Rettungswiderstand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Wolfram Wette

Rettungswiderstand

Festvortrag von Prof. Dr. Wolfram Wette am 19. Juli 2013 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

am 20. Juli eines jeden Jahres erinnern wir uns an die mutigen Männer und Frauen, die Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrecht geleistet haben. Heute sind sie ein fester Bestandteil unserer Erinnerungskultur. Lange Zeit konzentrierte sich das Gedenken auf den Offizierswiderstand des 20. Juli 1944 und sein Umfeld. Dass auch „kleine Leute“ in Uniform, also Mannschaftssoldaten, Unteroffiziere und Offiziere mit niedrigen Dienstgraden, Widerstand geleistet haben, wenngleich mit anderen Mitteln und anderen Zielen als die hochrangigen Generalstabsoffiziere, wurde nur wenig beachtet.

Nach dem Willen einflussreicher Konservativer sollte der Widerstand „von unten“ auch gar nicht in den Blick kommen. Sie behaupteten, den „kleinen Leuten“ in der Uniform der Wehrmacht habe der Überblick über die militärische Gesamtlage gefehlt. Daher könne man den einfachen Soldaten, die sich auf unterschiedliche Weise dem Vernichtungskrieg verweigerten, nicht zugestehen, Widerstand geleistet zu haben. Schließlich sei es diesen Soldaten ja auch gar nicht um den Sturz der NS-Diktatur gegangen. Weiterhin fürchteten die Konservativen, die Anerkennung des Ungehorsams der widerständigen Soldaten aus der NS-Zeit sei womöglich geeignet, die Disziplin in der Bundeswehr zu untergraben. Noch in den Jahren zwischen 1990 und 2009, als im parlamentarischen Raum um die politische und moralische Rehabilitierung der Wehrmacht-Deserteure, der Kriegsdienstverweigerer, der Wehrkraftzersetzer und der wegen Kriegsverrats verurteilten Soldaten gerungen wurde, konnte man solche Einwände hören.

Tatsächlich – da haben die Bedenkenträger recht – konnten jene Soldaten, die während der Nazi-Herrschaft ihrem Gewissen folgten und Kriegsgefangenen oder der bedrohten Zivilbevölkerung beim Überleben halfen, also unter anderem Juden und Partisanen, nicht am großen Rad der Weltgeschichte drehen. Sie waren nicht in der Lage, die NS-Regierung zu stürzen, und genau so wenig hatten sie es in der Hand, den Krieg zu beenden. In ihrem Denken und Handeln ging es nicht um Tyrannenmord oder Staatsumsturz. Vielmehr agierten sie in realistischer Einschätzung ihrer Möglichkeiten mit dem Blick nach unten hin, auf ihr unmittelbares Umfeld am unteren Ende der militärischen Hierarchie. Dort suchten sie ihre Handlungsspielräume, wenn sie denn den Willen hatten, Verfolgten zu helfen und zu ihrer Rettung beizutragen.

Ich freue mich, heute zu Ihnen über Rettungswiderstand sprechen zu können. Dabei werde ich Soldaten der Wehrmacht und Polizisten im Kriegsdienst, die geholfen und gerettet haben, in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen.

Vorwegnehmen möchte ich das wichtigste Ergebnis der Widerstandsforschung insgesamt wie der Retterforschung im Besonderen: Es ist die Erkenntnis, dass man entgegen anderslautenden Schutzbehauptungen durchaus „etwas machen“ konnte. Selbst unter den extremen Bedingungen von Diktatur, Krieg und Holocaust hat es Handlungsspielräume für Solidarität und Hilfe gegeben, und diese sind gerade auch von sogenannten „kleinen Leuten“ zum Wohle der Verfolgten genutzt worden.

Was ist Rettungswiderstand?

Ist es gerechtfertigt, die Helfer und Retter zu den Widerständigen zu rechnen? Ich denke, diese Frage lässt sich ohne weiteres bejahen, wenn wir uns das Folgende klar machen: Die bewaffneten Organe des NS-Staates verfolgten und vernichteten Menschen aus rassenideologischen Motiven. Wer sich diesem staatlich verordneten Mord entgegenstellte, wer den verfolgten Menschen half und sie zu retten versuchte, der stellte sich gegen zentrale Intentionen dieses Staates und leistete damit Widerstand.

Nun ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Helfer und Retter selbst nicht selten ein gewisses Unwohlsein artikulierten, wenn sie erfuhren, dass die Historiker sie als widerständig bezeichneten. Sie sagten, der Begriff Widerstand sei für ihr Handeln viel zu hoch gegriffen; es sei doch eine „Selbstverständlichkeit“ gewesen, den verfolgen Menschen zu helfen, sie hätten nichts weiter als „aktiven Anstand“ (Fritz Stern) praktiziert. Aus einer solchen Haltung spricht eine humane Grundeinstellung und eine selbstbewusste Bescheidenheit. Gleichzeitig lässt sie sich wiederum als Reflex auf die ältere Vorstellung verstehen, Widerstand müsse etwas mit gewaltsamem Staatsumsturz zu tun haben, wie er am 20. Juli 1944 vergeblich versucht worden ist.

Als wir – gemeint ist eine größere Gruppe von etwa 30 Historikerinnen und Historikern aus der Historischen Friedensforschung – uns Ende der 1990er Jahre mit Rettern in der Uniform der Wehrmacht oder der Polizei zu beschäftigen begannen, hatten wir noch keine klaren Vorstellungen über unseren Gegenstand, und wir hatten demzufolge auch keinen Begriff für dieses neue Forschungsfeld.

