Vermächtnis ist der Sinn der Tat, nicht deren Ausgang

Josef Müller

Vermächtnis ist der Sinn der Tat, nicht deren Ausgang

Gedenkrede des bayerischen Ministers für Justiz a.D. Dr. Josef Müller am 20. Juli 1959 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Unserer Zeit mangelt es nicht an Gründen für ernstes Benehmen. Es fehlt uns auch nicht an Gelegenheit, dieser inneren Sammlung in Gemeinschaft mit anderen Menschen, in der Versammlung nachzugehen. Aber je größer das Getriebe der Festakte, Tagungen und Kongresse wird, desto geringer will mir der Nutzen erscheinen, den die Öffentlichkeit davon hat, in deren Namen und zu deren Wohle ja fast alles geschieht, was Versammlungen heute unternehmen.

Das liegt nicht nur daran, dass außerhalb der reinen Wissenschaft seltsamerweise keine Erfahrungen Anerkennung genießen, dass vielmehr jede Generation selbst alle Fehler wiederholen will. Das ist nicht der einzige Grund. Denkt man ein wenig über diese Entwicklung nach, dann wird man sehr bald auf eine noch merkwürdigere Zeiterscheinung stoßen. Man wird finden, dass sich fast alles, was heute in der Öffentlichkeit als Versammlung auftritt, nur mit einer der drei Säulen unserer Existenz befasst: Nur mit der Vergangenheit, nur mit der Gegenwart, nur – oder doch fast ausschließlich nur – mit der Zukunft. Dem entspricht dann auch jeweils die Art, in der die jeweilige Materie behandelt wird und der Personenkreis, der sich daran beteiligt.

Die Zukunft zum Beispiel wird technisch so verschlüsselt, dass sich der Laie mit der Rolle des willenlosen Mitläufers abzufinden beginnt, dem nur noch wenige Eingeweihte den richtigen Weg weisen können. Die Gegenwart andererseits wird immer mehr zu einem Routinegeschäft, das schon deshalb keine Anziehungskraft ausüben kann, weil die wenigen unmittelbar Beteiligten, weil sogar der winzig kleine innere Kreis jeder öffentlichen Institution der tödlichen Langeweile anheim zu fallen beginnt, denn die Geschäfte werden nur erledigt und es bleibt alles beim Alten. Die Angelegenheiten der Gegenwart interessieren meist nur dann einen größeren Kreis, wenn tüchtige Veranstalter ihre Diskussion mit einem attraktiven Programm moderner Zerstreuung verbinden.

Und wie steht es mit der Vergangenheit? Man braucht keine komplizierten Formeln, um sie zu erkennen, und sie ist alles andere als ein trockener Stoff. Trotzdem hatten wir, wenn wir in den letzten Jahren zusammenkamen um der Vergangenheit, ihrer Vorbilder und Opfer zu gedenken, fast immer das gleiche Bild: Wir waren unter uns. Die Redner sprachen zu Erfahrenen, nicht aber zu Menschen, die erfahren wollten. Hier standen Frauen und Männer, deren Gewissen bereits entschieden hatte, nicht aber jene, die sich sogar weigerten und bis heute weigern, zumindest ihr Wissen um das Geschehen jener Zeit zu vervollständigen. War das unvermeidbar, oder könnte das auch anders sein?

Ich glaube, eines ist sicher: Die Entscheidung dieses Tages war zu schwer, als dass sie innerhalb und außerhalb Deutschlands innerhalb kurzer Zeit allgemein verstanden werden konnte. Sie war zu kühn und zu wenig erfolgversprechend, um einer Zeit, die ihr Urteil so sehr von Resultaten abhängig macht, sinnvoll zu erscheinen. Außerdem hatte der Gegner, und zu diesen Gegnern zählt ja nicht nur die aktive, brutale Gewalt, sondern die viel weiter verbreitete Passivität, die dann nach dem allgemeinen Zusammenbruch viel tausendfach ihre frühere Haltung zu verteidigen sucht: Es ist ja viel schwerer, einen Gedanken zur Tat als zur Tatenlosigkeit reifen zu lassen.

Deshalb mussten wohl erst Jahre vergehen, in denen eine neue Generation herangewachsen ist, unbelastet von Taten oder Unterlassungen und unbelastet vom Kollektiv des kleingeschriebenen „man“. – Sie erinnern sich: „Man muss national sein; man darf sich doch nicht gegen die Partei und ihren Führer stellen.“ Dem Schicksal der neuen Generation galt auch vor allem das Opfer der Frauen und Männer, die an dieser Stelle und anderswo zum letzten Versuch eines Widerstandes gegen die Barbarei aufgestanden sind. Ihr Vermächtnis enthält mehr, als das Geschehen des Tages, an dem sich ihr Schicksal erfüllte, und es wirkt weit über diesen Tag hinaus. Das zu erkennen und danach zu handeln, ist unsere Verpflichtung...

