Abrahams Bitten

Odilo Braun

Abrahams Bitten

Predigt von Pater Odilo Braun am 20. Juli 1978 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine Freunde,

vor einigen Wochen durften wir in der Liturgie wieder ein Stück aus dem 18. Kapitel der Genesis lesen und hören. Es war der Bericht über Abrahams Bitte an Jahwe, er möge Seinen Entschluss, Sodom und Gomorrha auszulöschen, nicht ausführen.

Es ist rührend, mit welchem Eifer Abraham für die Bewohner der vom Untergang bedrohten Städte sich einsetzt. „Willst Du wirklich den Gerechten mit dem Frevler verderben? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt. Willst Du sie wirklich verderben und nicht lieber dem Ort um der fünfzig Gerechten willen, die dort wohnen, vergeben? Ferne sei es von Dir so zu tun, den Gerechten mit dem Frevler zu töten, so dass es dem Gerechten wie dem Frevler erginge. Das sei ferne von Dir! Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Gerechtigkeit üben?“ Da sprach Jahwe: „Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.“ Abraham antwortete und sprach: „Ich habe mich nun einmal unterfangen, zu meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten noch fünf. Wirst Du wegen der fünf die ganze Stadt verderben?“ Er sprach: „Ich werde nicht verderben, wenn ich dort nur fünfundvierzig Gerechte finde.“ Darauf fuhr er fort zu Ihm zu reden und sprach: „Vielleicht finde ich dort nur vierzig.“ Und Er sprach: „Ich werde es auch um der vierzig willen nicht tun.“ Da sagte er: „Zürne nicht, Herr, wenn ich nochmals rede! Vielleicht finden sich dort nur dreißig.“ Er antwortete: „Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde.“ Da sagte er: „Siehe, ich habe mich nun einmal unterfangen, zu meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort nur zwanzig.“ Jahwe sprach: „Ich werde um der zwanzig willen die Stadt nicht verderben.“ Darauf sagte er: „Zürne mir nicht, Herr, wenn ich nur noch dieses eine Mal rede, vielleicht finden sich dort nur zehn.“ Jahwe sprach: „Ich werde auch um der zehn willen nicht verderben.“

Der heilige Gott ist bereit, eine Stadt zu schonen und sich ihrer Einwohner zu erbarmen, wenn nur zehn Menschen in ihr leben, die gut und gerecht sind. Das saubere, ehrliche, gerechte und von Liebe erfüllte Leben von nur zehn Einwohnern will Gott annehmen als Sühne für die schwere Sündenlast der Bewohner einer Stadt. Immer öfter habe ich in den letzten Jahren das Buch der Bücher aufgeschlagen, um diesen Bericht von dem Gespräch Abrahams mit seinem Gott zu lesen, um darin Hoffnung und Zuversicht zu finden, wenn mir bange wurde um das Schicksal unseres Volkes, ja der ganzen Menschheit. Zu viel an Gottlosigkeit und daraus hervorgegangenen Bosheiten und Untaten sind im Leben der Völker zutage getreten.

In meinen Zimmer bewahre ich fünf Bild- und Textstreifen auf. Sie stellen dar die Köpfe von fünf Menschen und den aufgeschriebenen Text von Worten, die sie in entscheidungsvollen Augenblicken ihres Lebens gesprochen haben. Als erster Charles Foucauld, der französische Offizier, der seine Laufbahn aufgab und der Wüstenheiliger geworden ist. Ihm folgt meine große heilige Schwester, Katharina von Siena, die in schweren und entscheidungsvollen Phasen von Papsttum und Kirche freimütig auftrat und vieles zum Guten wendete. Ihr folgt Mutter Theresa, die sich, von selbstloser Liebe getrieben, der Hungernden und Dahinsiechenden in den indischen Slums annimmt. Ihr folgt Papst Johannes XIII. Seine Worte will ich hier aussprechen: „Wenn man einmal, ohne an sich selbst zu denken, lebt, den Egoismus immer unter den Absatz der Schuhe bringt und allein auf der Suche nach dem Willen des Herrn ist, dann wird alles leicht.“ Der letzte Bildstreifen zeigt den Kopf von Sophie Scholl. Ergriffen muss man auf das Antlitz dieses jungen Mädchens schauen, das, fast noch ein Kind, doch so viel Festigkeit und Kraft ausstrahlt. Sie hat, bevor sie den Schergen Hitlers zum Opfer fiel, gesagt: „ich kann es nicht verstehen, dass heute ‚fromme’ Leute fürchten um die Existenz Gottes, weil die Menschen Seine Spuren mit Schwert und schändlichen Taten verfolgen. Als habe Gott nicht die Macht.“ Und dann angesichts des Todes: „Ich spüre, wie alles in Seiner Hand liegt.“

