Widerstehet tapfer im Glauben!

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Dr. Julius Kardinal Döpfner

Widerstehet tapfer im Glauben!

Predigt Sr. Eminenz Dr. Julius Kardinal Döpfner am 20. Juli 1964 in der Kirche Regina Martyrum, Berlin

In dieser Stunde, da wir hier in der Gedächtniskirche Regina Martyrum, nahe der Hinrichtungsstätte von Plötzensee das Gedächtnisopfer des Todes Christi feiern, sollen unsere Gedanken zum 20. Juli ganz aus der Fülle dieser Messfeier vom kostbaren Blute Christi wachsen.

Zunächst lassen wir uns den ersten Satz des eben gehörten Evangeliums widerklingen: „In jener Zeit sprach Jesus, als er den Essig genommen hatte: es ist vollbracht. Da neigte er sein Haupt und gab seinen Geist auf“ (Joh. 19, 30).

Was soll diese Bekundung der Vollendung, des guten Abschlusses? Ist dieser gewaltsame Tod am Verbrecherholz nicht ein sinnloses Sterben, Zerstörung des Lebenswerkes statt Vollendung? Christus war zu sehr Mensch, um dies nicht zu empfinden. In der Angst der Ölbergstunden „wurde sein Schweiß wie Blutstropfen, die auf die Erde niederrannen“ (Luk. 22, 44). Die Qual des Kreuzessterbens trieb ihm das Psalmwort auf die Lippen: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27, 46).

Und doch, all seine Sendung, sein Lehren und Wirken fanden hier am Kreuz Mitte und Vollendung. Geheimnis der Erlösung! Zerstörende Bosheit obsiegt für den äußeren Augenschein und wird nach Gottes Ratschluss zum Triumph erlösender Gnade und Liebe. In der Lesung und in der Introitus-Antiphon hörten wir von der erlösenden Kraft des Blutes Christi: „Herr, du hast uns mit deinem Blute erkauft“ (Offbg. 5, 9).

Und die Opfer des 20. Juli 1944? Es sei hier nicht näher erläutert, dass das Ziel ihres Widerstandes und ihrer kühnen Pläne ein Deutschland in Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde war. Nur dies sei ausdrücklich ausgesprochen: Was sie planten und taten, war kein leichtfertiges Spiel, sondern ein aus hart erkämpfter Gewissensentscheidung gefasster Entschluss. Sie waren keine Eidesbrecher und keine Landesverräter. Aus tiefer Liebe zu Volk und Vaterland rangen sie sich durch zum aktiven Widerstand gegen die damaligen Machthaber.

Der aber misslang. Ist nun ihr Tod der tragische Untergang von Gescheiterten? Ohne billigen Überschwang kann gesagt werden: Ihr Sterben ist zu sehen in seiner Nähe zum Sterben Christi. Es sind uns ergreifende Zeugnisse überliefert, die sich wie altchristliche Märtyrerakten lesen. Des Oberst Stauffenbergs letztes Wort vor seiner Hinrichtung „Es lebe das heilige Deutschland“ findet Interpretation in dem Wort von Pater Delp: „Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Und der tiefgläubige evangelische Christ Peter Graf York von Wartenburg schreibt in seinem Abschiedsbrief an die Mutter: „Mein Tod, er wird hoffentlich angenommen als Sühneopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen ... auch für meinen Teil sterbe ich den Tod fürs Vaterland.“ Im Nachhall des Herrenwortes, das wir vorhin im Evangelium hörten, schreibt Graf Moltke in dem wunderbar gläubigen Abschiedsbrief an seine Frau: „Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt.“

So war ihr Sterben ein Sterben aus dem Glauben an den Gekreuzigten Opfertod und das Wort, das bereits in jenen Tagen grausamer Hinschlachtung geprägt wurde: „Martyrer für das andere Deutschland“ ist keine pathetische Übertreibung, sondern eine sachgerechte Aussage.

So stehen wir ehrfürchtig dankend vor solchem Tod. Wenn der Herr stets die Seinen zum Kreuzweg ruft, dann haben die Männer des 20. Juli und viele Opfer des Nationalsozialismus dies in unserer Zeit bis zur letzten Konsequenz vorgelebt. So wird uns bei dieser Gedächtnisfeier bewusst: Es gibt kein wahrhaft christliches Leben, das nicht zum Sterben, zum liebenden, stellvertretenden Sterben bereit ist. Königin der Martyrer und ihr Martyrer alle, bittet für uns, dass wir diese Berufung erfassen!

Wir setzen noch einmal im Evangelium an. Wir hörten gegen Ende: „Einer von den Soldaten öffnete mit einer Lanze seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus“ (Joh. 19, 34). Blut und Wasser sind an sich Bezeugung des erfolgten Todes, im Bericht des Evangeliums aber sollen sie Zeichen kommenden Lebens sein; Hinweis auf die Kirche, die aus Christi Seite hervorging. Gemäß altehrwürdigem Verständnis weist das Wasser hin auf die Taufe, das Sakrament des neuen Lebens, und das Blut auf die Eucharistie, die dieses Lebens Speisung ist.

Auch hier legt sich der vergleichende Schritt zu den Opfern des 20. Juli nahe. Die Martyrer für das andere Deutschland leben und wirken. Wie vieles ließe sich nun bedenken! In drei Heilsgaben des Neuen Testaments, die für uns wesentlich Aufgaben sind – auch inmitten unseres Volkes, fassen wir das Vermächtnis ihres Opfertodes.

