Mein Jahr 1944/45

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Marianne Meyer-Krahmer

Mein Jahr 1944/45

Festvortrag von Dr. Marianne Meyer-Krahmer am 19. Juli 2005 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Meine lieben Anwesenden,

Wir sind in diesen Tagen zusammengekommen, um an die Menschen zu denken, die die Kraft hatten, gegen alles Eigeninteresse ihr Gewissen sprechen zu lassen. “Das Gewissen entscheidet - das Gewissen steht auf”, so heißt es bei Annedore Leber, der Witwe Julius Lebers, die schon sehr früh das Bild und den Lebenslauf dieser Männer in unseren Blick rückte. Die Männer des Widerstandes verweigerten sich Hitler, weil sie den Krieg mit den vielen Verbrechen am eigenen Volk und an den vielen anderen besetzten Völkern nicht mehr ertragen konnten und ihn um jeden Preis beenden wollten.

Hier in Berlin an die Ereignisse des Jahres 1944 zu denken, heißt auch der furchtbaren Rache, die Hitler an diesen Männern nahm, ins Auge zu sehen. Das Entsetzen über die grausamen Hinrichtungen wird uns niemals verlassen; auch nach 61 Jahren nicht, in denen sich vielleicht mancher Kummer und manche Ängste abgeschwächt haben mögen. Aber die langen Schatten der Erinnerung werden uns immer wieder erreichen. Und ich denke, sie sollten auch ihren Platz in unserem Leben behalten und uns gemahnen, unserer eigenen Verantwortung bewusst zu sein. Auch heute gilt es ja, sich gegen vielfältiges Unrecht zu stellen und immer wieder für eine menschliche Zukunft einzutreten.

Auch wenn es also ein Thema ist, das seine Gültigkeit behält und uns alle angeht, habe ich es bewusst persönlich formuliert und möchte über “Mein Jahr 1944/45” sprechen. Zwar war mein Leben nicht irgendwie herausragend oder gar öffentlich wichtig. Nur gehöre ich noch einer Generation an, die Verführung und Gewalt des NS-Systems aus eigener Anschauung kennt und doch auch gleichzeitig das Geschenk eines Elternhauses hatte, das mir die Kraft gab, mich nicht vereinnahmen zu lassen. Zudem war ich - 1919 als eines der fünf Kinder von Carl und Anneliese Goerdeler geboren - damals schon erwachsen genug, um den Widerstand meines Vaters zu begreifen und seinen Kampf gegen Hitler mitzuerleben. Immer war ja in meiner Jugendzeit über Politik gesprochen worden, ob es um Versailles und seine Auswirkungen auf die Weimarer Republik ging, oder später um die Möglichkeit, das NS-Regime noch irgendwie beeinflussen zu können Meine Eltern hatten einen sehr innigen Kontakt; meine Mutter war ihrem Mann ein unentbehrlicher Gesprächspartner, und wir Kinder lernten durch ihre Gespräche, dass Hitler systematisch den Rechtsstaat zerstörte und zudem, wie zielstrebig er auf einen Krieg zusteuerte. Einsicht in Hitlers aggressive Pläne erhielt mein Vater durch sein Preiskommissariat nur allzu deutlich, wie auch die neu edierten Dokumente und die jüngste Forschung belegen. Als mein Vater nach seinem Rücktritt vom Amt des Oberbürgermeisters im Ausland Bündnispartner gegen Hitler zu gewinnen suchte, durfte ich die Eltern nach London begleiten und mit einem Spaziergang durch den Park Lord Vansittarts die Geheimgespräche meines Vaters als Familienausflug tarnen. Als unschuldige Opfer der Nazis haben wir uns also niemals gefühlt, weil wir das Tun unseres Vaters bejahten.

Innerlich zwar mit der Arbeit unseres Vaters sehr verbunden, unterschied sich unser Schicksal in den ersten Kriegsjahren doch kaum von dem Leben anderer Familien. Wir setzten unsere Ausbildung fort, ich studierte Geschichte und machte 1944 mein Staatsexamen; die Brüder standen im Feld, und unser geliebter Bruder Christian verlor an der Ostfront sein Leben. Im weiteren Verlauf des Krieges spitzte sich die Lage für alle noch entscheidend zu. Mehr und mehr deutsche Städte wurden durch Luftangriffe zerstört und die Menschen verloren ihr Zuhause. Nach dem Scheitern des Attentats setzte sich das massenhafte Sterben erst recht fort: an den Fronten, bei den Bombenangriffen und in den KZs. Fast jede Familie trauerte um einen gefallenen Mann oder Sohn. Mütter mussten kurz vor Kriegsende mit ansehen, wie ihre Kinder mit 16 Jahren in den Volkssturm gezogen wurden. Dazu kamen Flucht und Vertreibung, als die Front im Osten zusammenbrach. Ich selbst wurde Zeuge des Flüchtlingselends, als ich im Juli 1944 meine jüngeren Geschwister aus Ostpreußen zurückholte und auf dem Königsberger Bahnhof die vielen verängstigten Menschen sah, mit nichts als großen Leinenbeuteln auf dem Rücken, in denen all ihr Hab und Gut steckte.

