An das Vermächtnis erinnern, das es zu erfüllen gilt
Gedenkstaette Deutscher Widerstand
Carl-Heinz Evers
An das Vermaechtnis erinnern, das es zu erfuellen gilt
Gedenkrede des Berliner Senators fuer Schulwesen Carl-Heinz Evers am 11. Juli 1968 in der Gedenkstaette Ploetzensee, Berlin
Auch Gedenktage muessen ueberprueft werden. Das gilt vor allem fuer eine Gesellschaft wie die der sozialen Demokratie, die sich nicht widerwillig gegen Veraenderungen sperrt, sondern zu deren Wuerde und Selbstbewusstsein die staendige Bereitschaft zu Reformen gehoert, die der Menschlichkeit dienen. Reform- und Wertbewusstsein unserer Gesellschaft werden notwendigerweise immer wieder in Frage gestellt, und wir verantwortlichen Staatsbuerger muessen die Frage nach der menschlichen Gesellschaft beantworten. In letzter Zeit sind es vor allem die jungen Menschen, die in oft radikaler Weise Fragen stellen und Antworten verlangen nach dem Sinn des Seins in einer veraenderten gesellschaftlichen Situation. Wir haben also allen Anlass, unsere Gedenktage und -gepflogenheiten, in denen wir uns ja darstellen, zu ueberpruefen, ob sie nicht etwa leere Pflichtuebungen geworden sind oder ob sie doch Ansatzpunkte werden koennen zu einer Selbstbesinnung und ob sie Wegweiser geblieben sind zu menschlichem Verhalten.
Ist es noch richtig, dass jedes Jahr kurz vor den Sommerferien Berliner Oberschueler hier in der Gedenkstaette Ploetzensee zusammenkommen, um der Opfer der nazistischen Gewalt und der Maenner und Frauen des deutschen Widerstandes gegen Hitler zu gedenken? Theodor Heuss sagte zum 20. Juli 1954: "Das Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingeloest." Wenn wir uns hier versammeln, dann nicht, um eine kultische Handlung zu begehen, sondern um zu fragen, ob die Verpflichtung eingeloest ist.
Mord, Terror, Unmenschlichkeit geschahen zwischen 1933 und 1945 im Namen Deutschlands, im Namen des Volkes, dem wir angehoeren, in das wir hineingeboren und hineingestellt sind, auch wir, die wir 1933 Kinder waren oder noch gar nicht lebten. Man kann aber keinen Urlaub von der Geschichte nehmen und dunkle Zeiten ausklammern. Die Zeit von 1933 bis 1945 gehoert zur Geschichte unseres Volkes. Sie gehoert dazu wie Goethe, Beethoven, Karl Marx, Albert Einstein und Bert Brecht. Die Mordkommandos in Auschwitz wurden in der gleichen Sprache erteilt, in der Martin Buber seine Schriften ueber das dialogische Prinzip verfasste.
Wir haben diese Stunde hier in Ploetzensee stets dazu benutzt, um die Wirklichkeit darauf abzuklopfen, ob das Vermaechtnis erfuellt ist. An dieser Stelle habe ich gesagt, die juengere Generation brauche keine Vergangenheit zu bewaeltigen, denn sie trage keine Schuld. Die Jugend wisse das auch und sie begegne sich unbefangen mit der Jugend anderer Voelker - in Frankreich, England, Israel. Aber diese Aussoehnung werde dann vollstaendig und damit eigentlich erst glaubwuerdig, wenn sie sich auch in Osteuropa darstellen koenne, also gerade in jenen Laendern, die besonders unter der deutschen Aggression gelitten haben.