Das erste ist der Glaube, das Hinhören auf Gott, das Bekenntnis zu Gott, die Hingabe an Ihn. Auch hier mag uns P. Delp verdeutlichen, um was es geht. In seiner Gefängniszelle in Tegel entwarf er im Winter 1944/45 ein Erziehungsprogramm für die Zukunft, für die Zeit eines „theonomen Humanismus“, einer gottverwurzelten Menschlichkeit. Er schreibt: »Es geht nicht ohne ein Minimum von Transzendenz. Der Geist, der Mensch muss über sich selbst hinauswollen, wenn er überhaupt Mensch bleiben will.« Auch jene, die sich damals nicht aus ausgesprochen christlicher Glaubenshaltung zum Widerstand entschlossen, standen unter dem fordernden Anspruch höherer, gültiger Werte, die eben nicht so innerweltlich sind, wie etwa Volk, Partei, Kollektiv, dass sie willkürlich manipuliert werden können. Wir Christen freilich können uns nicht mit einem Minimum an Transzendenz begnügen; uns ist es gegeben, aus der ganzen Fülle eines lebendigen Glaubens an Gott den Vater und seinen Sohn Jesus Christus zu leben. Auch das hat P. Delp in dem ergreifenden Abschiedsbrief an sein Patenkind Alfred Sebastian für sein eigenes Leben so ausgedrückt: „Das war der Sinn, den ich meinem Leben setzte, besser, der ihm gesetzt wurde: Die Rühmung und Anbetung Gottes vermehren.“ Und wenige Sätze danach gibt er für diese grundlegende Zielsetzung die Begründung: „Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende, ist Mensch und ist frei und lebensfähig.“ Dabei ist uns aufgetragen, unseren Glauben, unsere Daseinsverwurzelung in Gott so liebenswert und glaubhaft darzustellen, dass der Weg zu Andersglaubenden und Andersdenkenden und der von ihnen zu uns offen bleibt. Damals fanden sich evangelische und katholische Christen zusammen, es standen zueinander Politiker der Rechten und der Linken, Adelige und Bürgerliche, Intellektuelle und Arbeiterführer. Das „Minimum an Transzendenz“, wie Delp es nennt, hielt sie zusammen.

Als zweites möchte ich die Freiheit nennen. Freilich nicht unmittelbar in politischer Bedeutung, sondern im biblischen Sinn als die Freiheit, die Christus schenkt: die Befreiung von der Sünde, von Tod, von der Knechtung an die „Naturmächte der Welt“ (Kol. 2, 20). Doch wie bedeutsam wird solche Freiheit für das Leben des Christen in Volk, Staat und Gesellschaft! Wer von den verschiedenartigen Mächten des Bösen innerlich frei ist, der kann durch die totalitäre Ordnung eines Staates nicht innerlich verbogen werden. Selbst wenn er die Ausnahmemöglichkeit eines aktiven Widerstandes nicht wahrnehmen kann und darf, so steht doch sein ganzes Leben unter dem Schriftwort: „Widerstehet tapfer im Glauben!“ (I. Petr. 5, 9). Möge solch stilles, tapferes Durchhalten vielen unserer Brüder und Schwestern jenseits der nahen Mauer geschenkt sein! Aber wir alle brauchen diese Freiheit, auch in einer strukturell vorhandenen und redlich gemeinten freien Staats- und Gesellschaftsordnung. Auch hier gibt es der tyrannisierenden Mächte mehr, als wir oft meinen: die Tyrannis der öffentlichen Meinung, der schwer kontrollierbare Druck von herrschenden Parteien und rücksichtslosen Interessengruppen, der Sog eines dumpfen Massendenkens. Der innere Widerstand gegen jede Form der Tyrannei und Versklavung in unserer Gesellschaft ist ein bleibendes Vermächtnis des 20. Juli.

Als Letztes sei der Dienst genannt. „Dienet einander in Liebe!“ (Gal. 5, 13) – das nennt Paulus als Folgerung aus der recht verstandenen Freiheit Christi. Der Dienst an Volk, Staat und Gesellschaft fließt als gebieterische Pflicht aus der Freiheit, von der wir eben sprachen. Im Grundgesetz unseres Staates sind deutlich manche Elemente spürbar, die damals Ideale und Ziele des Widerstandes waren. Verfassungssätze und Gesellschaftsideale sind aber kraftlos, wenn sie nicht im verantwortungsvollen Dienst der Bürger Gestalt annehmen. Die Wurzeln unseres jetzigen Gemeinwesens sind von Opferblut getränkt. Das verpflichtet uns, dass wir an dem Platz, an dem wir stehen, Verantwortung mittragen, dass wir uns einsetzen, phrasenlos und selbstverständlich. Es besteht kein Anlass zu Pessimismus für unsere staatliche und gesellschaftliche Ordnung, aber Sorgen sind berechtigt. Darum muss uns der Gedenktag des 20. Juli jedes Jahr neu mahnen, solchen Anfang nicht zu vergessen. Selbst dort, wo Menschen unseres Volkes die staatliche Ordnung nicht mitgestalten dürfen, mögen sie um so treuer, um so glühender den Mitmenschen dienen, die gerade in solch harter Umweltsituation des brüderlichen Dienstes um so mehr bedürfen.

Doch nun lasst uns an den Altar zurückkehren. Alles dankbare, frohe und schmerzliche Gedenken – auch die ehrfürchtige Verbundenheit mit den Angehörigen – sei in des Gekreuzigten Liebe hineingesenkt. Lasst uns opfern und beten für unser Volk, für das Wohlergehen und die Freiheit aller Völker. Uns selbst aber wollen wir die Gnade erbitten, dass wir treu befunden werden in einem liebenden Dienst, der zum Letzten bereit ist und im Kleinen sich bewährt. Amen.