Meine Damen und Herren, wir vereinigen uns seit Jahren an diesem Tage hier und anderswo, obwohl keiner von uns des Termines bedarf, des Anlasses zur Erinnerung an die Schrecken, an den drohenden Strang, an die unbarmherzige Vernichtung des Lebens. Unser ganzes Denken ist geprägt und erfüllt von diesem Erlebnis. Wir sind auch kein Club oder Veteranenverein. Wir sind nicht deshalb immer wieder hier, weil wir noch da sind. Aber: Solange wir da sind, entbindet uns nichts von dieser Pflicht, das Vermächtnis des anderen Deutschland der vergangenen Zeit an das heutige Deutschland weiterzugeben.

Was ist, worin besteht dieses Vermächtnis? Wir können diese Frage klar beantworten, nicht nur wir, die wir hier versammelt sind, und aus eigener Anschauung oder Beteiligung Auskunft geben könnten, sondern jeder kann das tun, der die zahlreichen überlieferten Zeugnisse kennt.

Vermächtnis ist der Sinn der Tat, nicht deren Ausgang – selbst wenn er günstig gewesen wäre – und nicht deren religiöser oder philosophischer Vorbereitungsprozess, denn dessen Gebote und Argumente sind in den viel älteren Quellen aufzufinden. Die Tat, um deren Sinn es hier geht, hat auch nicht am 20. Juli 1944, sondern schon viel früher, in den Jahren des äußeren Aufstieges des Reiches begonnen. Sinn des Aufstandes gegen die Gewalt und ihre auf die Seelen der Menschen ausgedehnte Herrschaft war, den verletzten Geboten der Menschheit und Menschlichkeit unbedingt, auch unter Verzicht auf äußeren Erfolg, wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Erst der Krieg, dessen verbrecherische und oft auch dilettantische Führung gaben der Tat noch einen zweiten, ich möchte sagen realen Sinn. Die Rettung der Nation vor und aus dem staatlichen Untergang.

Wer diesen, vor allem den ideellen Sinn der Tat richtig begreift, kann nicht rückwärts gerichteten Blickes in der Pflege einer Art Gedenktags-Tradition erstarren. Er kann nicht einmal hoffen, dass er das Vermächtnis erfüllt, wenn er nur dem Namen und dem Wirken jener Männer des Widerstandes die Ehre erweist, die sie für ihre Tat und für ihre Zeit verdienen. Denn sie hatten ja für sich selbst gar nichts gewollt und auch der Nachruhm wäre ihnen nebensächlich gewesen. Wer den Sinn der Tat richtig versteht, der erkennt darin die Aufforderung, gültig für jede Zeit und jede Generation, allen Versuchen der Vergewaltigung menschlichen Geistes und menschlicher Natur mit allen verfügbaren Mitteln entgegenzutreten.

Ich sage das, obwohl ich weiß, dass es heute als zweideutig, ja sogar als unmoralisch, zumindest aber als anachronistisch gilt, im Zusammenhang mit der Vergewaltigung menschlichen Geistes und menschlicher Natur von der ultima ratio des Widerstandes zu sprechen. Der Anachronismus ist nur scheinbar; die Kompliziertheit unserer politischen Gegenwart spiegelt ihn vor, die Problematik ist im Wesen dieselbe geblieben.

Ich muss daran erinnern, dass die Männer, deren Motiven und Tat unser Denken gilt, auch und besonders die Auseinandersetzung mit Waffengewalt für eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit hielten. Den Frieden zu erhalten, und, nachdem er leichtfertig gebrochen war, ihn wieder herzustellen war eines unserer zentralen Ziele. Wir haben geprüft und gewogen, vielleicht sogar zu lange, aber immer in dem Bemühen, keinem Irrtum zu unterliegen: nicht dem Irrtum einer falschen Information, vor allem aber nicht einem der merkwürdigsten Irrtümer unserer Zeit. Ich meine die Gefahr, die dem Manne droht, der zwar über Information verfügt, diese dann aber in Propaganda umgemünzt wiederfindet; ich meine die Gefahr, Gefangener der eigenen Propaganda zu werden. Wer wollte behaupten, diese Gefahr sei gebannt, wenn wir hören, wie sehr der Wunsch zur Freiheit und die Sehnsucht nach Frieden für die gerade diese Stätte und diese Stadt beispielhaft sind, verkannt und missachtet werden.

Das Problem der Männer des 20. Juli ist auch das unsrige: Wo liegt die Grenze, deren Verletzung nicht geduldet werden darf; nicht geduldet aber nur von denen, die sich aufgefordert fühlen. Der Sinn des 20. Juli ist ein Aufruf, kein Marschbefehl. Die Entscheidung ist dem Einzelnen überlassen. Deshalb gilt dieser Aufruf nach wie vor und es bleibt das Beispiel derer, die als letztes ihr Leben gefährdet, und derer, die es im Bewusstsein des Opfers für Freiheit und Frieden gegeben haben.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, am Sinn der Tat, derer wir hier gedenken, haben auch die Dimensionen der Gegenwart nichts ändern können. Im Gegenteil! Man braucht das Argument nicht zu scheuen, mit dem ich mich soeben befasst habe – das Gewissen ist auch im Zeitalter der Kernzertrümmerung kein menschliches Rudiment – aber es gibt näherliegende Gefahren als den Ausbruch eines bewaffneten Konfliktes.

