"Nicht die Tat, sondern die Gedankenschuld ist in allen Bezirken christlichen und das heißt geschichtlichen Lebens entscheidend."

Eberhard Bethge

„Nicht die Tat, sondern die Gedankenschuld ist in allen Bezirken christlichen und das heißt geschichtlichen Lebens entscheidend.“

Ansprache von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 19. Juli 1990 anlässlich der Enthüllung einer Tafel zu Ehren der ermordeten Häftlinge des ehemaligen Gestapo-Gefängnisses in der Lehrter Straße, Berlin

In dreifachem Mandat ergreife ich das Wort zur Einweihung dieser Gedenktafel für das ehemalige Zellengefängnis Lehrter Straße 3.

Zum Ersten als einer der überlebenden Mithäftlinge aus jenem letzten halben Jahr der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft an diesem Platz.

Zum Zweiten als Kuratoriums-Mitglied der gegenwärtigen Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, die nach dem Ende des Regimes viel Aufmerksamkeit dieser Stätte der Traurigkeit und der Hoffnung gewidmet hat, ihren Opfern, Überlebenden und den Nachkommen.

Zum Dritten als Mitglied des vom Senat berufenen, bis vor kurzem noch wirksamen Beirats zur Errichtung der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in der Stauffenbergstrasse, die Unersetzliches aus jener Zeit gesammelt, gesichert und anschaulich gemacht hat. So auch das, was in den damals schon 100 Jahre alten Mauern noch zuletzt geschehen ist, so dass wir dort die Namen der Toten und Überlebenden studieren und der Pflicht besser genügen können, sie, ihre Taten und Schicksale weiter zu überliefern, die sich der Tod- und Fluchbringenden Anbetung der völkischen Götter entwunden hatten.

Der einstige Zwingbau mit seinen dreistöckigen vier Flügeln war am 21. Juli 1944 durch das Reichssicherheitshauptamt – nach dem Schock der Ereignisse am Vortag – zur Sonderabteilung für seine Fahndungen gemacht worden und blieb das bis zum Ende. Das erhaltene Tagebuch mit der Registrierungsliste der Häftlinge jener Zeit zeigt die Namen von 302 Männern, ihr Einlieferungsdatum, Überstellungstermine – nie das der Tötung; aber in der letzten Spalte ist verzeichnet, wann jeder in der Schlussphase – wie es da heißt – „an die Justiz“ übergeben wurde, so dass für den jeweiligen Schlussakt – Verlegung = Ermordung, bzw. Entlassung – den SD keine Verantwortung mehr treffen sollte.

Die Isolierzellen mit ihren drei viertel Meter dicken Wänden entsprachen wohl ideal den Einkerkerungsvorstellungen der Gestapo für die Putschisten und ihre Freunde. Dennoch wussten wir überraschend schnell, wer der Nachbar war, wer die Neueingelieferten, die Verurteilten. Wir hatten zu lernen, mit dem Tod in unserer Mitte zu leben, wenn sich wieder eine Türe zur Vollstreckung des Volksgerichtshof-Urteils öffnete. Mich ging es persönlich an, als Ernst von Harnack zur Hinrichtung geholt wurde, als Ewald von Kleist-Schmenzin mir noch Grüße vor der Fesselung geben konnte. Wie ihrer gedenken wir derer, die von hier aus den gleichen Weg zu gehen hatten: Eugen Bolz, Fritz Goerdeler, Theodor Haubach, Hermann Kaiser, Franz Kempner, Julius Leber, Franz Leuninger, Hermann Maaß, Adolf Reichwein, Franz Sperr, Ludwig Schwamb, Busso Thoma, Oswald Wiersich. Mit diesem Tod hatte hier zu rechnen, wer den Volksgerichtshof passierte, und jeden begleiteten wir mit unserem Herzen.

Aber dann kam der Tod in den letzten Tagen noch anders, hinterrücks und als wüster Mörder – und das in einem Augenblick, als wir uns alle schon für fast verschont gewähnt hatten und die Freiheit grüßte.

Am Mittwoch, dem 25. April 1945, vernahmen wir sowjetisches Maschinengewehrfeuer. Wir Häftlinge verhandelten nun mit den Gefängnisbeamten, welche die am Tag zuvor verschwundenen Gestapobewacher ersetzt hatten; um vier Uhr nachmittags schlossen sie die Tore auf. Mit unbeschreiblichen Gefühlen machten wir uns auf den Weg in Richtung Charlottenburger Brücke am Schloss, die freilich unter Artilleriebeschuss lag. Aber mehr bedrängte uns der Gedanke, ob wir wohl jene vor zwei Tagen in der Nacht bei uns Herausgeholten zu Haus schon antreffen würden, jene 16, in der Nacht vom Sonntag zum Montag, und die drei vom Montag zum Dienstag; unter ihnen mein Schwiegervater Rüdiger Schleicher und sein Schwager Klaus Bonhoeffer. Als Ursula Schleicher mir und Justus Delbrück die Türe in der Heerstraßensiedlung öffnete und nach den anderen beiden fragte, verdunkelte sich die Freude der Heimkehr: sie werden nicht heimkehren.

Die folgenden Wochen brachten Gewissheit: Acht von jenen herausgeholten sechzehn Männern – Klaus Bonhoeffer, Hans John, Richard Kuenzer, Carl Marks, Wilhelm zur Nieden, Friedrich-Justus Perels, Rüdiger Schleicher, Hans Ludwig Sierks – sie liegen in einem Bombentrichter auf dem Dorotheenstädter Friedhof. Der Neunte, Albrecht Haushofer, auf dem Johanneskirchenfriedhof in Moabit, die übrigen sechs, Max Jennewein, Carlos Moll, Ernst Munzinger, Hans Victor von Salviati, Sergij Sossinow und Wilhelm Staehle, sie liegen in einem Massengrab im Kleinen Tiergarten.

Diese wüsten Morde hat das Reichssicherungshauptamt nicht nur begangen, es hat auch noch die möglichst spurlose Verscharrung der Gemordeten gesteuert. So befahl es, die jetzt auf dem Dorotheenstädter Friedhof Begrabenen nicht im Tagebuch des Leichenschauhauses, wo Leichen abgelegt worden waren, zu registrieren, und der Beamte ließ acht Zeilen im Tagebuch frei.

Die Spuren allerdings der drei weiteren Männer, die noch am Abend nach dem Mord an den 15 geholt worden waren zum allerletzten Mordakt, Albrecht Graf Bernsdorff, Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg und Ernst Schneppenhorst, die haben die Mörder ausgelöscht, so dass wir nichts mehr klären konnten.

Diese Morde angesichts von Hitlers Untergang, noch in den Tagen unseres Bangens ums Überleben, verraten keine durchschaubare Methode auf Seiten derer, die noch Pistolen besaßen; sie verraten nur noch blinde Rache. Unter den Gemordeten sind bereits zu Tode Verurteilte und andere, die noch gar keinen Volksgerichtshofprozess gehabt hatten – auch unter den 40 Gefährten, die am 25. April in die Freiheit der Ruinen zogen, waren noch nicht zum Prozess Gekommene, aber auch einige zum Tode Verurteilte.

Schließlich fielen – schon mit uns am 25. April befreit – doch noch der Gewalt zum Opfer: Heinrich Körner, wahrscheinlich noch am folgenden Tag durch kämpfende SS-Schüsse getroffen; Fritz Elsass, dessen Ende bis heute im Ungewissen blieb; Justus Delbrück, nach drei Tagen Freiheit von Russen geholt und umgekommen in einem sowjetischen Internierungslager.

Nun gedenken wir mit dieser Tafel spät, doch nicht zu spät, derer, die an diesem Ausschnitt des deutschen Widerstandes gegen die tödliche deutsche Hybris gelitten und ihr Leben geopfert haben. Ich erinnere lebhaft den Geist, der im Winter 1944/45 in den Gängen und Hallen dieser Zwingburg unter den Gefährten geherrscht hat. Ja, ich habe keinen Ort mehr und keine Situation wieder erlebt, wo so viele Männer den Geist des leidenden Einstehens für Tun und Lassen, für Schuldübernahme und Befreiung verbreiteten; wo sie sich nicht hinreißen ließen, die Kameraden mit der eigenen Verzweiflung anzustecken; wo jeder von ihnen genau wusste, warum und wofür. Noch in der Zelle bekam ich Albrecht Haushofers dort geschriebenen Sonette in die Hand. In einem stand:

„Ich bin der erste nicht in diesem Raum,

in dessen Handgelenk die Fessel schneidet,

an dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen, wie das Wachen Traum.

Indem ich lausche, spür' ich durch die Wände

das Beben vieler brüderlicher Hände“.

(In Fesseln. Moabiter Sonette S.11, Blanvalet Berlin 1946)

Das Gedenken nach nunmehr 55 Jahren, ein Gedenken der ehrenden Nennung jener Namen, deren Träger ihr Lebensopfer brachten. Gedenken als das erneute Heraufholen der Situation und der Umstände dieses geschichtlichen Abschnittes einer verzweifelten Geschichte, die unabtrennbar zu uns gehört. Gedenken als die wiederholte Selbstverpflichtung auf jenen Geist in neuen Tagen und Generationen. Dieses Gedenken ist auch nach dem 9. Oktober und dem 9. November 1989 nicht überholt. Im Gegenteil, die neuen Daten bedürfen der Anbindung an die alten.

Heute setzt eine frische und notwendige Phase der Aufarbeitung jener Vergangenheit ein, da die Wende Zugänge zu wichtigen Quellen erst jetzt öffnet. Aber noch wichtiger: Ohne Gedächtnis wird aus Befreiung ein Tanz ums Goldene Kalb. Die biblische Geschichte hat gültig erzählt, wie das aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und auf den mühsamen Weg ins verheißene Land gebrachte Volk dem Goldenen Kalb verfällt und die Knechtschaft mit ihren Opfern vergisst.

Heute empfinden wir den überwältigenden Einschnitt der letzten Monate als „historisch“; er droht jedoch unhistorisch zu werden, wenn darüber die Geschichte vor 50 Jahren aus dem Bewusstsein und aus dem Denken gerät. Verantwortliche Bewusstseinsbildung über jene Vergangenheit hilft, dass wir uns jetzt nicht versteigen und verlieren. Kommt es in diesen Wochen umwälzender Taten und immenser Tagesentscheidungen nicht erhöht darauf an, wie und was wir denken?

Zu unseren Gedanken ist aber diese Tafel ein bedeutender Beitrag. 1954 schrieb Reinhold Schneider in seinem Buch „Verhüllter Tag“:

„Nicht die Tat, sondern die Gedankenschuld ist in allen Bezirken christlichen und das heißt geschichtlichen Lebens entscheidend.“ (Seite 212).

Auch das, wovon diese Tafel zeugt, hat einst mit „Gedankenschuld“ angefangen – und aus ihrer Erkenntnis erwuchsen die notwendige Tat und das fortwirkende Opfer.