Vor zwei Jahren sagte ich hier, dass solche Gedenktage keine Ergebnisse von geschichtlichen "Pannen" und "Betriebsunfaellen" seien. Sie haben Ursachen. Dass die Nazis an die Macht kamen, ist nicht zu erklaeren mit dem Versailler Vertrag oder mit der Weltwirtschaftskrise. Dass sie an der Macht blieben und die Welt und unser eigenes Volk ins Unglueck stuerzten, lag auch nicht daran, dass manche auslaendische Staaten sich mit jenem System arrangierten, dass moralische Autoritaeten schwiegen oder dass der Widerstand dann zu spaet einsetzte. Das Grunduebel war, dass es in diesem Volke zu wenige Demokraten gab. Das Grunduebel war die mangelhafte Demokratisierung der Gesellschaft in Deutschland.
Karl Steinbuch kennzeichnet den Boden, auf dem der Faschismus wachsen konnte, als "Hinterwelt". Und er klagt diese "Hinterwelt" an, weil sie unsere Menschen dazu verfuehrt, ihre Kraft, Intelligenz und Hoffnung jenseits dieser Wirklichkeit zu vertun, anstatt diese zu nutzen, um hier in der Vorderwelt erfolgreich, friedlich und human zu leben. Es ist diese "Hinterwelt", in der gemuetvoller Irrationalismus und apolitische Unterordnung eine unheilige Allianz eingegangen sind. Ihre Folgen waren jene unmenschlichen Ausbrueche unseres Volkes, die eine Welt verschreckt haben.
Wohl am schlimmsten wirkte die "Hinterwelt" zur Nazizeit: Harmlose Familienvaeter unterschrieben Deportationsbefehle ebenso korrekt und unbeteiligt, wie sie vorher Lieferscheine fuer Kindermilch oder Kirchenfenster ausgefertigt hatten. "Typisch fuer diese Hinterwelt ist die Geschaeftigkeit im Elfenbeinturm", im engen Kreis der Gleichgesinnten, im erfreulichen Choral der sich gegenseitig Bestaetigenden, abgeschlossen vom Gezaenk des Alltags, von der Praxis der menschlichen Muehe und Arbeit, nur jenen Hinterwelten geweiht. Deprimierend der Stil, in dem lebenswichtige Probleme unserer Gesellschaft behandelt werden: da steht unsere Leuchte der Wissenschaft und doziert: Keine Spur persoenlichen Engagements, eine Gebetsmuehle historischer Zitate, keine realisierbaren Vorschlaege, alles offen lassend, keine persoenlichen Entscheidungen. Ihn jammert nicht dieses Volk!
Hier wird deutlich, welche Haltungen wir ueberwinden muessen, wenn wir immun sein wollen gegen neue Verfuehrungen. Wieder sind - wenn auch von einer extremen, noch verhaeltnismaessig kleinen Partei, aber doch nicht nur von Aussenseitern - die Sirenengesaenge zu hoeren von der eigenen Staerke, von dem Recht des eigenen Volkes, das doch dem der anderen Voelker voranzugehen habe. Sirenengesaenge auch von dem Recht auf Gewalt fuer kleine Gruppen, die besser und unmittelbarer als andere wissen, wie Utopien zu erreichen sind. Schliesslich auch Sirenengesaenge, die der Majoritaet alles, der Minderheit aber nichts zugestehen wollen. Hier der Punkt, an dem wir recht eindringlich an das Vermaechtnis zu erinnern sind, das es zu erfuellen gilt, das Vermaechtnis des Widerstandes.
Nun haben die Grundrechtsaenderungen der letzten Zeit den Widerstand gewissermassen grundrechtsfaehig gemacht. Der Artikel 20, dessen Absatz 1 lautet: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", hat einen neuen Absatz vier erhalten, in dem es heisst: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht moeglich ist." Das kann nicht Selbstjustiz bedeuten gegen missliebige Minderheiten. Damit ist gemeint eine hohe ethische und politische Zumutung an jeden Staatsbuerger, deren wahrer Gehalt sich an der Mauer vor uns und der schrecklichen Mordstaette dahinter erweist.
Widerstand also gegen ein System und gegen die Verfuehrung des Unrechts und der Unmenschlichkeit, womit auch klargestellt ist, welchen Abstand ein solcher todesbedrohter Widerstand von scheinrevolutionaeren Aktionen unserer Tage trennt.