Wir leben nicht nur im Zeitalter der Technik, sondern in einem Jahrhundert, das uns die Erkenntnis aufdrängt, dass Technik an sich etwas Totalitäres ist und keine Halbheiten duldet. Überall dort, wo die Technik noch ungenügenden Nutzen für den vermeintlichen Herrn der Technik, den Menschen, erbringt, hat in Wahrheit nicht die Technik versagt, sondern der Mensch, teils weil er nicht maschinell reagieren kann, teils weil er nicht willens oder fähig war, sich selbst als Fehlerquelle auszuschalten. Das beginnt im Kleinen und im Alltag, wo es endet, ist noch nicht abzusehen.

Ich darf Sie daran erinnern, dass sich ernsthafte Wissenschaft mit der Frage befasst, inwieweit sich denkende Maschinen, deren kalkulatorische Fähigkeit die der Menschen viel tausendfach übertrifft, den Menschen selbst dienstbar machen könnten. Andere Zweige der Forschung haben Möglichkeiten entdeckt, das Individuum biologisch umzugestalten. Drogen ändern jetzt schon die Stimmungen des Gemütes. Mit Hilfe von Elektroden kann man ganze Befehlszentren des Gehirnes von außen dirigieren. Mit Hilfe von Strahlen schließlich korrigiert man schon heute den Schöpfungsprozess. Diese wenigen Beispiele aus den Bereichen der modernen Wissenschaft ließen sich ohne Mühe vermehren.

Ist nicht auch hier die Frage angebracht: „Wo liegt die Grenze des Erlaubten, des vom Schöpfer gewollten?“ Taucht nicht auch hier die alte und immer wieder neue Frage auf: Was ist von all dem gewollt, unausweichlich, vom selben Schöpfer gegeben, den zu korrigieren man so starke Anstrengungen unternimmt, und was ist Frevel, dem die Menschen, sofern sie nicht Fatalisten sind, entgegentreten müssen? Ist das noch Vervollkommnung des Menschen oder ist es Vergewaltigung, wenn der Mensch im Bemühen, Herr aller Dinge zu sein, im Begriff steht, den Dingen die Herrschaft abzutreten?

Gerade wir, die hier versammelt sind, sollten nicht den Fehler machen, zu dem der historische Anlass vielleicht verführt, nämlich die mutmaßliche Gefahr nur dort zu suchen, wo politische Entscheidungen fallen. Die Gefahr ist überall da, wo Menschen vom Menschen das Recht streitig gemacht wird, nach den Gesetzen einer höheren Ordnung und seiner eigenen Natur zu leben. Es ist gleichgültig, welcher Mittel sich der Usurpator dabei bedient. Politik und Technik sind letzten Endes nur unterschiedliche Methoden. Es ist auch gleichgültig, ob der Betroffene dazu ja sagt oder nicht. Den Beweis für den Wert eines plebiszitären „Ja” ist uns die Abstimmungsmaschinerie schon bei viel einfacheren Fragen als denen der modernen Technik schuldig geblieben; allein die Persönlichkeit, die ihre Entscheidung an dem von Gott gesetzten Gewissen misst, wird Mut und Kraft gegen eine Diktatur der Politik und der Technik setzen.

Die Männer, deren Tat uns hier vereint, waren eine Minderheit, und wir, die ihr Vermächtnis bewahren und erfüllen wollen, sind lange Zeit eine Minderheit geblieben; hoffen wir, dass wir es heute nicht mehr sind!

Die opportunistische Anerkennung ohne Überzeugung, die eine gelungene Revolution meist mit sich bringt, ist dem verlorenen Aufstand erspart geblieben. Es war in den vergangenen Jahren oft schmerzhaft zu beobachten, wie das Motiv verdächtigt, die Tat verfälscht und das Opfer verkleinert wurde, aber diese Jahre waren nicht vergebens. Die Anerkennung kommt spät, aber sie kommt aus Überzeugung, nicht aus Erwägungen der Zweckmäßigkeit. Die verlorene Zeit wird vom Wert der Überzeugung aufgewogen. Der jungen Generation, die in diesen Tagen aufgerufen worden ist, das Vermächtnis der Männer des 20.Juli im ganzen Deutschland zu wahren, bietet sich täglich Gelegenheit, zu beweisen, ob sie den Sinn der Tat verstanden hat und willens ist, danach zu handeln.

Unserer deutschen Jugend, den jungen Menschen hier und dort, ist es anheim gestellt zu entscheiden, ob der Widerstand gegen Willkür und Gewalt, ob der 20. Juli Vergangenheit bleibt, oder aus ernster Gegenwart in eine würdige Zukunft weist.

Das ist der Sinn und Aufforderung dieses Aufstandes des Gewissens gegen die Gewalt, Sinn und Aufforderung des 20. Juli.






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20.07.1959
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