Arno Lustiger, der Überlebende des Holocaust und Historiker des jüdischen Widerstandes, der im Mai 2012 in Frankfurt am Main verstorben ist, begleitete unsere Arbeit, indem er seine Erfahrung und seine Sichtweise als Verfolgter einbrachte. Er war es schließlich, der uns die Lösung präsentierte, indem er die Begriffe Rettung und Widerstand einfach zusammenfasste zum „Rettungswiderstand“. Wir verstehen heute darunter die Weigerung von Soldaten und Polizisten, sich an dem rassistischen Mordprogramm des NS-Staates zu beteiligen, und deren solidarisches Engagement für das Überleben der Verfolgten.

Zwischenzeitlich ist der Begriff Rettungswiderstand fest in der Widerstandsforschung etabliert. Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, dem ich herzlich für die Einladung danken möchte, hier sprechen zu dürften, sorgte einmal für Erheiterung mit der Bemerkung: „Mit dem Begriff Rettungswiderstand haben wir eigentlich nur das eine Problem: Dass wir nicht selbst auf ihn gekommen sind.“

Handlungsspielräume – auch in der totalen Institution Wehrmacht

In den Forschungen zum Rettungswiderstand spielt der Begriff Handlungsspielraum eine große Rolle. Gewöhnlich wird angenommen – und das durchaus zu Recht –, das Militär sei eine „totale Institution“, in denen es für die „kleinen Leute“ am unteren Ende der Hierarchie nur den bedingungslosen Gehorsam gebe, aber keine Spielräume für eigene Entscheidungen und für eigenes Handeln. Tatsächlich ist das Bewegungsgesetz des Militärs durch das Prinzip von Befehl und Gehorsam bestimmt, und die militärische Führung strebt die vollständige Kontrolle über die untergebenen Soldaten an. Ihr Erziehungsziel ist die „Fabrikation des zuverlässigen Menschen“, der im Krieg bereit ist, den Feind zu töten. In der geschlossenen Institution des Militärs werden sämtliche Bewegungsabläufe geregelt durch Befehle, Vorschriften, die Disziplin und die Pflicht zur Kameradschaft.

Im Gegensatz zu diesem Bild von der totalen Institution haben unsere Forschungen ergeben, dass es selbst in der Wehrmacht des NS-Staates gewisse Handlungsspielräume gegeben hat, die von einigen mutigen und human eingestellten Soldaten dazu genutzt wurden, um Juden, Kriegsgefangene und andere Verfolgte zu retten. Auch uns Militärhistorikern war dieses Phänomen lange Zeit überhaupt nicht bekannt, und daher waren wir überrascht von unseren Entdeckungen.

Um einem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich eine Erläuterung anfügen: Man darf sich Handlungsspielräume in einer totalen Institution wie der Wehrmacht nicht vorstellen als räumlich abgegrenzte Bereiche, die durch Befehle und Vorschriften nicht erfasst gewesen wären und in denen der Totalitätsanspruch der Kriegsmaschinerie keine Gültigkeit gehabt hätte. Ein Handlungsspielraum entstand vielmehr erst durch den Willen eines Retters, der sich vorgenommen hatte, dem Vernichtungskrieg seine eigene Solidarität mit Verfolgten entgegen zu setzen. Handlungsspielraum meint also eine vorgestellte Möglichkeit, die sich im Kopf des Retters erst einmal herausbilden musste. Er schuf sich damit einen begrenzten Raum der Freiheit, dessen Distanzen immer wieder von neuem ausgelotet werden mussten. Nur wer sich diesen Handlungsspielraum schaffen wollte, der konnte auch erkennen, dass es ihm – im Rahmen der Bedingungen, unter denen er agierte – frei stand, sich für die richtige oder die falsche Sache zu entscheiden, für das Gute oder das Böse. Handlungsspielraum und Freiheit der Entscheidung gehören also eng zusammen.

Das Risiko der Exekutionsverweigerer

Als Erstes möchte ich über die sogenannten „Exekutionsverweigerer“ sprechen. Damit sind Soldaten und Polizisten gemeint, die den militärischen Gehorsam aufkündigten, als ihnen befohlen wurde, sich an der Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen, Politkommissaren und anderen Menschen durch Mitschießen zu beteiligen. Wie viele dieser mutigen Menschen es gab, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass es sie gegeben hat und dass die Verweigerung für den betreffenden Soldaten oder Polizisten keineswegs das Risiko in sich barg, selbst „an die Wand“ gestellt zu werden, wie nach dem Kriege immer wieder behauptet wurde. Tatsächlich blieb diese Form von Ungehorsam in der Regel sogar folgenlos.

Durch die Forschungen des amerikanischen Historikers Christopher Browning sind der interessierten deutschen Öffentlichkeit die zwölf Männer des Reserve-Polizei-Bataillons 101 bekannt geworden, die sich weigerten, in Polen an Judenerschießungen teilzunehmen, ohne dass sie für ihren Ungehorsam in irgendeiner Weise belangt worden wären. Wer nicht mitschießen wollte, wurde einfach zur Polizei nach Hamburg zurückgeschickt, wo das betreffende Polizeibataillon aufgestellt worden war. Die Staatsanwälte der Ludwigsburger Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen, die sich wegen der vielfachen Berufung von Tätern auf den sogenannten „Befehlsnotstand“ mit diesem Komplex auseinander zu setzen hatten, kamen zu demselben Ergebnis. Sie konnten keinen einzigen Fall zutage fördern, der belegen würde, dass ein Exekutionsverweigerer tatsächlich erschossen wurde.