Millionen haben also vor dem Chaos gestanden, für alle war es eine schwere Zeit. Für uns aber wurde das Jahr 1944 zu einem alles entscheidenden Schicksalsjahr: Unser Vater wurde nach dem 20. Juli verhaftet und zum Tode verurteilt, wir anderen aber in Sippenhaft genommen. Hitler scheute sich nicht, an den Angehörigen der Widerstandskämpfe grausame Rache zu nehmen und sie ins Gefängnis, später ins KZ zu verbringen. Alle wurden wir verhaftet: meine Mutter, meine erst 14-jährige Schwester, meine Schwägerin, die brutal von ihrem Dreijährigen und ihrem erst 9 Monate alten Baby getrennt wurde, ebenso wie unsere Cousinen, die Töchter von Fritz Goerdeler, dem Bruder und Vertrauten unseres Vaters, und später auch meine Brüder, die von ihren Einsatzorten an der Front abgezogen wurden. Auch wenn wir uns nicht als unschuldige Opfer fühlten - hart war die Inhaftierung doch. Immerhin wurde uns neun Monate lang die Freiheit entzogen. Die Stationen der Erniedrigung, die ein Mensch dabei durchlaufen muss, aber auch die tröstenden Momente, die helfen, sich zu bewahren, sollen im Mittelpunkt meines Vortrags stehen. Ich denke, ich kann gerade bei dieser subjektiven Schilderung auch etwas Allgemeines aufscheinen lassen, die Ambivalenz unseres Lebens, denn auch in der Zeit größter Bedrängnis gab es Lichtblicke; und umgekehrt waren Befreiung und Neuanfang nicht frei von Schatten.

Wie gefährdet das Leben unseres Vaters war, wurde uns 1944 schon vor dem Attentat klar. Der Stadtkommandant von Berlin hatte ihm signalisiert, dass bereits ein Haftbefehl gegen ihn vorläge, weil in mehreren politischen Prozessen wiederholt sein Name genannt worden war. Am 17. Juli kam mein Vater ungewohnt heimlich, durch den Hintereingang in unser Haus, eilte in sein Arbeitszimmer und entnahm seinem Schreibtisch wichtige Papiere. Am nächsten Morgen kam er zu uns beiden Töchtern ins Schlafzimmer, nahm uns sehr innig in den Arm und ging sehr ernst davon. Es sollte unser letzter Abschied sein. Wenige Tage später - am 21. Juli - bin ich in Leipzig in der Stadt, um etwas zu erledigen. Da wird mir eine Zeitung in die Hand gedrückt. Der Text:

“Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich, den Führer, zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. Die Bombe, die von dem Oberst Graf von Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe mir treuer Mitarbeiter schwer verletzt. Ich bin unverletzt geblieben.”

Sie werden eine solche Situation kennen: auf einmal sinkt die Seele ins Bodenlose. Als ich den Namen Stauffenberg las, wusste ich, dass ich meinen Vater nie wieder sehen würde. Ich hatte diesen Namen in Gesprächen meiner Eltern häufig gehört, und wer die Aktenlage kennt, weiß, dass sich die beiden im Vorzimmer von Fromm unter der Obhut von Kaiser oft getroffen hatten. Also konnte ich mir vorstellen, dass man jetzt auch nach unserem Vater fahnden würde. Und tatsächlich, bereits am Nachmittag dieses Tages kamen Gestapoleute in unser Haus, wahrscheinlich, um ihm aufzulauern und uns zu beobachten. Mir wurde die Situation immer unheimlicher. Ich betrachtete meine Mutter als hochgefährdet und überlegte, wie ich sie am besten vor einem möglichen Verhör bewahren könnte. Ich brachte sie dazu, einen ganz starken Kaffee zu trinken und einen Herzanfall vorzutäuschen. Dann erklärte ich den Gestapobeamten, meine Mutter müsse unbedingt ins Krankenhaus, sie habe eine schwere Herzattacke. Ich hoffte darauf, dass sie zur Behandlung in eine bestimmte Klinik käme, an der ein befreundeter Arzt tätig war. Nun geschah etwas, was in diese doch so dunkle Zeit ein Licht brachte: es kam ein Polizeiarzt, und als die Gestapoleute erklärten, ihm folgen zu wollen, wies er sie ganz souverän zurück und erklärte : “Nein, Frau Goerdeler untersuche ich alleine; ich lasse aber die Tür offen, so dass Sie jedes Wort hören können.” So geschah es; als er und ich im Schlafzimmer einander gegenüber standen, habe ich ihn wohl nur flehentlich angeguckt, er wurde der rettende Engel. Er drehte sich ganz sicher zu den Gestapoleuten um und sagte: ”Frau Goerdeler muss sofort ins Krankenhaus.” Eine Stunde später war meine Mutter in der Obhut eines Arztes, der sie einfach unter Morphinate setzte. Damit war sie zunächst aus der Gefahrenzone.

