Berlin war die Hauptstadt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

Dietrich Stobbe

Berlin war die Hauptstadt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

Gedenkrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Dietrich Stobbe am 20. Juli 1978 auf dem Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin

Ich spreche an Stelle von Herbert Wehner. Als es Einwände gegen sein Auftreten gab, obwohl die Vorstandsgremien der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“ ihn eingeladen hatten, hier zu sprechen, mochte er nicht mehr.

Herbert Wehner war Kommunist und hat dies nie geleugnet oder auch nur abgeschwächt. Ein Mann, der konsequent gegen Hitler kämpfte. Ein Mann, der dann, als er sich von kommunistischen Überzeugungen gelöst hatte, prägend für die Demokratie einstand und für die Bundesrepublik Deutschland und die Menschen in ganz Deutschland lebt und arbeitet. Wie kein anderer sitzt er seit 1949 auf seinem Platz im Deutschen Bundestag. Dieses Bild allein müsste jeden, der nachdenkt, überzeugen.

Was kann einer, der vierzig Jahre alt ist, was kann ich an seiner Stelle zum 20. Juli 1944 sagen, dieser aufwühlenden Manifestation des deutschen Widerstandes vor nunmehr vierunddreißig Jahren?

Ich frage so, weil ich Sie, meine sehr verehrten Damen, meine Herren, darauf hinweisen möchte, dass ich mir des in diesem Falle gravierenden Altersunterschiedes zu denen bewusst bin, die in den anderen Jahren hier oder in Plötzensee gesprochen haben. Ich tue es heute aus der politischen Verantwortung, in die ich gestellt worden bin. Das Geschehen damals ist für mich Geschichte.

Geschichte allerdings, mit deren Folgen ich in meinem Amt täglich zu tun habe. Die Teilung unserer Stadt bestimmt mittelbar und unmittelbar meine Arbeit. Aber nicht nur insofern ist mir dieser Teil der deutschen Geschichte nahe. Wie jeder andere Deutsche erlebe ich die Auseinandersetzungen über sie: wie und wo sie verdrängt und beiseite geschoben wird, wie und wo man sich bemüht, sie wirklich zu verarbeiten und sie gerade wegen ihrer Furchtbarkeit in der Erinnerung zu behalten.

Wir sind ja in diesen Wochen die Zeugen dafür, wie dramatisch nach Jahrzehnten noch das Verdrängen von Schuld und das Erinnern an Schuld in unsere Gegenwart hineinreichen. Das macht zutiefst betroffen, gerade auch junge Menschen.

Für mich wie wohl für viele andere stürzt die deutsche Geschichte 1933 in einen Abgrund, aus dem sie erst 1945 wieder befreit wurde. Es bleibt – und dies wohl nicht nur für die damals Jüngeren – ein tief erschreckender Vorgang, dass ein zivilisiertes Volk mit einer großen Geschichte einem Verführer verfallen konnte und in unfassbarem Ausmaß schuldig wurde.

Ich kann es noch persönlicher sagen. Was hätten die Nationalsozialisten mit mir, aus den Jüngeren gemacht, wenn sie ihre Herrschaft hätten fortsetzen können?

Das Angebot des NS-Staates an die Jugend, der doch die Zukunft gehören sollte, war, wenn man bis zu Ende denkt, ermordet oder Mörder zu werden, ein Mann des Widerstandes und Verfolgter oder ein Mann des Herrschaftssystems und damit potentiell oder wirklich ein Mitschuldiger oder Verbrecher. Und es gab und es würde geben das Mitlaufen oder Anpassen oder Schweigen. Man hat, man hätte überleben können. Aber es war und wäre die unfreie, die angsterfüllte, die quälende Existenz.

Davon sind die Älteren befreit worden, davor sind wir Jüngeren bewahrt worden.