Stattdessen kamen durch die zeitgeschichtliche Forschung ganz andere Sachverhalte ans Licht, die geeignet sind, uns im Rückblick darüber die Augen zu öffnen, welche Handlungsspielräume tatsächlich bestanden haben. Ich nenne Ihnen den Fall von drei Kompanieführern eines Infanteriebataillons der Wehrmacht, das 1941 in Weißrussland eingesetzt war. Dieser Fall wurde der interessierten Öffentlichkeit in der zweiten Wehrmachtsausstellung präsentiert. Wer diese Geschichte zum ersten Mal hört, mag glauben, sie sei erfunden worden, weil sie sich wie ein eigens konstruiertes Lehrstück anhört. Tatsächlich handelt es sich jedoch um historische Wirklichkeit: Im Oktober 1941 bekamen die besagten drei Kompaniechefs den Befehl, die jüdische Bevölkerung der jeweiligen weißrussischen Quartiersorte zu erschießen. Der eine, Oberleutnant Hermann Kuhls, führte ihn sofort aus; der andere, Hauptmann Friedrich Nöll, ließ sich den Befehl erst schriftlich bestätigen, ehe er ihn dann doch ausführte; der dritte schließlich, Oberleutnant Josef Sibille, lehnte die Befolgung des Befehls einfach ab. Wann er denn „endlich einmal hart“ werde, fragte der Vorgesetzte. „Nie“, antwortete Sibille. Und das Erstaunliche war: Dem Offizier geschah nichts. – Es gibt viele Fälle dieser Art, in denen einer Weigerung, sich an Mordtaten zu beteiligen, keine schwere Strafe folgte, gar die Todesstrafe. Manchmal erfolgte eine Versetzung, mehr nicht.

Als exemplarisch für den Bereich der Polizei kann der Fall des Polizeioffiziers Klaus Hornig gelten, der sich weigerte, kriegsgefangene Rotarmisten zu erschießen bzw. erschießen zu lassen. Er war also ebenfalls ein Exekutionsverweigerer. Hornig erhielt in Zamosz, Polen, am 1. November 1941 den Auftrag, mit seiner Polizeieinheit kampfunfähige sowjetische Soldaten zu erschießen, bei denen es sich angeblich um politische Kommissare handelte, die von der Wehrmacht bekanntlich durchgängig ermordet wurden. Hornig hatte den Mut, das Ansinnen seines Vorgesetzten unter Hinweis auf das Völkerrecht abzulehnen. Entsprechend belehrte er auch die ihm unterstellten Polizisten. Durch seine Verweigerung konnte dieser Polizeioffizier die Morde allerdings nicht verhindern. Die Exekutionen wurden dann von einer anderen Polizeieinheit durchgeführt. Und was geschah mit Hornig? Er wurde versetzt und wegen Wehrkraftzersetzung, Befehlsverweigerung und öffentlicher Beschimpfung der SS angeklagt und zu mehrjähriger Haft verurteilt. Er überlebte den Krieg, weil Truppen der US-Armee ihn im April 1945 in Buchenwald befreiten.

Die „ganz normalen Männer“ und die nicht gesuchten Handlungsspielräume

Wer über den Mut der kleinen Minderheit der Exekutionsverweigerer und der Retter in Uniform spricht, der sollte es nicht versäumen, der Frage nachzugehen, weshalb sich die Mehrheit für die Konformität entschieden hat. Die meisten Soldaten, Polizisten und SS-Männer haben bekanntlich mitgeschossen, wie es ihnen befohlen wurde. Man hat sie als „ganz normale Männer“ bezeichnet, obwohl ihr Tun – gemessen an der tradierten christlichen Moral – alles andere als normal war. Ob sie ihren Dienst beim Militär, bei der Polizei und bei der SS ableisteten: Sie schossen mit. Mangels Zivilcourage, mangels Mut, mangels aktiviertem Anstand. Ihr Gewissen muss ihnen signalisiert haben, dass es sich um die Ermordung unschuldiger und wehrloser Menschen handelte. Aber die Last des Gewissens wog offensichtlich leichter als das Bestreben, den Vorgesetzten zu gefallen, nicht gegen die Hierarchie aufzubegehren, vor den „Kameraden“ gut da zu stehen, nicht als Feigling angesehen zu werden – und die eigene Karriere nicht zu beeinträchtigen.

Hinzu kommt, dass vermutlich gar nicht so wenige deutsche Soldaten und Polizisten für richtig hielten, was sie taten, weil sie überzeugte Antisemiten, Herrenmenschen und Antibolschewisten waren. Die grundlegende humane Orientierung, dass das Leben eines Menschen das höchste Gut ist und daher geschützt werden muss, war für diese Deutschen, die sich für ganz „normal“ hielten, in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 nicht mehr handlungsleitend.