Wie steht es also, so muessen wir uns fragen, mit Ihrer Widerstandsfaehigkeit, mit der Widerstandsfaehigkeit der Jugend, die wir informiert haben ueber die Unmenschlichkeit der Nazis und der Stalinisten und bei denen wir versucht haben, die demokratischen Tugenden der Wachheit und Wachsamkeit gegen Bedrohungen von Freiheit und Vernunft zu entwickeln? Ist uns das gelungen?
Vor wenigen Tagen hat der parlamentarische Untersuchungsausschuss den zweiten Teil seines Berichtes vorgelegt. Und da heisst es unter anderem: "Insgesamt ist das Verstaendnis fuer demokratische Auseinandersetzungen bei Studenten ausgepraegter als im Durchschnitt der Bevoelkerung ... Das hohe theoretische Informationsniveau ueber den institutionellen Aufbau und die funktionalen Zusammenhaenge in der Demokratie wird nicht von einem annaehernd gleichen Wissen um aktuelle politische Situationen begleitet und macht unduldsam gegenueber Kompromissen und Verzoegerungen in der taeglichen praktischen Politik."
Diesem Hinweis muessen wir - Oberschueler, Lehrer und Schulbehoerde - nachgehen, um Luecken in der politischen Bildung zu fuellen. Noch immer ist das Verhaeltnis zu Utopien unserer Gesellschaft ungeklaert. Noch immer wird gegenueber dem meist unreflektierten Ideal die Wirklichkeit mit ihrer alltaeglichen Dreckarbeit abgewertet, gilt das menschliche Verhalten im Kompromiss, im Geltenlassen des anderen wenig, wird die Reformarbeit an der Gesellschaft als boeswillige Stoerung oder als Zeitverschwendung abgetan.
Es waere daher falsch, am 20. Juli, an einem der vielen negativen Gedenktage unseres Volkes, nur den Heroismus zu feiern. Die im Untergang bewiesene Wuerde und die Achtung, die wir ihr schulden, ist die eine Seite; die andere aber ist der von den Mauern unseres Volkes ausgehende Ausruf, in staendigen Veraenderungen und Reformen den Freiheitsanspruch unserer Gesellschaft weiter zu verwirklichen. Nur dann kann die Freiheit soweit gesichert werden, dass Rueckfaelle in die Barbarei unmoeglich sind.
Im Bericht des Untersuchungsausschusses heisst es weiter: "Diese Studentenschaft ist nicht bereit hinzunehmen, dass im Widerspruch zu der nach 1945 formulierten Konzeption einer realistischen und konsequent demokratischen Politik - wie sie insbesondere in den materiellen Wertentscheidungen des Grundgesetzes ihren Ausdruck gefunden hat - die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in zunehmendem Masse konservative Zuege aufweist."
Das ist kein Grund zum Fuerchten. Ich meine im Gegenteil, hier liegt eine Chance unserer Gesellschaft. Wir muessen allerdings alle, die Juengeren und die Aelteren, uns bewusst von verkleideter Barbarei abwenden. Wir haben keine revolutionaere Situation, wohl aber die Pflicht zu verantwortlicher Arbeit. Die Massstaebe dieser Arbeit sind zu finden im Vermaechtnis jener Maenner und Frauen des deutschen Widerstandes, die sich rechtzeitig und unter Einsatz ihres Lebens gegen Fehlentwicklungen der Gesellschaft und die daraus resultierende Unmenschlichkeit gewandt haben, die mit ihrem Opfer fuer ein besseres, freieres und menschlicheres Deutschland eingetreten sind. Ihr Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, vor ihnen haben wir uns zu bewaehren.
"Recht und Gerechtigkeit fuer alle ... politische, wirtschaftliche und soziale Demokratie", wie es im Programm einer Widerstandsgruppe heisst, das real immer wieder herzustellen, das ist ihr Vermaechtnis und unsere Verpflichtung.