Der Widerstand, der deutsche Widerstand im Lande und im Exil, die Hilfe, die Verfolgte von Deutschen unter Lebensgefahr erhalten haben, besonders in unserer Stadt, der Widerstand von Politikern und politisch wachen Menschen, älteren und jüngeren, Soldaten und Zivilisten, Liberalen und Kommunisten, Sozialdemokraten und Konservativen, von Menschen, die in den Kirchen oder in den Gewerkschaften beheimatet waren, der Widerstand, der im 20. Juli kulminierte – er ermöglicht es mir, trotz dieser zwölf Jahre in der Geschichte meines Volkes die Kontinuität einer zivilisierten Nation zu erkennen.

Ich weiß nicht, wie schwer es manchem fallen würde und gerade den Nachdenklichen, die wissen, dass man aus der Geschichte eines Volkes nicht austreten und sich nicht wegstehlen kann – ich weiß nicht, wie schwer es vielen fallen würde, sich als Deutsche zu bekennen, hätte es den Widerstand nicht gegeben. So gesehen hat mir der Widerstand während der nationalsozialistischen Barbarei zu meiner Identität als Deutscher verholfen.

Wer in der Bundesrepublik Deutschland groß geworden ist, dem ist die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung selbstverständlich. Wir haben das Glück, im sozialen Rechtsstaat, in der freiheitlichen Demokratie aufgewachsen zu sein und unter ihren menschenwürdigen Prinzipien leben zu dürfen.

Eben diese Prinzipien sind es, die wir im deutschen Widerstand wiedererkennen und die uns das Bekenntnis zu ihm leicht machen. In unverdienter Weise leicht, denn es ist Glück, persönliches Glück, in einer Demokratie zu leben. Ich hebe das so hervor, weil ich an die denke, die in jungem Alter die Diktatur durchmachten, ihr Leben für diese Prinzipien riskierten und als Opfer für diese Grundwerte Zeugnis ablegten. Das beschämt und macht tief nachdenklich – und dankbar.

Ich glaube, man muss dies den jungen Menschen – aber nicht nur ihnen – in unserem Lande gerade anlässlich dieses Tages immer wieder sagen. Die meisten wissen es, wir können sehr froh darüber sein. Aber heute ist in der Bundesrepublik Deutschland auch viel von Widerstand gegen diesen Staat und diese Gesellschaft die Rede.

Manche begnügen sich nicht damit, dass die Freiheit zur Kritik garantiert und im Übrigen in der Form der Opposition als unerlässliches demokratisches Prinzip in unseren Staat und unsere Gesellschaft selber eingebaut ist, sie steigert sich in einen moralischen Rigorismus, der verblendet die Wirklichkeit verkennt, in Gewalt umschlagen kann und dann nur noch Kriminalität ist.

Es mag Gründe zu schärferer Kritik gegeben haben und geben. Auch eine demokratische Gesellschaft kann verkrusten und verschlossen sein gegenüber begründeter Kritik an ihren tatsächlichen Zuständen. Das verbittert. Aber in unserem Lande ist inzwischen viel von der Kritik der Jüngeren, wie sie in den sechziger Jahren auftrat, als berechtigt anerkannt worden. Dass unser Staat und unsere Gesellschaft ihre eigenen Fehler, ihre Schwächen, ihre Ungerechtigkeiten einsehen und begreifen und beseitigen können, ist ein so fundamentaler Vorteil gegenüber allen anderen Staats- und Gesellschaftsformen, dass unverständlich bleibt, wie man ernsthaft meinen kann, gegen eine Demokratie Widerstand leisten zu müssen.

Angesichts der Erfahrungen, die wir mit der extremen Form des Kampfes gegen unsere gewollte und gewählte Gesellschaftsform haben, kann nur ganz entschieden festgestellt werden: Auf ein Widerstandsrecht darf und kann sich nicht berufen, wer in einer Gesellschaftsordnung lebt, die pluralistisch organisiert und vom Toleranzprinzip bestimmt ist, wer in einem Staat lebt, der nach Rechtsprinzipien geordnet ist. Unser Staat wehrt sich nicht gegen seine Kritiker, sondern gegen die Gewaltanwendung durch seine Feinde.