Feldwebel Anton Schmid

Der erste „Retter in Uniform“, der in Deutschland bekannt wurde, war der aus Wien stammende Feldwebel Anton Schmid. Sein Name fiel während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem im Jahre 1961. Dem staunenden Publikum im Gerichtssaal berichtete der ehemalige Kommandeur jüdischer Partisanen, Abba Kovner, dass es 1941/42 in der litauischen Stadt Wilna „eine der“ – wie er sagte – „ seltensten und verblüffendsten Episoden dieser Zeit“ gegeben habe. Ein deutscher Feldwebel namens Schmid habe eine größere Anzahl von Juden gerettet und sogar mit dem jüdischen Widerstand zusammengearbeitet. Er sei aufgeflogen und hingerichtet worden.

Heute wissen wir Genaueres: Feldwebel Anton Schmid war in Wilna Leiter einer Versprengten-Sammelstelle, an die auch Werkstätten der Wehrmacht angegliedert waren. Er hatte schon vor dem Krieg verfolgten Juden geholfen und blieb auch unter den Bedingungen des Vernichtungskrieges ein anständiger Mensch. Er empörte sich über die Judenmorde und tat – unter konspirativen Bedingungen – alles, was in seinen Kräften stand, und kein Risiko scheuend, um möglichst viele von ihnen zu retten. Seine kleine, im Windschatten der vorgesetzten Feldkommandantur Wilna arbeitende Dienststelle eröffnete Schmid, nachdem er sich einmal zur Hilfe und Rettung entschlossen hatte, mehrere Handlungsmöglichkeiten: Indem er eine gewisse Anzahl von Juden als Handwerker in der Versprengten-Sammelstelle beschäftigte, schützte er sie vor Deportation und Erschießung im nahegelegenen Dorf Ponary. Etwa 300 Juden soll er mit einem Wehrmacht-Lastkraftwagen von Wilna weg in als sicherer geltende Städte im benachbarten Weißrussland gebracht haben. Schließlich unterstützte er auch den jüdischen Widerstand, der sich Ende 1941 in Wilna zu organisieren begann, was seiner Handlungsweise eine besondere Dimension verschafft. Nach mehrmonatiger Rettungstätigkeit wurde Feldwebel Schmid denunziert, verhaftet, vor ein Feldkriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen. Gerettete sagten über ihn: „Für uns war er so etwas wie ein Heiliger.“

Major Karl Plagge

Der zweite „Retter in Uniform“, mit dem ich Sie bekannt machen möchte, war der aus Darmstadt stammende Ingenieur Karl Plagge, Dienstgrad Major. Er war, ebenso wie Feldwebel Schmid, in der litauischen Stadt Wilna stationiert, die von deutschen Truppen besetzt war. Dort rettete er mehrere Hundert Juden vor der Ermordung. Auch er hielt an seiner humanen Orientierung fest und ließ sich in seinen Handlungen von ihr leiten. Plagge war über die Massenmorde in Ponary informiert, so wie auch jeder andere Angehörige der deutschen Besatzungsmacht im Raume Wilna von ihnen wusste und sie damit zumindest passiv unterstützte. Ich möchte eigens darauf hinweisen, dass Plagge nicht in der Form einer einmaligen, spontanen Aktion half, sondern gleichsam „mit langem Atem“, also überlegt, kühl kalkulierend, ausdauernd, über Jahre hinweg, nicht immer, aber doch vielfach erfolgreich.

Als Kommandeur des Heeres-Kraftfahr-Parks (HKP) 562 in Wilna, einer großen Reparaturwerkstätte für Radfahrzeuge und anderes Gerät der Wehrmacht, wirkte Plagge darauf hin, dass in seiner Dienststelle vorrangig jüdische Arbeitskräfte beschäftigt wurden. Damit sparte er diese von den Erschießungsaktionen aus und brachte sie zumindest temporär aus der Gefahrenzone. Plagge sorgte dafür, dass auch solche Juden eingestellt und damit geschützt wurden, die von der Kraftfahrzeugreparatur eigentlich gar nichts verstanden. Des Weiteren kümmerte er sich darum, dass „seine“ jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter medizinisch versorgt und gut verpflegt wurden. Das konnte nach außen hin jeweils mit dem konformen Argument gerechtfertigt werden, ohne gesunde und kräftige Menschen könne keine erfolgreiche Arbeit für die Wehrmacht geleistet werden. Plagge ließ ihm vertraulich zugegangene Informationen über bevorstehende Deportationen nach Ponary an die Bedrohten durchsickern, damit diese versuchen konnten, sich in vorbereiteten Verstecken, genannt Malinen, dem Zugriff der SS und ihrer litauischen Helfer zu entziehen.

Konfrontation mit der SS: Die Wehrmachtoffiziere Albert Battel und Max Liedtke als Judenretter

Besonderes Interesse darf die Geschichte einer Judenrettung in der polnischen Stadt Przemysl am San im Juli 1942 beanspruchen. Denn hier kam es zu einer offenen Konfrontation zwischen Wehrmacht und SS. Die in Przemysl stationierte SS wollte die Juden der Stadt in das Vernichtungslager Belzec deportieren. Die beiden Wehrmachtoffiziere Albert Battel und Max Liedtke schützten nun „ihre“ Arbeitsjuden, indem sie die einzige Brücke über den San, die zum Ghetto führte, sperrten. Gleichzeitig ließen sie SS-Polizeikräfte unter Androhung von Maschinengewehrfeuer von der Brücke abdrängen. So wurden diese gewaltsam daran gehindert, die Juden zu deportieren, die unter dem Kommando der Ortskommandantur standen.