Carl-Heinz Evers
An das Vermaechtnis erinnern, das es zu erfuellen gilt
Gedenkrede des Berliner Senators fuer Schulwesen Carl-Heinz Evers am 11. Juli 1968 in der Gedenkstaette Ploetzensee, Berlin
Auch Gedenktage muessen ueberprueft werden. Das gilt vor allem fuer eine Gesellschaft wie die der sozialen Demokratie, die sich nicht widerwillig gegen Veraenderungen sperrt, sondern zu deren Wuerde und Selbstbewusstsein die staendige Bereitschaft zu Reformen gehoert, die der Menschlichkeit dienen. Reform- und Wertbewusstsein unserer Gesellschaft werden notwendigerweise immer wieder in Frage gestellt, und wir verantwortlichen Staatsbuerger muessen die Frage nach der menschlichen Gesellschaft beantworten. In letzter Zeit sind es vor allem die jungen Menschen, die in oft radikaler Weise Fragen stellen und Antworten verlangen nach dem Sinn des Seins in einer veraenderten gesellschaftlichen Situation. Wir haben also allen Anlass, unsere Gedenktage und -gepflogenheiten, in denen wir uns ja darstellen, zu ueberpruefen, ob sie nicht etwa leere Pflichtuebungen geworden sind oder ob sie doch Ansatzpunkte werden koennen zu einer Selbstbesinnung und ob sie Wegweiser geblieben sind zu menschlichem Verhalten.
Ist es noch richtig, dass jedes Jahr kurz vor den Sommerferien Berliner Oberschueler hier in der Gedenkstaette Ploetzensee zusammenkommen, um der Opfer der nazistischen Gewalt und der Maenner und Frauen des deutschen Widerstandes gegen Hitler zu gedenken? Theodor Heuss sagte zum 20. Juli 1954: "Das Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingeloest." Wenn wir uns hier versammeln, dann nicht, um eine kultische Handlung zu begehen, sondern um zu fragen, ob die Verpflichtung eingeloest ist.
Mord, Terror, Unmenschlichkeit geschahen zwischen 1933 und 1945 im Namen Deutschlands, im Namen des Volkes, dem wir angehoeren, in das wir hineingeboren und hineingestellt sind, auch wir, die wir 1933 Kinder waren oder noch gar nicht lebten. Man kann aber keinen Urlaub von der Geschichte nehmen und dunkle Zeiten ausklammern. Die Zeit von 1933 bis 1945 gehoert zur Geschichte unseres Volkes. Sie gehoert dazu wie Goethe, Beethoven, Karl Marx, Albert Einstein und Bert Brecht. Die Mordkommandos in Auschwitz wurden in der gleichen Sprache erteilt, in der Martin Buber seine Schriften ueber das dialogische Prinzip verfasste.
Wir haben diese Stunde hier in Ploetzensee stets dazu benutzt, um die Wirklichkeit darauf abzuklopfen, ob das Vermaechtnis erfuellt ist. An dieser Stelle habe ich gesagt, die juengere Generation brauche keine Vergangenheit zu bewaeltigen, denn sie trage keine Schuld. Die Jugend wisse das auch und sie begegne sich unbefangen mit der Jugend anderer Voelker - in Frankreich, England, Israel. Aber diese Aussoehnung werde dann vollstaendig und damit eigentlich erst glaubwuerdig, wenn sie sich auch in Osteuropa darstellen koenne, also gerade in jenen Laendern, die besonders unter der deutschen Aggression gelitten haben.