Wie in vielfacher Beziehung sonst Berlin ein Zentrum für deutsche Fragen ist, so muss es auch ein zentraler Ort für die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus sein.

Gewiss, ganz Deutschland, seine beiden Teile, müssen sich mit der Geschichte auseinander setzen und die Vergangenheit bewältigen. Aber was immer man über Deutschland denkt und sagt, seine Gegenwart, seine Vergangenheit, seine Zukunft betreffend: In Berlin können die Probleme unseres Landes, unserer Geschichte, unserer Zukunft besser begriffen werden als anderswo.

Berlin war als die Hauptstadt des Deutschen Reiches das Machtzentrum des Nationalsozialismus. Berlin war aber auch die Hauptstadt des Widerstandes gegen ihn.

Es darf gerade heute darauf hingewiesen werden, dass die Berliner weniger nationalsozialistisch dachten, dass bei den Bürgern unserer Stadt Vernunft und Menschlichkeit größer waren, als man es von der Hauptstadt eines dem Rausch und der Verblendung und der Gewalt verfallenen Reiches annehmen konnte. Berlin hatte, trotz allem, die Atmosphäre, die Möglichkeiten, die Bereitschaft zum Widerstand, zum Aufstand, zur Hoffnung.

Darum ist es nur selbstverständlich, dass in Berlin in besonderer Weise des Widerstandes gedacht wird und unsere Stadt der Ort für das Gedenken an den 20. Juli ist. Die Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“ hat von Anbeginn diese Gedenkfeiern nach Berlin gelegt und immer daran festgehalten. Sie hat damit das geschichtlich wie politisch Richtige getan, sie ist nicht an Nebenorte ausgewichen, die nur dies hätten sein können.

Es ist beabsichtigt, die Gedenk- und Bildungsstätte in diesem Gebäude auszubauen. Der Bund hat weitere Räume zugesagt, sobald es möglich ist. Damit können wir den Wünschen der Besucher entgegenkommen und auch die Arbeit in der Gedenk- und Bildungsstätte insgesamt intensivieren. Der Bund hat ferner zugesagt, diesen Ehrenhof als wichtigen Platz der deutschen Geschichte in seiner Gestaltung zu verbessern.

Der Senat bezieht sich nicht nur auf die gute Zusammenarbeit mit der Stiftung bei den Gedenkfeiern in Plötzensee und in der Stauffenbergstraße, wenn er diese Schauplätze deutscher Geschichte mehr noch als bisher als Gedenkstätten für die Deutschen bewusst machen und herausheben will in dem Sinne, in dem Ernst Reuter 1953 an dieser Stelle von einem nationalen Heiligtum sprach.

Zu unseren Pflichten gehört es, dass wir uns mit unserer Geschichte, mit dieser Geschichte Berlins auseinandersetzen und uns nicht herumdrücken um die Bruchstellen der Berliner und der deutschen Vergangenheit. Zur Großartigkeit unserer Stadt gehört, dass wir nicht harmonisieren, wo das Gewesene dagegen steht.

Zu Berlin gehört sein östlicher Teil. Es geht mir in diesem Moment nicht um politische und rechtliche Feststellungen und Aussagen über den gemeinsamen und besonderen Status unserer Stadt und auch nicht um das Bewusstsein aller Berliner, Bürger dieser einen Stadt zu sein.

Ich will hier festhalten, dass der andere deutsche Staat, der Ost-Berlin als Hauptstadt benutzt, sich so wenig wie wir aus der schlimmen Geschichte unseres Landes davonschleichen kann.

Wir beobachten, dass die DDR sich zunehmend des deutschen Widerstandes während der nationalsozialistischen Zeit bemächtigt. Das Zeugnis beispielsweise muss dafür herhalten, die gute Geschichte Deutschlands als Vorgeschichte der DDR auszuweisen, gerade so, als ob die Deutschen dort, als ob Ost-Berlin nicht an den dunklen, verderblichen Jahren der deutschen Geschichte beteiligt gewesen wäre.

Dieses Verhalten ist zutiefst unglaubwürdig darum, weil es aus einem System kommt, das Nico Hübner und Rudolf Bahro nicht ertragen kann und das Schriftsteller und Künstler ausweist. Auch Kommunisten leisteten Widerstand während der braunen Zeit; heute sind sie es, die Freiheiten und Rechte im eigenen Staat unterdrücken.

Was uns betrifft, so ist es unerlässlich, dass unsere jungen Mitbürger, unsere Kinder von dem, was war, in der Schule lernen. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Hintergründen in Deutschland ist dringend. Niemand ist dagegen, dass im Unterricht ausführlich von Karl dem Großen gesprochen wird und dem großartigen ersten Deutschen Reich. Noch wichtiger aber ist, vom furchtbaren Dritten Reich zu sprechen um unser aller willen – und dabei vom Widerstand.

Am deutschen Widerstand kann gelehrt und gelernt werden, dass es durch alle Gruppen und Schichten unseres Volkes einen Aufstand des Gewissens gab, die damalige Wehrmacht eingeschlossen; an ihm kann gelehrt und gelernt werden, dass die Menschenrechte als der Kern und die Grundlage jeder Demokratie des täglichen Engagements jedes Bürgers bedürfen; an ihm kann gelernt und gelehrt werden, dass dauernd an der Vertiefung und Verbesserung unserer demokratischen Ordnung gearbeitet werden muss; an ihm kann gelernt und gelehrt werden, dass sittliche Grundwerte und moralische Postulate, wie sie in den guten Seiten der preußischen Geschichte erkennbar sind, auch unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus lebendig waren.

Schuld ist eine persönliche, aber auch allgemeine Kategorie. Das Berlin von heute trägt die Konsequenz aus der Schuld, die unser Land durch den Nationalsozialismus auf sich geladen hat. Die am Widerstand beteiligt waren, wollten uns das weit gehend ersparen. Sie hofften, sie handelten, sie opferten sich, um uns vor dem zu bewahren, was uns dann tatsächlich traf.

Die deutsche Geschichte gebietet uns, für den Frieden zu kämpfen. Auch jetzt, dreiunddreißig Jahre nach Kriegsende, führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zuallererst den Deutschen in West und Ost die Respektierung der Lage im Interesse des Friedens abverlangt wird. Nichts wäre schädlicher für uns als eine Politik, die das vergessen machen lassen wollte. Was uns aufgetragen ist, ist der mühsame Weg, aus den Trümmern der Zeit damals für unser Land und seine Menschen zu gewinnen, was den Umständen entsprechend und ohne Friedensgefährdung möglich ist.

Der deutsche Widerstand setzte sich aus vielen Gruppen zusammen, sie unterschieden sich in vielerlei Hinsicht. Aber einig waren sie sich im Kampf gegen das Unrecht. Ich meine, diese Einigkeit im Kampf gegen das Unrecht muss transportiert werden, muss hineingenommen werden in die Einigkeit der Demokraten im Konsens für die demokratischen Werte und Regeln.

Für mich ist dies das Vermächtnis derer, die damals gegen das Unrecht kämpften. Dieses Vermächtnis darf nicht verloren gehen, weil der Widerstand so wichtig ist für uns und die späteren Generationen. Worum es den Widerstandskämpfern ging, ist ein Herzstück unserer Demokratie und von historischer Bedeutung.

Ich verneige mich vor den Toten des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Gewaltregime. Ich bezeuge den lebenden Mitkämpfern meinen tiefen Respekt, und das im Namen aller Berliner.