Das Aufreißen alter Wunden
Odilo Braun
Das Aufreißen alter Wunden
Predigt von Pater Odilo Braun am 20. Juli 1981 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Verehrte liebe Freunde,
jedes Jahr, wenn der Kalender uns zeigt, dass wir uns dem 20. Juli nähern, dann gibt es gerade in unserem Kreis nicht wenige, die mit innerer Unruhe, ja sogar mit Angst diesem 20. Juli entgegensehen. Da werden alte Wunden aufgerissen und manche Begebenheit, die längst vergessen geglaubt, steht plötzlich vor einem, ob er Handelnder oder Leidender war, so gegenwartsnah, als werde es eben erst miterlebt oder erlitten. Da werden wieder lebendig die Diskussionen mit Offizieren, die oft an entscheidenden Schaltstellen des Kriegsgetriebes saßen. Sie hatten im Laufe der Zeit immer mehr von dem Unrecht, das täglich und stündlich begangen wurde, erfahren und wurden immer mehr von Zweifeln gequält, ob sie diesem grausamen und unmenschlichen Regime noch länger ihre Dienste leisten konnten und durften.
Oft zogen diese Diskussionen sich quälend durch halbe oder ganze Nächte hin. Diese Männer, deren Urlaub oft kurz bemessen war, wollten nicht zurück an die Front, ehe sie nicht das Licht der Klarheit und den Mut zur Entscheidung gefunden hatten.
So sind sie und viele andere, Männer und Frauen, Widerstandskämpfer geworden. Sie wussten, was sie damit auf sich genommen hatten, dass sie fortan in ständiger Gefahr für Leib und Leben sich befanden. Sie hatten gewählt zwischen dem heiligen Dienst für den heiligen Gott und dem Frondienst für den Widersacher Gottes. Sie hatten gewählt zwischen dem festen Entschluss, Brüdern und Schwestern helfend und schützend zur Seite zu stehen, für ihre Menschenwürde einzustehen, – oder sich als feige Mitläufer zu verkaufen, die eigene Würde des Ebenbildes Gottes zu verlieren.
Darum sind sie auch nicht zerbrochen, als der Anschlag auf den Tyrannen misslungen war und sie nun der unmenschlichen Rache seiner blutgierigen Handlanger zum Opfer gefallen waren.
Wir wollen und dürfen den Erinnerungen nicht ausweichen. Sie gehören einfach zu unserem Leben. Ein Kämpfer, der weiß, dass die Häscher seit dem 21. Juli hinter ihm her sind, setzt seine Tätigkeit fort. Er hatte die Wäsche seines Freundes und Mitstreiters, der sie aus der Haft zum Reinigen herausgeschickt hatte, gesehen. Sie war nicht nur blutbefleckt, vielmehr blutdurchtränkt. Da wurde ihm klar, wie es bei einem „verschärften Verhör“ zuging, was also auch auf ihn wartete.
Es vergingen keine 3 Monate, dann war es so weit. Einzelhaft kann schlimm sein. Aber sie muss es nicht sein. Wer sich geistig zu beschäftigen weiß, ist glücklich, dass er die Muße hat, seine Gedanken zu ordnen und niederzuschreiben. Wie viele solcher Aufzeichnungen sind später in unsere Hände gekommen.
Man hatte, trotz der Einzelhaft, das Glück, Helfer zu finden. Mithäftlinge, die sofort durch ihr Verhalten zeigten, dass sie zu uns gehörten. Es klingt wie ein Märchen, wenn man erlebt, dass auch der SS-Mann, ein nicht mehr junger Sudetendeutscher, der äußerlich den strengen Gefängniswärter spielte, rührend bemüht war, hie und da für eine Erleichterung zu sorgen. Er ging auch so weit, zu kommen und mitzuteilen, dass zwei der engsten Mitstreiter aus München am Vorabend in der Lehrter Straße gelandet waren.
Dazu gab er die Erklärung: „Ich dachte, dass Sie das vielleicht interessieren könnte“. Sein größter und wertvollster Liebesdienst war, dass er der strengen Einzelhaft ein Ende setzte. Als er hörte, dass die Nichtteilnahme an der sogenannten Freistunde nicht ein freiwilliger Verzicht, sondern eine Haftverschärfung war, da muss er wohl in der Zentrale etwas manipuliert haben, mit dem Erfolg, dass man schon bei der nächsten Freistunde mit dabei war.
Marion Gräfin Dönhoff hat schon 1945 in ihrem „In memoriam 20. Juli 1944“ geschrieben: „ ... denn das war es, was die unerbittliche Forderung jener Männer war: Die geistige Wandlung des Menschen, die Absage an den Materialismus und die Überwindung des Nihilismus als Lebensform. Der Mensch sollte wieder hineingestellt werden in eine Welt christlicher Ordnung, die im Metaphysischen ihre Wurzeln hat; er sollte wieder atmen können in der ganzen Weite des Raumes, die zwischen Himmel und Erde liegt, er sollte befreit werden von der Enge einer Welt, die sich selbst verabsolutiert, weil Blut und Rasse und das Kausalitätsgesetz ihre letzten Weisheiten waren.