Die Initiative zu dieser Rettungstat ging von Oberleutnant Dr. Albert Battel aus. Er war der Adjutant des Majors Max Liedtke, der erst vor kurzem aus der griechischen Hafenstadt Piräus nach Przemysl versetzt worden war und der nunmehr die Funktion des deutschen Ortskommandanten wahrnahm. Battel konnte sowohl Liedtke als auch die anderen Offiziere der Kommandantur von seiner Idee überzeugen, dass der Schutz der jüdischen Arbeiter gegenüber der SS durchgesetzt werden müsse. Ebenso wie Feldwebel Schmid und Major Plagge operierte er mit dem Argument der militärischen Interessen, gegen das seine Kontrahenten nur schwer angehen konnten.

Im Juli 1942 brachten Liedtke und Battel mehr als 500 jüdische Arbeitskräfte in den Kellerräumen der Ortskommandantur unter und stellten sie dort eine ganze Woche lang unter ihren Schutz, während die SS-Schergen draußen die anderen Bewohner des Gettos brutal zusammentrieben unter dem Vorwand, sie sollten „umgesiedelt“ werden. Tatsächlich aber schaffte man sie in die Vernichtungslager. Binnen einer Woche wurden so mindestens 10 000 Juden aus Przemysl verschleppt. Liedtkes Vorgesetzter, der Oberfeldkommandant in Krakau, meldete nach oben: „Zusammenarbeit mit Polizei reibungslos (bis auf den Fall Przemysl)."

NSDAP-Mitglied Albert Battel, im Zivilleben Rechtsanwalt und Notar aus Breslau, hatte sich indes schon zuvor immer wieder für Juden eingesetzt. Auch in Przemysl galt er als ein engagierter Freund der Juden. Erstaunlicher Weise hat ihn die geschilderte Rettungsaktion einschließlich der Konfrontation mit der SS keineswegs „Kopf und Kragen“ gekostet. Stattdessen wurde er wenig später, im August 1942, sogar zum Hauptmann befördert. Major Max Liedtke, der Theologie studiert und beruflich als Journalist und Verleger gearbeitet hatte, erhielt ebenfalls keine schwere Strafe, vermutlich, weil sein Vorgesetzter, General Kurt Freiherr von Gienanth, ihn deckte.

Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ehrte Oberleutnant Albert Battel und Major Max Liedtke als „Gerechte unter den Völkern“ – posthum: Während Liedtke tragischer Weise noch 1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verstarb, war Albert Battel bereits drei Jahre zuvor im hessischen Hattersheim einem Herzinfarkt erlegen.

Handlungsspielräume hinter der Front

Die geschilderten Fälle haben gezeigt: Weniger an der kämpfenden Front, wohl aber in der rückwärtigen Gebieten der von der Wehrmacht eroberten Länder bestanden für Angehörige der Besatzungsverwaltung, die Leben retten wollten, besondere Handlungsspielräume. Einige Wehrmachtsoldaten nutzten ihre Dienststellung als Arbeitgeber in kriegswichtigen Betrieben und Werkstätten, um ihre Hand über die Verfolgten zu halten, vergleichbar den zivilen Unternehmern Oskar Schindler, Berthold Beitz und Friedrich Gräbe, die in den besetzten Gebieten des Ostens agierten.

Aber auch „kleine Leute“, die ähnlich wie Feldwebel Schmid in einem eher engen Radius wirkten, nutzten den Hebel „Rettung durch Arbeit“. Die historische Forschung hat ermittelt, dass noch weitere Wehrmachtsoldaten in dieser Weise handelten. Ich nenne den Feldwebel Hugo Armann, den Hauptmann Dr. Fritz Fiedler und den Haupttruppführer der Organisation Todt, Willy Ahrem. Jüngst, im November 2012, wurde mit dem Hauptfeldwebel Gerhard Kurzbach ein weiterer Wehrmachtsoldat als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, der ebenfalls hinter der Front agierte, nämlich als Schirrmeister (Kfz-Meister) im Heereskraftfahrpark (HKP) Bochnia bei Krakau. Ab Mai 1941 rettete er dort mehr als 200 Juden.

Sonderführer Günter Krüll

Die meisten Rettergeschichten, die wir untersucht haben, haben ein ähnliches Muster: Ein Verfolgter oder eine Verfolgte ergriffen die Initiative, sprachen einen Menschen an, der ihnen als vertrauenswürdig erschien, und fragten ihn, ob er Hilfe leisten könne und wolle. Der oder die Angesprochene reagierte dann auf den Hilferuf, entweder ablehnend oder zustimmend. Die Entscheidung für Hilfe und Rettung war also in der Regel eine Reaktion.

Dass es jedoch auch ganz anders laufen konnte, belegt der Fall des „Sonderführers“ Günter Krüll. Er war von Beruf Schiffsbauingenieur und wurde aus diesem Grunde von der Wehrmacht als Leiter einer sogenannten „Feldwasserstraßen-Abteilung“ eingesetzt. Er stand im Range eines Majors der Wehrmacht. Dieser Offizier fasste aus eigener Initiative und aus humanen Motiven heraus den Entschluss, wenigstens einen einzigen Juden aus der südpolnischen Stadt Pinsk, in welcher seine Dienststelle arbeitete, zu retten. In einem längeren Lernprozess übte er mit einem Verfolgten unter dem fiktiven Namen Pjotr Rubinowitsch Rabzewitsch eine neue Identität ein – und hatte damit Erfolg. Der Gerettete überlebte den Krieg und berichtete später in Deutschland öffentlich über seinen Retter.

