"Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?"

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Meyer

„Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“

Ansprache von Pater Dr. Karl Meyer OP am 20. Juli 2004 im Vespergottesdienst in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Lesung: (Mt 12, 46 - 50)

Als Jesus mit den Leuten redete, standen seine Mutter und seine Brüder vor dem Haus und wollten mit ihm sprechen. Da sagte jemand zu ihm: Deine Mutter und Deine Brüder stehen draußen und wollen mit Dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.

Diese Geschichte ist uns in der katholischen Liturgie für diesen Tag vorgegeben. Schauen wir, was der Herr uns damit sagen will!

Das ist eine unerhört kritische Anfrage an die Familie. Die Familie ist ein außerordentlicher hoher Wert. Aber wenn sie gerade wegen ihres hohen Wertes zum ultimativen Wertekriterium gemacht wird, dann schreitet Jesus ein.

Er kennt die Familie und schätzt Vater und Mutter hoch. Aber er entstammt einer geheimnisvolleren Gemeinschaft. Die Herkunft vom Vater im Himmel ist für ihn viel existentieller, und des Vaters Wille, der nichts als Liebe ist, ist vorrangig.

Jesus unterstellt, wenn man so will, das vierte Gebot dem ersten Gebot. Er integriert seine Herkunftsfamilie in die größere Familie Gottes. Die Familie der Menschen hat ihren eigentlichen Platz in der Familie Gottes.

Das ist für Matthäus, dem die Erinnerung an dieses Wort Jesu entstammt, wichtig. Das sehen wir auch an anderer Stelle: Matthäus hat eine sogenannte Kindheitsgeschichte Jesu. In dieser zeigt er: Die Eltern Jesu, das ist kein naturhaftes Bündnis nach menschlicher Ordnung und menschlichem Gesetz, sondern ein Bündnis zweier tief Glaubender, um Gott in der Welt eine außerordentliche Chance zu geben.

Herkunft ist wichtig, aber der Stammbaum Jesu ist ein Stammbaum des durch Berg und Tal, durch Gelingen und Scheitern geläuterten Glaubens an Gottes Zukunft, das Werden (Genesis) des Sohnes Gottes im Raum des Glaubens.

Lukas, der Evangelist mit der anderen Kindheitsgeschichte, unterstreicht das Evangelium von der wahren Familie Jesu (Bruder, Schwester, Mutter) durch die Rede von der wahren Mutterschaft: Als jemand begeistert ausruft „Selig der Leib, der dich trug, und die Brüste, an denen du sogst“, und damit an seine Herkunft aus einer begabten und begnadeten Mutter und Familie erinnern will, da antwortet Jesus: „Ja, selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen.“ (Lk 11,27f) Er hat Herkunft, aber seine Mutter, die ist wesentlich Fähigkeit zum Gehorsam.

Deswegen erzählt uns Johannes als Abschluss der Geschichte der Hochzeit zu Kana, zu der Jesus mit seinen Jüngern zusätzlich zu seiner Mutter eingeladen war: „Darauf zog Jesus mit seiner Mutter und seinen Brüdern und seinen Jüngern hinab nach Kapernaum.“

Jesus ist nun der Herr, der das Ziel bestimmt, Maria ist die erste Jüngerin, und sie wird am Ende des Weges unter dem Kreuz stehen. Jesus wird am Kreuz vollendet sein als der treue Zeuge, er zeugt die Söhne und Töchter Gottes durch das Wort des Evangeliums.

Maria, die unter dem Kreuz steht, leidet mit gemäß dem Wort des Simeon: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Solch ein inniges Mitleiden ist dem Leiden ebenbürtig. Aber auch hier ist nicht entscheidend die natürliche Seite: der tiefe Schmerz, der die Mütter im Leiden ihrer Kinder trifft. Der ist die Grundlage.