Am nächsten Tag wurde ich selbst verhaftet. Darauf war ich im Grunde überhaupt nicht gefasst. Ich hatte höchstens mit einem Verhör gerechnet. Es war aber mehr, eine richtige Inhaftierung - ohne Haftbefehl natürlich! Ich wurde aufgefordert, ins Auto zu steigen und konnte gerade noch mein Nachtzeug einpacken. Dann kam also die behütete Bürgerstochter in ein Strafgefängnis. Die soziale Stellung war übrigens, wie ich später merkte, ein gewisser Vorzug; die Wachmannschaften waren fassungslos, wer da eingeliefert wurde, und waren im Umgang etwas höflicher, zumindest vorsichtiger als bei “normalen” Gefängnisinsassen. Bei meiner Einlieferung habe ich aber darauf wenig geachtet; ich habe nur die Zelle wahrgenommen, in die ich gesperrt wurde. Ein kleiner Raum, rundherum nur kahle Wände, keine Fenster. Das Licht kam von der Decke. Also gab es auch keinen Blick nach draußen. Das Mobiliar: ein Hocker und ein Bett, das am Tage an die Wand angeschlossen wurde. Man konnte also zwölf Stunden lang nichts anderes tun, als auf dem Hocker zu sitzen und die Gedanken kreisen zu lassen. In der Ecke war die Toilette, wenn man es eine Toilette nennen will. Nachts war die Situation noch schlimmer. Etwa um 8.00 Uhr abends erschien eine Wärterin und fesselte meine Hände aneinander: “Damit Sie keinen Selbstmord begehen.“ Mir blieb völlig unklar, ob ich damit nur ein bisschen weich geklopft werden sollte. Sehr quälend war auch, dass ich in eine schirmlose Glühbirne gucken musste, die mir die ganze Nacht hindurch ins Gesicht schien. Ausweichen konnte man kaum, weil man sich mit gefesselten Händen nur ganz schwer drehen konnte. Übrigens scheinen sich die Menschen ganz international darauf zu verstehen, andere so zu quälen. In der “Schönen Frau Seidenmann” des polnischen Autors Szczypiorski ist genau dieselbe belastende Szene beschrieben.

Zur physischen Qual trat das beängstigende Gefühl der Ungewissheit über unser weiteres Schicksal. Während der ganzen Haftzeit sollten uns diese Gefühle begleiten. “Was haben sie mit uns vor?“ - auf diese bange Frage gab es nie eine Antwort.

Die völlige Isolierung in der Einzelhaft ertrug ich nur sehr schwer. Zum Glück gab es im Gefängnis auch älteres Wachpersonal, sozusagen saubere Beamte, die Verständnis für meine Ängste hatten, auch wohl ein wenig Mitleid. Wenn eine dieser Wärterinnen Dienst hatte, erschien sie mir wie ein Engel. Denn sie schaute sich um und suchte, bis sie jemanden fand, den sie zu mir in die Zelle legen konnte. Das milderte die Qual der Isolation. So hatte ich einmal eine freundliche Belgierin als Zellengenossin, eine junge 18-jährige Frau. Sie war in ihrem Heimatland zur Kirche gegangen und auf dem Heimweg einfach aufgelesen, in einen Lastwagen gesperrt und nach Leipzig transportiert worden, um dort in der Rüstungsproduktion eingesetzt zu werden. Von Heimweh erfüllt, hatte sie versucht zu fliehen, wurde aber gefasst und sofort ins Gefängnis eingeliefert - zu mir in die Zelle, in die dadurch ein wenig von der übrigen Welt hineinschwappte.

Abgeschnitten ist man in der Gefängniszeit auch von der Natur, nicht nur in den fensterlosen Zellen, sondern auch beim so genannten “Umgang”. Denn auch der Gefängnishof, in dem man einmal am Tag herumgehen darf, ist von vier hohen Mauern umgeben. Nichts als Stein also, höchstens mal oben ein Stück Himmel. Rosa Luxemburg hat Ähnliches erlebt und beschreibt in ihren Briefen rührend, wie sie einmal einen Löwenzahn aus einer Spalte wachsen sieht. Mir ist heute klar, warum ich so viel Wert darauf lege, von meinem Zimmer aus die Bäume zu sehen. Wenn man neun Monate lang keinen Baum, keine Blüte, keinen Strauch sieht, ist einfach etwas von der Welt weg.

Um so wichtiger sind die wenigen Menschen, mit denen man während der Haft überhaupt Kontakt hat. Nach unserer aller Erfahrung - wir haben uns nach dem Krieg ausgetauscht - können auch Wärter helfen, die schwere Zeit zu überstehen, so wie etwa der Polizeiarzt oder die ältere Bewacherin, die meine Not gespürt und darauf reagiert haben. Tröstend war auch das Gefängnisehepaar in Heilbronn, das zu weinen begann, als meine Schwester, meine Schwägerin und meine Cousine von dort ins KZ abgeholt wurden. Weinen heißt dann: ein bisschen Wärme zeigen in dieser kalten Welt. Und eine große Erleichterung ist, wenn man zu bestimmten Arbeiten eingeteilt wird. Kartoffelschälen war begehrt, da kam man mal raus. Das genossen Schwester und Cousine, während mein Bruder Reinhard Kalfaktor war.

Nach vier Wochen ergab sich auch für mich wieder ein Licht: Die Tür öffnet sich, und meine Mutter wurde sozusagen zu mir hinein geschoben. Nun war die schlimme Zeit der Einzelhaft für mich vorbei. Meine Mutter übrigens, noch schwer unter Morphinaten stehend, hörte das, an das ich schon gewöhnt war, nämlich die Stimmen im Lauttrichter unseres Gefängnisses. In den alten Gefängnissen waren die Zellen um einen Innenbereich herum angelegt, so dass man sehr häufig alles an Geräuschen hörte, was sich in diesem Trakt abspielte.