Oberleutnant Heinz Drossel und das Risiko eines Retters in Uniform

Am Beispiel des Oberleutnants der Wehrmacht und Judenretter Heinz Drossel möchte ich die Frage erörtern, welches Risiko ein Retter in Uniform einging. Zunächst zum Sachverhalt: Im Februar 1945 fuhr Drossel für einen Kurzurlaub zu seinen Eltern nach Berlin. Dort wurde er von einer verfolgten jüdischen Familie um Hilfe gebeten. Drossel und seine Eltern überlegten nicht lang, sondern halfen spontan, aber auch umsichtig und schlau. Der Offizier Heinz Drossel händigte den Verfolgten sogar seine Dienstpistole aus: Damit sie sich gegebenenfalls gegen die Gestapoleute wehren konnten, die hinter ihnen her waren. In Drossels Berliner Stadtwohnung fand die jüdische Familie ein neues Versteck. So konnten die Drossels die Familie Hesse retten, die Eltern, die erwachsene Tochter Margot und deren Freund Günter Fontheim.

Um das Risiko abschätzen zu können, das Drossel durch diese Judenrettungsaktion einging, müssen wir versuchen, uns ein Bild von der Befehlslage in der Wehrmacht und vom Antisemitismus im Offizierskorps zu machen. Festzustellen ist erstens: Einen Straftatbestand „Judenrettung“ oder Ähnliches gab es im Militärstrafgesetzbuch (MStGB) nicht. Zweitens: Eine Verordnung, die eine konkrete Strafandrohung für Judenhilfe durch deutsche Soldaten in den besetzten Gebieten enthalten hätte, gab es ebenfalls nicht. Aber es gab – drittens – in den völkerrechtswidrigen Befehlen der Wehrmachtführung ein antibolschewistisches und ein antisemitisches Feindbild, das handlungsorientierend wirkte. In diesen Befehlen wurde den Soldaten nahe gelegt, die Juden als militärischen Feind anzusehen und zu bekämpfen. Damit sollten Hemmschwellen herabgesetzt werden.

Da der von oben geforderte Antisemitismus da und dort zu wünschen übrig ließ, gab der Chef des Heerespersonalamtes, General der Infanterie Rudolf Schmundt, der ein gefügiges Werkzeug Hitlers war, im Oktober 1942 eine Weisung heraus, in welcher er klar stellte, dass von jedem Wehrmachtoffizier „eine eindeutige, völlig kompromisslose Haltung in der Judenfrage“ verlangt wurde. Es dürfe „keinerlei, sei es auch noch so lockere Verbindung zwischen einem Offizier und einem Angehörigen der jüdischen Rasse geben“. Denn Deutschland stehe im harten „Kampf gegen den jüdisch-bolschewistischen Weltfeind“. Die Offiziere sollten sich also am Leitbild eines vom Rassismus überzeugten Weltanschauungskämpfers orientieren. Wer gegen diese ideologischen Vorgaben verstieß, konnte seiner Position enthoben und aus dem Heeresdienst entlassen werden.

Oberleutnant Heinz Drossel war diese Befehlslage – eigener Aussage zufolge – bekannt. Sie bestimmte aber nicht sein Handeln, obwohl er befürchten musste, dass seine Rettungsaktion mit den härtesten Sanktionen belegt werden würde. Alleine der Tatbestand, dass er der jüdischen Familie Hesse eine Pistole samt Munition aushändigte, hätte zweifellos die Todesstrafe zur Folge gehabt.

Im Übrigen gehörte es zum Willkürsystem der nationalsozialistischen Herrschaft, dass Helfer und Retter aus der Wehrmacht im Unklaren darüber gelassen wurden, welcher Gefahr sie sich wegen der damals so genannten „Judenbegünstigung“ konkret aussetzten. In der rückblickenden Betrachtung ist erkennbar, dass es sich nicht um ein totales Risiko handelte. Soweit bekannt, ist außer Feldwebel Anton Schmid kein einziger Wehrmachtsoldat alleine wegen Judenhilfe zum Tode verurteilt worden.

Die winzige Minderheit der Retter in Uniform

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wie viele Helfer und Retter in der Uniform der Wehrmacht es in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gegeben haben mag. Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Mit den Mitteln der ohnehin ungemein schwierigen Quellenforschung konnten wir die solidarischen Hilfeleistungen von etwa 30 solcher Retter in der Uniform der Wehrmacht, der Polizei oder der SS beschreiben. Vielleicht wird man zukünftig noch einige Dutzende weitere ermitteln können. Mehr aber wohl nicht.

Sollen wir über dieses Forschungsdefizit klagen? Kommt es wirklich auf eine mehr oder weniger verlässliche Anzahl von Helfern und Rettern in Uniform an? Oder ist nicht die Tatsache, dass es sie überhaupt gegeben hat, von ausschlaggebender Bedeutung? Die Retter und Helfer belegen, dass man sehr wohl „etwas machen“ konnte. Das ist die wichtigste, weil ermutigende Erkenntnis, auch im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit der NS-Zeit für die jüngeren Generationen – und damit für eine zukunftsorientierte Erinnerung.