Mit welcher Genugtuung und Freude würde Abraham auf diese fünf Heiligen hinweisen, wenn es darum ginge, das Erbarmen Gottes für eine in Sünden verstrickte Menschheit zu erbitten. Ich hatte diese Bildstreifen, die aus Platzmangel übereinander hängen müssen, täglich ausgetauscht, so dass am Morgen mich immer wieder der Kopf einer anderen grüßte. Wie einem inneren Zwange folgend, habe ich in den letzten Wochen es nicht fertig bekommen, den Bildstreifen mit dem Kopf und den Worten von Sophie Scholl gegen einen anderen einzutauschen, so dass nun seit Wochen mein erster Blick am Morgen auf sie fallen muss. Und sie gehört zu den Männern und Frauen, zu der Gemeinschaft der Märtyrer, derer wir heute in tiefer Dankbarkeit und voller Ehrfurcht gedenken. Einigen von ihnen durfte ich, bevor sie ihren letzten Weg gingen, priesterlichen Beistand leisten und darum darf ich es heute verkünden und werde es immer wieder tun: wie sie in den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens über alles Menschliche, oft allzu Menschliche, hinausgewachsen sind. Da gab es nicht mehr Ehrgeiz und Überheblichkeit, suchen von Ruhm und Ehre, keinen Neid, keine Missgunst – nichts von alledem, womit Menschen im Beruf und Alltagsleben sich herumschlagen müssen, dabei sich und anderen das Leben erschweren und dabei ein Hindernis sein können auf dem Weg zur ganzen und vollen Hingabe in den Willen Gottes. Mag dieser Weg auch noch so hart und dornenvoll sein.

Ich bin wohl der letzte noch lebende Priester, der einigen aus unseren Reihen als Priester und Freund zur Seite stehen durfte. Aus diesem Erleben schöpfe ich immer wieder Trost und die Hoffnung, dass es unserem Volk gelingen könnte, aus allen äußeren Gefährnissen und innerer sündhafter Verstrickung herauszufinden. Wir, die wir hier versammelt sind, sind und waren nicht nur ihre Lebens-, Opfer- und Leidensgefährten. Auf unsern Schultern und in unseren Herzen liegt das schwere Amt eines Testamentsvollstreckers. In ihm liegt die Pflicht und Aufgabe, unserer Toten Größe und Erhabenheit, ihre absolute Selbstlosigkeit und ihre ganze und volle Hingabe in den Willen des heiligen Gottes zu bewahren und weiterzureichen. Jeder von uns weiß um seine Schwächen, um seine Armseligkeit und Hilfsbedürftigkeit. Darum sind wir so voller Dank dafür, dass der menschgewordene Gottessohn selbst hinabsteigt in unsere Gemeinschaft, mitten unter uns Sein großes Erlösungsopfer erneuert und Sich uns schenkt in der heiligen Kommunion, so dass wir mit Sophie Scholl sprechen dürfen: „Ich spüre, wie alles in seiner Hand liegt.“

Vor zwei Wochen bin ich von einer Reise durch Polen zurückgekehrt. Zum ersten Mal nach 34 Jahren habe ich meine Heimat, auch die Stätte, an der ich zur Welt gekommen bin, wiedersehen dürfen. Aber das größte Erlebnis war, zu sehen, wie in den polnischen Städten auch an Wochentagen die Kirchen gefüllt waren mit Gläubigen, darunter auch viele junge Menschen, die bis auf die Straße hinaus standen, wenn das heilige Messopfer dargebracht wurde. Ein Volk, das in seiner Geschichte viel Schweres durchgemacht hat, ist sich bewusst geworden und will, allen Widerständen zum Trotz, aus diesem Wissen, dass im Grunde alles in Gottes Hand liegt, sein Leben neu aufbauen und gestalten. In einem Hotel begegnete mir ein Ehepaar aus Ostberlin. Sie hörten meine Unterhaltung mit einem Engländer und baten mich dann, auch ihnen etwas Zeit zu schenken. Ich machte kein Hehl daraus, ihnen zu sagen, wer und was ich bin und war dann sehr überrascht, als der Mann mir mit starker Betonung erklärte: „Wir sind nicht katholisch, aber in diesen acht Tagen des Aufenthalts in Polen ist uns aufgegangen, dass allein das betende Polen Europa vor dem Sturz in ein unheimliches Chaos bewahrt hat.“

Wer Ohren hat zu hören, der höre! Wenn bei uns und in der ganzen Welt die Bekenner und Beter versagen, dann werden wieder Märtyrer gefordert.

Amen.