Und eben damit waren diese Revolutionäre weit mehr als die Antipoden von Hitler und seinem unseligen System; ihr Kampf ist neben der aktuellen Bedeutung für das Zeitgeschehen unserer Tage auf einer höheren Ebene der Versuch gewesen, das 19. Jahrhundert geistig zu überwinden“.
Als hätte Marion Dönhoff die Männer, die SS-Gefangenen in der Lehrter Straße gesehen, so treffend und wirklichkeitsnah hat sie sie geschildert. So sah sie nun wirklich der, der nun ihr gleichberechtigter Mithäftling geworden war. Er sah nicht Jammer-Gestalten, die durch Hunger und Folter, dazu fast ständige Fesselung, zermürbt und verzweifelt waren – er sah mit Staunen und Bewunderung Männer, die hocherhobenen Hauptes ihre Kreise zogen, auf deren Gesichtern eine ungebrochene Sicherheit und Festigkeit lagen, als wenn sie stolz darauf waren, von Gott berufen zu sein, für ihn und Sein Gesetz und Seine Ordnung eintreten zu dürfen. Da war keine lange Vorstellung nötig – es durfte ja nicht gesprochen werden – um zu wissen, wen man vor sich hatte. So dauerte es auch nicht lange, bis man mit aller Vorsicht hier und da die heiligen Sakramente spenden konnte.
Unvergessen wird immer bleiben, dass zwei Kalfaktoren, die nicht zu unserem Kreis gehörten – es waren ein Jude und ein Bibelforscher –, sich bereit erklärten, Christopherus-Dienst zu leisten und unseren Männern die heilige Kommunion zu bringen. Sie hatten so selbstverständlich sich dazu bereit erklärt, weil sie mehr und mehr gelernt hatten, diese Männer zu bewundern, die alles Böse, das man ihnen antat, durch ihre gleichbleibende Ruhe und Zuversicht überwanden. Rührend war es zu erleben, wie sie, die beiden Christusträger, dann kamen, um sich zu bedanken, dafür, dass sie gewürdigt worden waren, den Männern die große Freude zu bereiten. Sie durften ja Zeugen sein, mit welch strahlender Seligkeit die Kommunikanten ihren Herrn und Erlöser in Brotgestalt entgegennahmen. So gingen sie mit dem Herrn weiter ihre Kreise, bis der entscheidende Umzug erfolgte, bis sie in Plötzensee in den Todeszellen ihre letzte Heimat auf dieser Erde fanden.
Liebe Freunde, seit meiner Kindheit habe ich immer beim Gehen und Beten des Kreuzweges unseres Herrn bei der 10. Station meine Schwierigkeiten gehabt.
„Jesus wird seiner Kleider beraubt!“ Nicht, dass das Runterreißen der Kleider ihm unsagbare Pein bereiten musste – Nein, was mein Blut zum Wallen brachte, waren die lüsternen, hämischen und triumphierenden Blicke der Pharisäer und ihrer Handlanger, die sie auf seinen entblößten Leib warfen. Seit es den 20. Juli 1944 gibt und alles, was ihm folgte, liebe ich diese 10. Station des Kreuzweges: Jesus wird seiner Kleider beraubt!
Als unsere Freunde und alle unsere Mitstreiter den letzten Gang von den Todeszellen hierher zurückgelegt hatten, da hat man auch sie ihrer Kleider beraubt. Auch da wird mancher der Henkersknechte hohnvoll auf sie geblickt haben. Aber sie waren nicht verlassen. Einer war dabei. Er stand mitten unter ihnen. Und er hat auf jeden von ihnen geblickt, mit einem Blick voller Liebe; auf jeden von ihnen, die ihm auf seinem Kreuzweg bis hierher gefolgt waren.
Ja, Er, der Mensch gewordene Gottessohn muss dabei sein, wenn wirklich Großes werden soll, wenn Menschen in diesem Leben schon zur ganzen Größe des Ebenbildes Gottes heranwachsen sollen.
Das darf niemals vergessen werden. Vielleicht ist diese Größe für manchen, der unter uns lebt, ein Ärgernis. Er möchte auch zu den ganz Großen in seiner Umwelt gehören. Aber er schaffte es nicht. Darum muss das Große, das überwältigend Große, herabgezerrt werden, es muss ausgelöscht werden, damit Eitelkeit und Geltungsbedürfnis zu ihrer armseligen, nur zu schnell vergangenen und vergessenen Miniaturgröße herunterschrumpfen können. Wenn wir das große Lob- und Dankopfer in Erinnerung an unsere großen Toten dem heiligen, starken Gott darbringen, dann wollen wir im ehrlichen Bittgebet auch ihrer gedenken. Ein guter und barmherziger Gott möchte sich ihrer erbarmen, ihnen ein guter und starker Helfer sein, damit sie erkennen, dass Eitelkeit und Geltungsbedürfnis immer ein Hindernis sein werden auf dem Wege zur wahren Größe.