30 oder 100 Retter in Uniform: In jedem Falle handelte es sich bei dieser geringen Anzahl um eine verschwindend kleine Minderheit. Man muss sich ja vor Augen führen, dass der Wehrmacht insgesamt etwa 18 Millionen Männer und eine halbe Million Frauen angehörten. Also eine Handvoll mutige Menschen im großen Heer der Täter und Mitläufer! Angesichts dieser Zahlenverhältnisse sind wir mehr als berechtigt, die Retter als Goldkörnchen unter dem großen Schutthaufen der deutschen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus zu würdigen.

Zur Rezeptionsgeschichte der „stillen Helden“

Im letzten Teil meines Vortrages möchte ich mit einigen Schlaglichtern die aufschlussreiche Rezeptionsgeschichte des Rettungswiderstandes beleuchten.

Gelegentlich sind die Judenretter als „stille Helden“ bezeichnet worden. Mit diesem Begriff soll auf eine typische Haltung aufmerksam gemacht werden: Die meisten Retter wollten nicht, dass man von ihren Taten ein sonderliches Aufheben machte. Sie sahen ihre Verhaltensweise als etwas Selbstverständliches an. Dass sie so lange beschwiegen wurden, hat aber noch einen anderen Grund: Für die Mehrheit der Täter und Mitläufer hatte die Tatsache, dass es damals auch möglich war, gegen den Strom zu schwimmen und seinem Gewissen zu folgen, den Charakter einer Provokation, ja einer Anklage.

Ein Weiteres kommt hinzu: Weil diese „stillen Helden“ in der Regel nicht den Führungseliten angehörten, sondern einfache Menschen waren, wirkten sie nach 1945 wie ein Spiegel, der für jedermann die unangenehme Frage bereit hielt: Und was hast Du getan? Die Judenhelfer und Judenretter verkörperten gleichsam das Kontrastprogramm zu jener großen Mehrheit von Volksgenossen, die den Weg des NS-Regimes unterstützt hatte, sei es aus Überzeugung, Opportunismus oder Furcht.

Die Ehrungsinitiative des Berliner Senators Joachim Lipschitz

Einen ersten Vorstoß, Judenretter zu ehren, unternahm in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren der Berliner sozialdemokratische Innensenator Joachim Lipschitz. Ihm gefiel es, dass der Autor Kurt Grossmann, einer der ersten, die über Judenretter berichteten, diese als „unbesungene Helden“ bezeichnete. Dem wollte Lipschitz abhelfen und sie gleichsam besingen. Aus diesem Grunde rief er im Bundesland West-Berlin eine einzigartige Initiative zur Ehrung von Judenhelfern ins Leben. Ihm ist es zu verdanken, dass der Berliner Senat mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses in der Zeit von 1958 bis 1966 immer wieder Judenretter auszeichnete. Insgesamt ehrte der Berliner Senat Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre 760 Menschen.

Der Senator hatte aber noch weiter gehende Ziele, an die ich bei dieser Gelegenheit erinnern möchte. Er wollte nichts Geringeres anstoßen als die Abkehr der Deutschen von der hierzulande traditionsreichen Verehrung der Kriegshelden, die er einmal als die „professionellen Gehilfen des Todes“ bezeichnete. Denen, die es hören wollten – besonders setzte er auf die Jugend –, empfahl er, die stillen Widerständler, die Helfer und Retter als „Helden der Humanität“ anzusehen und sie zum Vorbild zu nehmen. Diesen Einzelnen, die sich anständig verhalten hatten, gebührte nach der Überzeugung von Lipschitz „mehr Ehre als tausend Generalen“. Ich denke, dass diese Botschaft in den folgenden Jahrzehnten mit wachsender Bereitwilligkeit auch gehört und beherzigt worden ist.

Nach dem frühen Tode des Senators – er wurde nur 43 Jahre alt – fehlte dem Projekt „Unbesungene Helden“ die treibende Kraft. Nach einigen Jahren fiel es der Vergessenheit anheim. Die Berliner Initiative stieß in keinem anderen Bundesland und in keiner anderen Stadt auf Interesse und wurde nirgendwo aufgegriffen. So blieben die Taten der Retter, der Verweigerer, der stillen Oppositionellen, in der Bundesrepublik wie in Österreich bis in die späten 1990er Jahre hinein verdrängt, verschwiegen, verleumdet.

Bundestag 1997: Späte Anerkennung der Schuld

Vom Beginn der Lipschitz-Initiative an gerechnet, dauerte es noch einmal ganze vier Jahrzehnte, bis sich der Deutsche Bundestag dazu aufraffte, ein klares Wort über den Zweiten Weltkrieg und über die Opfer der deutschen Militärjustiz zu sprechen, zu denen auch die Judenretter gehörten. Von zentraler Bedeutung für die Anerkennung des Widerstandes der „kleinen Leute“ war die Entschließung des Parlaments vom 15. Mai 1997. Sie fiel in die Zeit der von Helmut Kohl (CDU) geführten konservativen Bundesregierung. Der entscheidende Satz der Aufsehen erregenden Entschließung lautet: „Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“ Von diesem Eingeständnis ausgehend, bezeugte der Bundestag den Opfern der Militärjustiz und ihren Angehörigen „Achtung und Mitgefühl“. Weiterhin erklärte das Parlament, dass die Urteile der Wehrmachtjustiz, die diese während des Zweiten Weltkrieges wegen Kriegsdienstverweigerung, Desertion oder Wehrkraftzersetzung verhängt hatte, „Unrecht“ waren. Damit machten die Abgeordneten klar, dass sie nunmehr endlich bereit waren, das Verhalten dieser Männer als Widerstand des „kleinen Mannes in Uniform“ zu würdigen.