Vor zwei Jahren sagte ich hier, dass solche Gedenktage keine Ergebnisse von geschichtlichen "Pannen" und "Betriebsunfaellen" seien. Sie haben Ursachen. Dass die Nazis an die Macht kamen, ist nicht zu erklaeren mit dem Versailler Vertrag oder mit der Weltwirtschaftskrise. Dass sie an der Macht blieben und die Welt und unser eigenes Volk ins Unglueck stuerzten, lag auch nicht daran, dass manche auslaendische Staaten sich mit jenem System arrangierten, dass moralische Autoritaeten schwiegen oder dass der Widerstand dann zu spaet einsetzte. Das Grunduebel war, dass es in diesem Volke zu wenige Demokraten gab. Das Grunduebel war die mangelhafte Demokratisierung der Gesellschaft in Deutschland.
Karl Steinbuch kennzeichnet den Boden, auf dem der Faschismus wachsen konnte, als "Hinterwelt". Und er klagt diese "Hinterwelt" an, weil sie unsere Menschen dazu verfuehrt, ihre Kraft, Intelligenz und Hoffnung jenseits dieser Wirklichkeit zu vertun, anstatt diese zu nutzen, um hier in der Vorderwelt erfolgreich, friedlich und human zu leben. Es ist diese "Hinterwelt", in der gemuetvoller Irrationalismus und apolitische Unterordnung eine unheilige Allianz eingegangen sind. Ihre Folgen waren jene unmenschlichen Ausbrueche unseres Volkes, die eine Welt verschreckt haben.
Wohl am schlimmsten wirkte die "Hinterwelt" zur Nazizeit: Harmlose Familienvaeter unterschrieben Deportationsbefehle ebenso korrekt und unbeteiligt, wie sie vorher Lieferscheine fuer Kindermilch oder Kirchenfenster ausgefertigt hatten. "Typisch fuer diese Hinterwelt ist die Geschaeftigkeit im Elfenbeinturm", im engen Kreis der Gleichgesinnten, im erfreulichen Choral der sich gegenseitig Bestaetigenden, abgeschlossen vom Gezaenk des Alltags, von der Praxis der menschlichen Muehe und Arbeit, nur jenen Hinterwelten geweiht. Deprimierend der Stil, in dem lebenswichtige Probleme unserer Gesellschaft behandelt werden: da steht unsere Leuchte der Wissenschaft und doziert: Keine Spur persoenlichen Engagements, eine Gebetsmuehle historischer Zitate, keine realisierbaren Vorschlaege, alles offen lassend, keine persoenlichen Entscheidungen. Ihn jammert nicht dieses Volk!
Hier wird deutlich, welche Haltungen wir ueberwinden muessen, wenn wir immun sein wollen gegen neue Verfuehrungen. Wieder sind - wenn auch von einer extremen, noch verhaeltnismaessig kleinen Partei, aber doch nicht nur von Aussenseitern - die Sirenengesaenge zu hoeren von der eigenen Staerke, von dem Recht des eigenen Volkes, das doch dem der anderen Voelker voranzugehen habe. Sirenengesaenge auch von dem Recht auf Gewalt fuer kleine Gruppen, die besser und unmittelbarer als andere wissen, wie Utopien zu erreichen sind. Schliesslich auch Sirenengesaenge, die der Majoritaet alles, der Minderheit aber nichts zugestehen wollen. Hier der Punkt, an dem wir recht eindringlich an das Vermaechtnis zu erinnern sind, das es zu erfuellen gilt, das Vermaechtnis des Widerstandes.
Nun haben die Grundrechtsaenderungen der letzten Zeit den Widerstand gewissermassen grundrechtsfaehig gemacht. Der Artikel 20, dessen Absatz 1 lautet: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", hat einen neuen Absatz vier erhalten, in dem es heisst: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht moeglich ist." Das kann nicht Selbstjustiz bedeuten gegen missliebige Minderheiten. Damit ist gemeint eine hohe ethische und politische Zumutung an jeden Staatsbuerger, deren wahrer Gehalt sich an der Mauer vor uns und der schrecklichen Mordstaette dahinter erweist.
Widerstand also gegen ein System und gegen die Verfuehrung des Unrechts und der Unmenschlichkeit, womit auch klargestellt ist, welchen Abstand ein solcher todesbedrohter Widerstand von scheinrevolutionaeren Aktionen unserer Tage trennt.