Aber es gab auch das Gegenteil: den Einbruch eines fürchterlichen Dunkels. Es muss Ende September gewesen sein, als sich wiederum zu ungewohnter Stunde die Zellentür öffnet. Hineingeworfen wird eine Zeitung mit dem Befehl: “Das müssen Sie lesen!” Ich nehme die Zeitung - meine Mutter ist hinter mir, darf auf dem Bett liegen; ich sehe nur die Schlagzeile: “Goerdeler zum Tod durch den Strang verurteilt”, rot unterstrichen. Die Zeitung war wie Feuer in meiner Hand, wie eine Wilde habe ich an die Zellentür geschlagen, um das Blatt wieder los zu werden. Hinter der Tür ein Wispern, dann wurde die Zeitung erneut hineingeworfen. “Sie haben sie zu lesen!” Die ältere Bewacherin hat sich am nächsten Tag entschuldigt und erklärt, warum sie nicht anders handeln konnte. Die Gestapo stand hinter ihr und wollte uns durch den Spion beobachten, um von unserer Reaktion lachend am Mittagstisch zu erzählen.

Als meine Mutter 1942 die Nachricht vom Tode meines Bruders Christian erhielt, stieß sie einen entsetzten Schrei aus und brach dann in Tränen aus, aber unser wunderschöner Riesenschnauzer kam herbeigeeilt und leckte ihre Tränen ab. Das war das Tier, das fühlte ihren Schmerz - die Gestapo amüsierte sich.

Dennoch gab es auch für uns doch wieder ein Licht. Eines Tages bekam ich, zusammen mit einem Brotpaket, einen kleinen Zettel in der Handschrift meines Verlobten. Er schrieb uns, dass er jetzt in Leipzig sei und uns helfen könne. Er war in der Normandie verwundet worden, sollte nach Paris in ein Lazarett eingeliefert werden und hatte sich seinem Kommandanten offenbart. Er müsse zur Behandlung nach Leipzig, damit er sich um die Familie seiner Braut kümmern könne, von der er gar keine Nachricht habe. Auch dieser Kommandant - obwohl gar kein Anti-Nazi - gehörte zu den Menschen, die Verständnis und Mitgefühl für den Schmerz anderer haben. So machte er die Verlegung nach Leipzig möglich; für uns war das natürlich wunderbar und auch sehr hilfreich. Denn wenn eine Familie im ganzen verhaftet ist, wer ist dann da, um ihnen mal etwas zu essen zu bringen oder auch nur wärmere Kleidung !

Wir hatten damit gerechnet, dass wir nach dem Todesurteil wohl entlassen würden. Das war aber nicht der Fall. Es vergingen einige Wochen der Ungewissheit. Dann hieß es: “Sie werden abtransportiert!” Das Wort “Abtransport” bestimmte von nun an unsere Haftzeit. Meine Mutter und ich wurden nächtlich von zwei Gestapoleuten zu Fuß zum Bahnhof gebracht, ständig beobachtet, so dass wir keine Chance hatten, jemand mitzuteilen, wo wir steckten. Nach einem merkwürdigen Zwischenstopp im Riesengebirge wurden wir schließlich in das KZ Stutthof eingeliefert. Die Situation von uns Sippenhäftlingen - das möchte ich gleich betonen - war allerdings viel günstiger als etwa die von Juden oder politischen Gefangenen. Wir waren in einer Sonderbaracke untergebracht, wir mussten keine Schwerstarbeit leisten und wir haben nicht wirklich Hunger gelitten. Wir hatten jetzt auch die Freude, alle Familienmitglieder, die bisher an verschiedenen Orten inhaftiert gewesen waren, die Schwester, die Cousine und die Schwägerin; später in Buchenwald stießen noch die Brüder dazu. Dennoch wog diese vorher so ersehnte Nähe die Ungewissheit und Angst vor unserem weiteren Schicksal nicht völlig auf. In unserer Sonderbaracke waren insgesamt etwa 35 Häftlinge untergebracht, neben unserer Familie z.B. Mika von Stauffenberg, Frau von Hofacker, dazu einige ihrer Kinder. Und alle hatten wir das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Ich erinnere mich noch an die Ankunft in Stutthof: der Bus passierte das erste Tor, und es schloss sich, dann fuhren wir durch das nächste Tor, und wiederum schloss es sich hinter uns. Wir hatten das Gefühl, im innersten Kreis zu sitzen. Das war sicher gar nicht der Fall, aber das Gefühl war eben stärker. Umgeben war unsere Baracke noch einmal von Zäunen aus Holz oder Metall, und alle hatten oben eine “Krönung“, nach innen geneigt und sichtbar durch Porzellanmanschetten mit Strom geladen. Unwillkürlich drängte sich immer wieder der Gedanke auf: “Werden sie uns jetzt, da sie uns alle so gut beieinander haben, etwas antun ?” Ich erinnere mich noch, wie eines Abends meine 14-jährige Schwester Nina fragte: “Meinst Du, dass sie uns morgen umbringen?” Die Wachmannschaften mit ihren Gewehren auf den quadratischen Türmen verstärkten immer wieder das Gefühl totaler Ausgeliefertheit.

Anders als im Gefängnis fehlte uns im KZ jegliche Teilnahme an unseren Ängsten und Nöten. Was einem hier begegnete, war der blanke, kalte Zynismus, der immer wieder tief kränkte und verunsicherte. Ich höre noch, wie meine verzweifelte Schwägerin die Wachmannschaften nach dem Schicksal ihrer kleinen Kinder fragte. “Wo sind sie denn? Leben sie überhaupt noch?” Als Antwort nur ein zynisches Achselzucken. Bald gab sie es auf, diese Fragen noch zu stellen, so verletzend war die Reaktion.