Die späte Würdigung der widerständigen Helfer und Retter

In den späten 1990er Jahren änderte sich das geschichtspolitische Klima, was unter anderem mit dem Generationswechsel zu tun hatte. Jetzt begann auch das Interesse an den Rettern in Uniform zu erwachen. Großen Anteil an dem gesamtgesellschaftlichen Meinungswandel, der sich nun vollzog, hatten Hunderte einzelner lokaler Initiativen überall in Deutschland und Österreich.

Unterstützung kam dabei auch von ganz oben, zum Beispiel im Falle des vorhin bereits erwähnten Wehrmacht-Oberleutnants Heinz Drossel. Als er im September 2001 seinen 85. Geburtstag feierte, ließ sich der damalige Bundespräsident Johannes Rau mit einem Hubschrauber in das Schwarzwald-Dorf Simonswald fliegen, um dem dort lebenden Judenretter Heinz Drossel demonstrativ zu gratulieren. Damit setzte er ein politisches Zeichen.

Raus Fürsprache verhalf auch den Initiativen von Inge Deutschkron zum Erfolg, die Judenretter in bleibender Weise zu ehren. Am 27. Oktober 2008 wurde in der Bundeshauptstadt Berlin die „Gedenkstätte Stille Helden“ feierlich eröffnet. Sie befindet sich in der Rosenthalstraße 39, Nähe „Hackesche Höfe“, wo bislang schon das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt besichtigt werden konnte. Sie ist Teil der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Dort kann man sich auch über „Retter in Uniform“ informieren.

Die Helden der Humanität als moralisches Kapital unserer Gesellschaft

Hannah Arendt, die jüdische Gelehrte von Weltrang, saß 1961 während des Eichmann-Prozesses als Berichterstatterin für eine amerikanische Zeitung in Jerusalem im Gerichtssaal, als der Partisanenführer Abba Kovner über den Feldwebel Schmid berichtete. Sie reflektierte damals über die Frage: „… wie vollkommen anders alles heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr solche Geschichten zu erzählen gäbe.“

Was Hannah Arendt nicht wissen konnte: Feldwebel Schmid beschäftigte sich mit ganz ähnlichen Gedanken. Auch er dachte über die Frage nach, welchen Gang die Entwicklung hätte nehmen können, wenn es mehr anständige und mutige Christen wie ihn selbst gegeben hätte. Der jüdische Schriftsteller und Freund Anton Schmids, Hermann Adler, hat uns den ebenso naiv wie revolutionär klingenden Satz des Feldwebels überliefert: „Wenn jeder anständige Christ auch nur einen einzigen Juden zu retten versuchte, kämen unsere Parteiheinis mit ihrer Lösung der Judenfrage in verdammte Schwierigkeiten. Unsere Parteiheinis könnten ganz bestimmt nicht alle anständigen Christen aus dem Verkehr ziehen und ins Loch stecken.“

Arno Lustiger, der Historiker des jüdischen Widerstandes, sah in Feldwebel Anton Schmid einen der herausragenden „Helden des Widerstandes“ gegen den Holocaust. Nach seiner Überzeugung stellt Schmids Vermächtnis ein moralisches Kapital dar, dessen sich die deutsche und die österreichische Gesellschaft noch immer viel zu wenig bewusst geworden ist.

Der vormalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, nutzte seine Rede zum Feierlichen Gelöbnis von Rekruten der Bundeswehr am 20. Juli 2001 dazu, um ähnliche Erwägungen anzustellen. Er erinnerte nicht nur an den Offizierswiderstand des 20. Juli 1944, sondern auch an einen „anderen Widerstandskämpfer“. Er sagte: „Männer wie Anton Schmid sind die eigentlichen Helden der deutschen Militärgeschichte im vergangenen Jahrhundert. Denn sie wagten alles – um Anderer willen.“ Spiegel fügte hinzu: „Sie waren Menschen mit Mut und Zivilcourage, bereit, alles zu wagen und auch einem übermächtigen Bösen zu trotzen. Deshalb gehören sie nicht nur zur Vergangenheit Deutschlands, sondern auch zu unserer Zukunft.“

Ich komme zum Schluss: Anton Schmids militärischer Ungehorsam war eine unmittelbare Konsequenz seiner Humanität. Sie hatte für ihn größeres Gewicht als das mit härtesten Sanktionen behaftete militärische Regelsystem. Wir können Anton Schmid – und mit ihm die anderen widerständigen Retter in Uniform – als Männer ehren, die unter extremen Bedingungen – mitten im Krieg und Holocaust – als humane Menschen handelten und damit auch für die Gegenwart ein zivilgesellschaftliches Vorbild sein können. Sie lehren die heute und zukünftig lebenden Menschen, dass eine humane Orientierung die Leitlinie für das eigene Handeln sein muss, im Alltag wie unter schwierigeren Bedingungen.

Es war mir eine Freude und ein Anliegen, Ihnen die Retter in Uniform anlässlich des Gedenktages 20. Juli 2013 etwas näher bringen zu können. Ich danke Ihnen, dass Sie diesen Menschen Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben.