen Widerstand, ein Mann, dessen man mit Respekt und Bewunderung gedenkt. Sein Scheitern war eine Tragödie für Tausende, die am deutschen Widerstand beteiligt waren oder diesen unterstützt hatten und die Millionen Menschen, die in den darauffolgenden Monaten, ehe der Krieg beendet und Hitlers Regime zusammengebrochen waren, als Soldaten ihr Leben lassen mussten.

Einige kurze Anmerkungen über meinen Vater. Am 20. Juli war mein Vater Patient in einem Feldlazarett. Er war bei einem britischen Bombenangriff in der Nähe von Livarot am 17. Juli schwer verwundet worden. Zwei Tage zuvor, am 15. Juli, hatte er eine Denkschrift an den Oberbefehlshaber West Feldmarschall von Kluge und Hitler verfasst, in der er Konsequenzen aus der Niederlage im Westen verlangte. Seit Ende 1943 hatte mein Vater Kontakte zu Oppositionskreisen. Als er im August 1944 aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wurde, war er noch immer in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Die Gestapo beobachtete Tag und Nacht unser Haus. Im Gespräch mit uns äußerte mein Vater die Ansicht, dass es für Europa und Deutschland verhängnisvoll war, dass im Westen noch immer gekämpft wurde. Er sagte, er sei gegen die Ermordung Hitlers, wegen des Risikos, ein toter Hitler könne gefährlicher sein als der lebende. Weiter, dass es seine Absicht gewesen sei, im Westen zu kapitulieren und die Alliiertentruppen so weit wie möglich gegen Osten vordringen zu lassen. Er glaubte, dieser Plan wäre nach dem zu erwartenden Durchbruch der Alliierten, der dann tatsächlich in St. Lo erfolgte, durchführbar gewesen. Ich glaube, er erzählte uns nur, was seiner Meinung nach gut für uns war. Am 14. Oktober 1944 suchten zwei Generäle meinen Vater auf und teilten ihm mit, dass ausreichend Beweismaterial für seine Beteiligung an der Verschwörung vorläge, dass Hitler ihm aufgrund seiner Verdienste im Krieg die Wahl des Gifttodes ließe. In diesem Fall würden die üblichen Maßnahmen gegen seine Familie und weitere Ermittlungen in seinem Stab unterbleiben. Mein Vater entschied sich für den Tod durch Gift und war eine halbe Stunde später tot.

Wie zu ersehen ist, lehrt die deutsche Geschichte vieles. Lehren, auf die allerdings „gewusst, wie nicht“ eher zutrifft als „gewusst, wie“. Aber, wie der berühmte britische Philosoph Karl Popper schrieb, ist es schwierig, herauszufinden, was völlig richtig ist, und einfach, was völlig falsch ist. In keiner anderen Zeit in der Geschichte der Menschheit geschah mehr Falsches und wurde Falscheres gesagt als während der Hitler-Diktatur im Dritten Reich. Das Reich stieg ganz nach oben und fiel tief und riss Millionen Menschen mit sich in die dunklen Abgründe, weil hier die Unterdrückung von Kritik fast bis zur Vollkommenheit gelang. Eine falsche und unkritische Treue wurde propagiert, und jeder, der diese Treue nicht empfand, galt als Krimineller, eine Gefahr für die Gesellschaft und als jemand, der ausgemerzt werden musste. In den Jahren 1943/1944 hätten ein paar Monate Meinungsfreiheit, insbesondere der Medien, ausgereicht, und Hitlers finstere Herrschaft wäre zusammengebrochen. Carl Goerdeler hatte Recht, als er in einem Briefentwurf an Feldmarschall von Kluge im Juli 1943 schrieb: „Wenn die Wahrheit gesagt werden könnte, wäre der ganze Spuk vorüber.“ Aber die deutsche Widerstandsbewegung war nicht erfolgreich. Was bleibt, ist die Tragik. Was bleiben sollte: So unbequem Demokratie auch sein mag, besonders für die Regierenden, sie sollte nicht korrumpiert und niemals aufgegeben werden. Kritik, die in der Demokratie ständig organisiert wird, sollte jedoch nicht ihre eigenen geistigen und emotionalen Grundlagen aushöhlen. Moderne Technologie, Management, Organisation und moderne Medien verleihen in der heutigen Zeit Diktatoren, wenn sie einmal an der Macht sind, eine solche Machtfülle, dass die Selbstbefreiung durch das Volk kaum mehr möglich ist, jedenfalls nicht kurzfristig und nur dann, wenn die Diktatur sich selbst in Frage stellt. Die einfache Lehre aus der Geschichte lautet: Wer Diktatoren verabscheut, sollte die bestehende Demokratie festigen und nicht vor der Realität in Luftschlössern Zuflucht suchen, welche, wie hervorragend diese auch immer erdacht sein mögen, dennoch Narrenschlösser sind.

Nach dem 2. Weltkrieg gaben uns die Siegermächte Amerika, Großbritannien und Frankreich Frieden und Demokratie zurück, die wir 1933 verloren hatten. Ich werde das nie vergessen.