Einmal allerdings - laut war bereits die angreifende russische Armee zu hören - hatten wir ein merkwürdig anderes Erlebnis - und schon damals begegneten wir ihm mit Misstrauen. Als meine Mutter nach einer sehr schweren Typhuserkrankung aus dem Revier entlassen wurde, hatte sie - sage und schreibe - ein blühendes Alpenveilchen im Arm ! Was war vorausgegangen? Eines Tages hatte sie im Flur des Reviers zackige Schritte gehört, Hackenknallen, Meldung: “Der Kommandant!” Er kam tatsächlich mit der blühenden Pflanze und guten Genesungswünschen!!! Unser Misstrauen war berechtigt gewesen, das bestätigte sich nach dem Krieg: Eines Tages erreichte meine Mutter die Anfrage eines Gerichtes, in der sie um eine Bestätigung ersucht wurde. Der Kommandant hatte behauptet, er habe seine Häftlinge immer gut behandelt und sich dabei auch auf seine Haltung gegenüber Frau Goerdeler bezogen. Es war ihm also schon sehr früh um einen “Persilschein” gegangen.

Das nahende Kriegsende sollte sich in Stutthof immer deutlicher ankündigen. Auch wenn wir selbst ja von allen Nachrichten abgeschnitten waren, wir merkten es daran, dass die weiter östlich gelegenen Lager ins Reichsgebiet verlegt wurden. Das Wort “Abtransport” bekamen wir jetzt immer häufiger zu hören. Also wurden wir von Stutthof zunächst nach Buchenwald, später von dort nach Dachau transportiert, wo wir bereits die amerikanische Artillerie hören konnten.

In Buchenwald endlich gab es einen wirklichen Lichtblick für uns. Alex Stauffenberg, ein Mitglied unserer Haftgruppe, erhielt Besuch von seiner Frau - eine Sondergenehmigung, extra erwirkt von Göring, weil sie eine berühmte Stuka-Fliegerin war. Sie kannte den Aufenthaltsort der Kinder und konnte ihm zuflüstern, dass sie in einem Kinderheim in Bad Sachsa/Harz seien. Das war für uns der erste Hoffnungsstrahl in eine Zukunft: von nun an wussten meine Geschwister, wo sie ihre Jungen in dem zusammenbrechenden Deutschland einmal suchen könnten.

Beinahe hätten wir in diesen Tagen auch Näheres über unseren Vater gehört. Auf dem Transport traf ich zufällig mit einem Mann in Zivilkleidung zusammen; wir flüsterten uns unsere Namen zu - es war so schön, wieder einen Namen zu haben, nachdem man monatelang nur als Nummer geführt worden war. Der zunächst Unbekannte war Dietrich Bonhoeffer, und als er meinen Namen hörte, strahlte er. Er strahlte so, dass mir das Herz warm wurde, er erzählte mir, dass er zusammen mit meinen Vater in der Albrechtstraße inhaftiert war und ihm im Waschraum immer ein bisschen Essen hatte zustecken können. Schon das war tröstend, denn mein Vater hatte schrecklich hungern müssen, es gab ja auch niemanden, der ihn besuchen konnte oder durfte; selbst das Gespräch mit einem Pfarrer war ihm verwehrt worden. Bonhoeffer aber hatte von Zeit zu Zeit mit ihm sprechen können und versprach uns, alles sofort aufzuschreiben. Er wäre der einzige Mensch gewesen, der mit einem ganz warmen Herzen uns von unserem Vater hätte erzählen können. Aber - Sie hören schon den Konjunktiv - am nächsten Morgen um 5 Uhr war wieder dieser unheilvolle Ruf: “Aufstehen, Abtransport” zu hören; eine schreckliche Drohung, die wir bereits aus Stutthof und Buchenwald kannten. Diesmal galt sie Bonhoeffer und seinen Begleitern, die, wie wir heute wissen, nach Flossenburg transportiert und dort, sozusagen in letzter Stunde, nämlich am 4.April 1945, noch umgebracht wurden. Für uns gab es nun keine Möglichkeit mehr, noch etwas, das uns persönlich gegolten hätte, von unserem Vater zu hören. Nichts gibt es als ein großes Schweigen.

Das Schicksal Bonhoeffers verdeutlicht, warum wir in diesen Tagen niemals wirklich gehofft haben, befreit zu werden. Zu groß war die Angst, dass uns die Gestapo noch etwas antun würde. “Wo wollen sie jetzt wieder mit uns hin?”, das war der beherrschende Gedanke, wenn wir wieder weitertransportiert wurden. Gewiss, auch wir bemerkten, dass die Lage immer chaotischer wurde, aber auch ein Chaos ist ambivalent: es kann die Rettung bringen, aber auch das Schlimmste. Als z.B. bei der Weiterfahrt von Dachau aus uns nur ein zu kleiner Bus zur Verfügung stand, mussten vier junge Leute - darunter mein Bruder und Franz von Hammerstein zu Fuß weitermarschieren, und unser einziger Gedanke war: “hoffentlich haben sie sie nicht abgesondert, um sie umzubringen!” Sich auf den Tag der Befreiung zu freuen, war einfach nicht möglich, zu unheimlich war die Situation.

Dazu trug auch bei, dass sich die Befehlsstrukturen der SS nur langsam lockerten. Man wusste nie genau, wie weit man wagen konnte, sich über die alten Ver- und Gebote hinwegzusetzen, und ging lieber kein Risiko ein. Unvergessen der Anblick einer Häftlingskolonne, als wir Dachau verließen. Diesmal waren die Fenster unseres Busses nicht verhängt, und wir sahen diese abgemagerten Elendsgestalten, zu Nummern entwürdigt mit ihren kahl geschorenen Köpfen und in der grau gestreiften Häftlingskleidung. Bis in den Bus hinein hörten wir den Tritt ihrer Holzschuhe, halb schlurfend, sich dahinschleppend. Sie wirkten so verlassen, gleichzeitig war es absurd, sie in diesem Chaos in geordneten Reihen zu sehen, aber sie marschierten sozusagen unbeirrt weiter.

Auch wir wurden nur langsam, schrittweise mutiger und wagten, uns auf unsere eigenen Kräfte zu besinnen. Eine große Ermunterung bedeutete für uns die erste Begegnung mit jungen deutschen Soldaten, die uns nur als Menschen wahrnahmen und uns zuriefen: “Wo wollt Ihr denn hin?” Wir hatten, von Dachau kommend, den Brenner überquert und wurden ins österreichische Pustertal gebracht. Die Soldaten waren auf dem Rückmarsch von der italienischen Front und konnten sich gar nicht vorstellen, was Frauen und Kinder drüben zu suchen hätten. Als sie die uniformierten Gestapoleute sahen, verstummten sie ganz schnell. Aber wir waren - allein schon durch die fröhlichen jungen Stimmen - so ermutigt, dass wir begannen, auch für uns wieder eine Hoffnung zu sehen. Als nach einer langen Nachtfahrt der Bus einmal stoppte, scheuten wir uns nicht mehr, auch unsere Bedürfnisse zu äußern.

“Wir möchten einmal raus”, forderten wir, und nachdem wir uns zunächst jeder ein privates Eckchen gesucht hatten, waren besonders die Jüngeren unter uns nicht mehr bereit, wieder in den Bus einzusteigen. Die Wachmannschaft war ziemlich hilflos; es waren nicht mehr die altgedienten SS-Leute, sondern unerfahrene volksdeutsche Soldaten, die im Grunde nicht wussten, was sie mit uns machen sollten.

Wir forderten zunächst etwas zu essen, und als jemand entdeckte, dass der SS-Führungswagen fehlte, erklärten wir trotzig, dass wir uns nunmehr selbst etwas besorgen würden, wenn die Wachmannschaft dazu nicht mehr in der Lage sei.

Im Rückblick kann man es eine Etappe auf dem Weg zur Freiheit nennen, dass sich jetzt spontan ein kleiner Trupp von Häftlingen zusammenfand und in die nächste Ortschaft aufbrach - ein Weg aus eigener Initiative und mit eigenem Ziel, und diesmal erhob kein Wachmann sein Gewehr. Die Strecke war übrigens nicht lang, ca. ein Kilometer. Und plötzlich stehen wir vor einem Ortsschild: Niederdorf! Das war ein großes Gefühl. Jetzt waren wir nicht mehr - wie in den letzten Monaten - im Irgendwo; jetzt kannten wir den Ort, an dem wir uns befanden. Nach all den Ungewissheiten der Haftzeit ein erstes Zeichen selbst erfahrener Außenwelt.

Als wir den Ort erreicht hatten, stießen wir in einer Gastwirtschaft auf unsere Bewacher, die offenbar den Kontakt zu Berlin verloren hatten und beratschlagten, wie es weiter gehen sollte. Sie versuchten zunächst, ihre alte Stellung zu behaupten, ließen die Busse nachkommen und wollten uns in einem öffentlichen Gebäude unterbringen.

Aber wir, jetzt schon geübt darin, Anordnungen zu ignorieren, verließen unser Quartier über die Hintertür und klingelten bei irgendwelchen Leuten im Dorf, die auch bereit waren, uns aufzunehmen. So nah dem Kriegsende, wollten sie sich nicht mehr auf die Seite der SS stellen. Auf unerklärliche Weise waren am nächsten Morgen auch die SS-Bewacher verschwunden. Trotzdem war die Situation Anfang Mai natürlich noch völlig unklar. Einfach zu fliehen, das hätten wir doch nicht gewagt, aus Furcht, von irgendjemand geschnappt zu werden. Auch war der Krieg ja noch nicht beendet und das Dorf weitgehend in der Hand von Partisanen. Oberst Bonin, der zusammen mit zahlreichen prominenten Häftlingen in einem zweiten Treck aus Dachau eintraf, bewirkte daher, dass wir zunächst unter die Obhut deutscher Soldaten gestellt wurden.

Als sie einige Tage später kapitulieren mussten - jetzt auch sie wehrlos um ihre in der Mitte aufgeschichteten Gewehre -, übernahmen die Amerikaner das Kommando und nun waren wir endlich wirklich frei - oder besser gesagt, unter neuer Aufsicht.

Befreit wurden wir durch freundlichste Menschen. Die amerikanischen Soldaten waren so liebenswert zu uns und so hilfsbereit, dass allmählich das Eis, das unser Herz umgeben hatte, schmolz. Dennoch fiel ein kleiner Schatten auf das neue Leben. Sie müssen denken, dass uns jetzt große Sorgen um unsere Angehörigen, von denen wir so weit entfernt waren, erfüllten. Was war im Chaos des zusammenbrechenden Landes aus den kleinen Kindern geworden, wie war es der 80-jährigen Großmutter und den beiden nicht-inhaftierten Töchtern von Onkel Fritz ergangen? Es drängte uns, nach Hause zu kommen. Stattdessen aber ging es noch weiter südwärts: die Amerikaner brachten uns nach Capri - angeblich, weil sie Einzelheiten über die Haft erfahren und die prominenten Häftlinge befragen wollten. Dieser Aufenthalt brachte keine Urlaubsfreude mit sich. Natürlich war die Landschaft wunderschön, die dunklen Konturen der Bergketten, der metallene Glanz des Meeres. Aber wir konnten dies alles nicht genießen, zu sehr lasteten die Sorgen auf uns. Und nach schweren Erlebnissen kann man ungebrochene Schönheit auch fast als kränkend empfinden. Zudem gab es manchen Missklang in unserer letztlich erzwungenen Schicksalsgemeinschaft zwischen denen, die bald glücklich zu ihrer Familie zurückkehren würden und den Witwen, für die die Welt leer geworden war. Wir haben daher aufgeatmet, als wir nach fast drei Wochen nach Deutschland zurückgebracht wurden.

Dass der Sieg der Alliierten auch bei anderen nicht automatisch mit Freiheit gleichgesetzt werden konnte, erfuhr ich bei einem Zwischenstopp in Paris. Ich stand am Ende eines Hotelganges und schaute sinnend hinaus auf einen Platz. Ein britischer Offizier trat neben mich, und ich konnte an seinen Abzeichen erkennen, dass er zur polnischen Division der Armee gehört haben musste. Spontan beglückwünschte ich ihn: ”Nun ist auch Ihr Land frei!” Nie werde ich seinen traurigen Blick vergessen. ”Sie irren sich, Madame,” kam es zurück, “jetzt herrschen bei uns die Bolschewiken!”

Die nächste Frage, die uns belastete, war unser Zielort. Als die Amerikaner wissen wollten, wohin wir von Frankfurt aus gebracht werden wollten, wurde uns schmerzlich bewusst, dass wir keine Heimat mehr hatten. Ostpreußen, mit dem wir alles Glück unserer Kinderzeit verbanden, war für immer verloren. Leipzig war merkwürdig beziehungslos für uns geworden: das Haus war jetzt von anderen Mietern bewohnt, und unsere Möbel waren an einen Auktionator abtransportiert. Immerhin, wir hatten 15 schöne Jahre dort verbracht, mein Bruder und ich hatten dort studiert, also entschieden wir uns für Leipzig.

Die Amerikaner aber informierten uns, dass die Stadt sehr bald zur sowjetischen Besatzungszone geschlagen würde. Noch einmal unter einem Zwangssystem zu leben, das kam für uns nicht in Frage. Nur unsere Mutter würde zunächst in Leipzig nach dem Rechten sehen und sich um die Großmutter kümmern, wir drei Mädchen hingegen kamen auf einen kleinen Hof in Baden-Württemberg.

Für diesen Zufluchtsort in einem schwäbischen Dorf hatte noch mein Vater gesorgt. Ihm war klar, dass der Krieg katastrophal enden würde, und ihm war auch klar, wie gefährdet seine eigene Situation war. Daher hatte er mit Hilfe des alten Robert Bosch einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb erworben, damit wir im Notfall ein Dach über dem Kopf hätten und uns unsere Nahrung selbst erarbeiten könnten. Dieser Hof wurde jetzt zu einem Stück Rettung für uns - und gleichzeitig zu einem äußerst belasteten Neuanfang. Als das Verwalterehepaar uns sah, glaubten, sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie waren doch selbst Zeuge gewesen, wie meine Schwester und Schwägerin verhaftet wurden und hatten mit ihrer Rückkehr nie gerechnet - und jetzt standen sie leibhaftig wieder vor ihnen! Ihre anfängliche Fassungslosigkeit und Unsicherheit wich bald einer ausgesprochenen Feindseligkeit, und wir hatten noch Glück, überhaupt ins Haus eingelassen zu werden.

Auch im Dorf waren wir nicht sehr willkommen. Vielen galten wir als Kinder eines Landesverräters. Auf den Kopf meines Vaters war ja eine Prämie von einer Million ausgesetzt worden, und unser Name war durch alle Zeitungen gegangen. “Mitten im Krieg leistet man doch keinen Widerstand gegen die Führung seines Landes”, das wurde oft hinter unserem Rücken getuschelt. Das NS-Regime hatte hier noch viele Anhänger; selbst später wählte man zu 20% rechts.

Erschwerend kam hinzu, dass wir ja alle keine Landwirte waren. Angepackt haben wir, aber die Arbeit war sehr hart, und besonders kräftig waren wir nach der langen Haftzeit auch nicht. Also sanken wir abends nach einem 15/16stündigen Arbeitstag todmüde ins Bett. Dabei sehnten wir uns so sehr nach Besinnung und Stille; wir wollten wieder zu uns kommen. Ja, wir wollten trauern dürfen.

Aber auch in dieser Zeit gab es einen Lichtblick: uns erreichte ein Brief meines Verlobten! Er war gesund und kündigte an, dass er wahrscheinlich bald aus der britischen Gefangenschaft entlassen würde. Ein weiteres Tor zur Zukunft öffnete sich, als mir nach einem Besuch Theodor Bäuerles angekündigt wurde, ich könne im Herbst als Lehrerin in Stuttgart eingestellt werden. Das war für mich die Rettung: einmal etwas tun dürfen, was ich wollte! Außerdem konnten die beiden Jüngeren jetzt wieder zur Schule gehen, sie waren ja mitten aus der 6. bzw. 7. Klasse herausgeholt worden. Also zogen wir Mädchen nach Stuttgart!