Ihre compassio aus Gnade wird gekrönt durch den festen Glauben an die Zukunft Gottes. So ist sie Regina martyrum – die Königin der Zeugen.

In diesem Glauben empfängt sie Johannes als Sohn. Sie bietet den Mutterschoß für die Menschen, damit sie als Glaubende Gestalt gewinnen können.

Das ist ein Urbild. In dieses Urbild dürfen durch den Geist Gottes immer wieder Menschen eintreten. Nicht selten ist es in der Geschichte so, dass geistige Auseinandersetzungen wenigstens von einer Seite als Machtkämpfe begriffen werden. In den Machtkämpfen werden die Männer von Männern umgebracht. Der Raum der Zukunft eines Volkes wird demgegenüber zerstört, indem die Frauen vergewaltigt werden. Der Raum, in dem Zukunft Gestalt gewinnen kann, wird vernichtet.

Um den 20. Juli herum sind es hauptsächlich die Männer, die als vermutete Usurpatoren, als Konkurrenten um die Macht beseitigt werden. Sie offenbaren sich dann machtlos sterbend als Zeugen der Macht Gottes.

Die Frauen der Widerstandskämpfer haben manchmal wissend manchmal ahnend den Raum des Lebens offen gehalten und ihre Männer zur Mannhaftigkeit bestärkt. Freya von Moltke hat gestern gesagt: „Die Männer hatten Glück mit ihren Frauen.“ Nach den Verhaftungen stehen sie dabei im Mitleiden. Sie stehen nach deren Ermordung jahrelang da als Zeuginnen für die Wahrheit und Güte der Männer gegen eine auch nach dem Krieg ablehnende Umgebung. Das gilt auf andere Weise auch für die Mütter oder die Töchter. Sie öffnen so den Raum für die Zukunft der Kinder, der nächsten Generation, sehr häufig im tiefen Glauben an Gottes Zukunft durch Jesus Christus. Wie zum Symbol bringt Nina Gräfin Stauffenberg im Gefängnis ihre und ihres Mannes jüngste Tochter Constantia zur Welt. Die Standhaftigkeit (constantia) des Vaters ist in der Mutter zur Gestalt geworden, Constantia – jetzt hier unter uns – ist selbst schon lange Mutter von vier Kindern. Und wir erinnern uns an die bewegenden Lebensgeschichten der anderen Ehefrauen.

Meistens feiern wir die Vesper am 20. Juli in der Krypta von Regina Martyrum. Unter der großen Kirche wie im Mutterschoß, wie in der Höhle am Karmel, aus der Elia zur Gotteserfahrung heraustreten konnte, besinnen wir uns nach den Geschehnissen des Gedenktages, tauschen uns dann aus im ruhigen Gespräch. Heute am 60. Jahrestag tritt die Gestalt des Zeugnisses in die Öffentlichkeit, wir sind damit in der Oberkirche.

Möge in besonderer Weise der Karmel in Berlin ein mütterlicher Raum bleiben, in dem durch lebendige Erinnerung Mitleiden, Mitglauben und Mitauferstehung mit Jesus Christus immer wieder neu geschehen und Gestalt finden.

Wenn Mutterschaft auch den Frauen auf den Leib geschrieben ist, so sind wir Männer doch nicht ausgeschlossen. Auch bei uns gibt es Mutterschaft im Glauben. Paulus nennt die Christen in Galatien seine Kinder, für die er von neuem Geburtswehen erleidet, bis Christus in ihnen Gestalt annimmt. Wo wir Raum bieten, in dem sich die neue Gestalt des Glaubens entwickelt, leben wir das Gleichnis der Mutterschaft.

So gilt das Wort des Herrn für uns alle, die wir hier sind. Jede und jeder soll auf ihre bzw. seine Weise Raum geben, dass die neue Gestalt des Glaubens in Menschen wachsen kann. Das ist heute notwendig. Dann sind wir für Jesus Bruder und Schwester und Mutter.

Amen.