Wie steht es also, so muessen wir uns fragen, mit Ihrer Widerstandsfaehigkeit, mit der Widerstandsfaehigkeit der Jugend, die wir informiert haben ueber die Unmenschlichkeit der Nazis und der Stalinisten und bei denen wir versucht haben, die demokratischen Tugenden der Wachheit und Wachsamkeit gegen Bedrohungen von Freiheit und Vernunft zu entwickeln? Ist uns das gelungen?
Vor wenigen Tagen hat der parlamentarische Untersuchungsausschuss den zweiten Teil seines Berichtes vorgelegt. Und da heisst es unter anderem: "Insgesamt ist das Verstaendnis fuer demokratische Auseinandersetzungen bei Studenten ausgepraegter als im Durchschnitt der Bevoelkerung ... Das hohe theoretische Informationsniveau ueber den institutionellen Aufbau und die funktionalen Zusammenhaenge in der Demokratie wird nicht von einem annaehernd gleichen Wissen um aktuelle politische Situationen begleitet und macht unduldsam gegenueber Kompromissen und Verzoegerungen in der taeglichen praktischen Politik."
Diesem Hinweis muessen wir - Oberschueler, Lehrer und Schulbehoerde - nachgehen, um Luecken in der politischen Bildung zu fuellen. Noch immer ist das Verhaeltnis zu Utopien unserer Gesellschaft ungeklaert. Noch immer wird gegenueber dem meist unreflektierten Ideal die Wirklichkeit mit ihrer alltaeglichen Dreckarbeit abgewertet, gilt das menschliche Verhalten im Kompromiss, im Geltenlassen des anderen wenig, wird die Reformarbeit an der Gesellschaft als boeswillige Stoerung oder als Zeitverschwendung abgetan.
Es waere daher falsch, am 20. Juli, an einem der vielen negativen Gedenktage unseres Volkes, nur den Heroismus zu feiern. Die im Untergang bewiesene Wuerde und die Achtung, die wir ihr schulden, ist die eine Seite; die andere aber ist der von den Mauern unseres Volkes ausgehende Ausruf, in staendigen Veraenderungen und Reformen den Freiheitsanspruch unserer Gesellschaft weiter zu verwirklichen. Nur dann kann die Freiheit soweit gesichert werden, dass Rueckfaelle in die Barbarei unmoeglich sind.
Im Bericht des Untersuchungsausschusses heisst es weiter: "Diese Studentenschaft ist nicht bereit hinzunehmen, dass im Widerspruch zu der nach 1945 formulierten Konzeption einer realistischen und konsequent demokratischen Politik - wie sie insbesondere in den materiellen Wertentscheidungen des Grundgesetzes ihren Ausdruck gefunden hat - die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in zunehmendem Masse konservative Zuege aufweist."
Das ist kein Grund zum Fuerchten. Ich meine im Gegenteil, hier liegt eine Chance unserer Gesellschaft. Wir muessen allerdings alle, die Juengeren und die Aelteren, uns bewusst von verkleideter Barbarei abwenden. Wir haben keine revolutionaere Situation, wohl aber die Pflicht zu verantwortlicher Arbeit. Die Massstaebe dieser Arbeit sind zu finden im Vermaechtnis jener Maenner und Frauen des deutschen Widerstandes, die sich rechtzeitig und unter Einsatz ihres Lebens gegen Fehlentwicklungen der Gesellschaft und die daraus resultierende Unmenschlichkeit gewandt haben, die mit ihrem Opfer fuer ein besseres, freieres und menschlicheres Deutschland eingetreten sind. Ihr Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, vor ihnen haben wir uns zu bewaehren.
"Recht und Gerechtigkeit fuer alle ... politische, wirtschaftliche und soziale Demokratie", wie es im Programm einer Widerstandsgruppe heisst, das real immer wieder herzustellen, das ist ihr Vermaechtnis und unsere Verpflichtung.