So einfach, wie das heute wäre, war es freilich nicht. Die alten Bosch-Freunde verwandten sich für uns um eine Zuzugsgenehmigung und sorgten auch für ein Zimmer in Feuerbach. Es hatte zwar nur zwei Betten, aber was macht das schon, wenn man in einer Zelle hatte leben müssen. Einfach war der Anfang für niemand. Mein langer Schulweg zum Königin-Charlotte-Gymnasium führte mich durch eine Trümmerlandschaft; rechts und links Menschen, nur mit Schaufeln versehen, die versuchten, der Straßenbahn den Weg frei zu schaffen - beinahe eine Zukunftsmetapher.

Am 1.Oktober 1945 stellte mich die Direktorin meiner ersten Unterprima vor. 17 Mädchen waren aufgestanden und begrüßten uns mit offenen, freundlichen Gesichtern. Als sie aber den Namen ihrer neuen Deutsch- und Geschichtslehrerin hörten, zuckten sie fast zurück, und ihre Mienen verschlossen sich skeptisch. Doch diese Geste der Zurückweisung schreckte mich bei diesen jungen Menschen nicht mehr so wie bei den Dorfbewohnern. Ich spürte Kraft und Mut, sie gewinnen zu können. Ich war selbst jung, kaum acht Jahre älter als meine Schülerinnen, und traute mir zu, eine Brücke zu ihnen schlagen zu können. Als ich mit ihnen allein war, gab es die ersten guten Gespräche. Ich begriff und erfuhr von ihnen, dass sie es sehr schwer fanden, sich in dieser neuen Welt - meiner freien Welt - zurecht zu finden. Sie waren fast alle BDM-Führerinnen gewesen. Fast jede hatte auch jemanden im Krieg verloren, den Vater, den Bruder oder den Freund. Eine dieser Schülerinnen hat mir später gesagt: ”Wissen Sie, in uns war eine totale Leere. Die Welt, an die wir geglaubt hatten, die war einfach weg. “ Vielleicht haben wir uns darüber getroffen, dass wir gemeinsam eine neue Welt brauchten; die alte war, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen, zerbrochen. So ist es denn für mich ein sehr erfüllter Beruf für mich geworden. Ich habe, glaube ich, meinen Schülerinnen ein wenig Wärme und Mitgefühl entgegenbringen können, und ich habe versucht, ihnen über Unsicherheiten hinwegzuhelfen. Denn ich wusste nur zu gut, was Demütigung und Kränkung anrichten können Ich wollte ihnen helfen dass sie zu freien, selbstgewissen Menschen heranreifen konnten, so wie auch wir in unserem Elternhaus als geliebte, fröhliche Kinder aufwachsen durften.

Noch im Jahr 1945 erreichten uns die letzten Schriften, die der Wärter Wilhelm Brandenburg aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt und meinem Bruder Reinhard übergeben hatte. Sie müssen denken, dass mein Vater die sechs Monate seiner Haftzeit in völliger Einsamkeit verbracht hat. Nur in den Verhören traf er auf Menschen. Es wird beschrieben, dass auch seine Füße gefesselt waren, und er eine schwere Kugel hinter sich herziehen musste, wenn er ins Verhörzimmer gerufen wurde. Was ich an meinem Vater so bewundere, ist, dass er selbst im Gefängnis, bei aller Demütigung und Kränkung, bei allem Verlust des eigentlichen Lebens, noch die Kraft findet, Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Wenige gekritzelte Randbemerkungen zeigen, wie ihm wirklich zu Mute war. Da heißt es z.B. “Wie haben sie mich mit Eurem Schicksal gequält!” So wurde meinem Vater zugespielt, dass die kleinen Enkelkinder ihrer Mutter weggenommen waren. Es gibt auch eine bittere Zeile.” Ich ringe mit meinem Gott, wie Israel mit seinem Gott gerungen hat.”

Aber immer wieder ringt er sich doch die nüchterne, objektive Sprache politischer Planung ab. In der faszinierenden Denkschrift “Gedanken eines zum Tode Verurteilten” findet sich ein Entwurf für ein vereinigtes Europa, der noch heute Bestand hat. Er fordert z.B. eine Wirtschaftsunion, Haushaltskonsolidierung, militärische Zusammenarbeit und darüber hinaus eine UNO zur Beilegung politischer Konflikte, um auf jeden Fall neue Kriege zu vermeiden.

Wir wissen heute besser, welche Steine auch auf dem Weg der internationalen Kooperation liegen. Aber eines hat mein Vater mich gelehrt: Man darf angesichts von Schwierigkeiten nicht kapitulieren. Die Welt kann geändert werden, und sie muss geändert werden, wenn Unrecht geschieht.

Manche Kritiker haben meinem Vater zu großen Optimismus vorgeworfen. Sie verkennen die Kraft, die in der Zuversicht liegt. Deswegen möchte ich mit einem Auszug aus einem der Essays von Dietrich Bonhoeffer schließen. Er hat diese Zeilen, wie mir Eberhard Bethge berichtete, nach einem Gespräch mit meinem Vater notiert:

“Es ist klüger, pessimistisch zu sein: vergessen sind die Enttäuschungen, und man steht vor den Menschen nicht blamiert da. So ist Optimismus bei den Klugen verpönt. Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint. Eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen. Auch wenn er hundert Mal irrt; er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“