Liebe Freunde, bald nach dem 20. Juli 1954 schrieb mir eine Dame, die Mutter eines Offiziers, der an dieser Stelle seinen Opfertod gefunden hatte. Er war der einzige Sohn, geboren, als sein Vater im Ersten Weltkrieg schon sein Leben gelassen hatte. Ihr Anliegen war, ich möchte ihr behilflich sein, einmal diese Stätte besuchen zu können. Es ließ sich machen. An einem Morgen kam sie zu mir ins Kloster, wir feierten zusammen die heilige Messe, frühstückten und fuhren dann hierher. Wir weilten lange hier. Den Rest des Tages verlebten wir zusammen. Am Abend, als wir Abschied nahmen, ergriff sie meine Hand und sagte: „Pater, ich muss ihnen jetzt etwas offenbaren. In der letzten Nacht habe ich kein Auge zugemacht. Ich war voller Angst und Unruhe in Gedanken an Plötzensee. Jetzt aber bin ich ganz ruhig, ja, dankbar und glücklich. Ich durfte an der Stelle weilen und beten, an der mein Sohn die große Begegnung hatte mit dem Ewigen, Allmächtigen, Heiligen und guten Gott. Hier hat er ihn zum ersten Mal geschaut von Angesicht zu Angesicht!“
Geist, der das Leben weckt,
du bist der Schwachen Kraft,
gibst Ihnen Zuversicht
mitten in Todesnot;
hell wird uns offenbar,
was uns der Glaube sagt:
Christus hat unseren Tod besiegt.
Alles verwelkt im Tod,
Staub wird des Menschen Leib.
Doch wer in Christus stirbt,
wird in ihm auferstehn;
Wer sich zu ihm bekennt,
fürchtet die Marter nicht,
wird im Tode mit Christus eins.
Ihm, der als Weizenkorn
für uns zerrieben ward,
folgen die Jünger nach,
bringen sich dar mit ihm,
werden wie er zum Brot,
welches das Leben nährt,
Pilger stärkt auf dem Weg zu Gott.
Dich Herr, verehren wir,
König der Märtyrer.
Dein ist die Herrlichkeit,
von der ihr Glaube zeugt.
Führ uns durch deinen Geist
heim in des Vaters Reich,
wo in Ewigkeit Friede herrscht.
Amen.
Das Aufreißen alter Wunden
Predigt von Pater Odilo Braun am 20. Juli 1981 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Verehrte liebe Freunde,
jedes Jahr, wenn der Kalender uns zeigt, dass wir uns dem 20. Juli nähern, dann gibt es gerade in unserem Kreis nicht wenige, die mit innerer Unruhe, ja sogar mit Angst diesem 20. Juli entgegensehen. Da werden alte Wunden aufgerissen und manche Begebenheit, die längst vergessen geglaubt, steht plötzlich vor einem, ob er Handelnder oder Leidender war, so gegenwartsnah, als werde es eben erst miterlebt oder erlitten. Da werden wieder lebendig die Diskussionen mit Offizieren, die oft an entscheidenden Schaltstellen des Kriegsgetriebes saßen. Sie hatten im Laufe der Zeit immer mehr von dem Unrecht, das täglich und stündlich begangen wurde, erfahren und wurden immer mehr von Zweifeln gequält, ob sie diesem grausamen und unmenschlichen Regime noch länger ihre Dienste leisten konnten und durften.
Oft zogen diese Diskussionen sich quälend durch halbe oder ganze Nächte hin. Diese Männer, deren Urlaub oft kurz bemessen war, wollten nicht zurück an die Front, ehe sie nicht das Licht der Klarheit und den Mut zur Entscheidung gefunden hatten.
So sind sie und viele andere, Männer und Frauen, Widerstandskämpfer geworden. Sie wussten, was sie damit auf sich genommen hatten, dass sie fortan in ständiger Gefahr für Leib und Leben sich befanden. Sie hatten gewählt zwischen dem heiligen Dienst für den heiligen Gott und dem Frondienst für den Widersacher Gottes. Sie hatten gewählt zwischen dem festen Entschluss, Brüdern und Schwestern helfend und schützend zur Seite zu stehen, für ihre Menschenwürde einzustehen, – oder sich als feige Mitläufer zu verkaufen, die eigene Würde des Ebenbildes Gottes zu verlieren.
Darum sind sie auch nicht zerbrochen, als der Anschlag auf den Tyrannen misslungen war und sie nun der unmenschlichen Rache seiner blutgierigen Handlanger zum Opfer gefallen waren.
Wir wollen und dürfen den Erinnerungen nicht ausweichen. Sie gehören einfach zu unserem Leben. Ein Kämpfer, der weiß, dass die Häscher seit dem 21. Juli hinter ihm her sind, setzt seine Tätigkeit fort. Er hatte die Wäsche seines Freundes und Mitstreiters, der sie aus der Haft zum Reinigen herausgeschickt hatte, gesehen. Sie war nicht nur blutbefleckt, vielmehr blutdurchtränkt. Da wurde ihm klar, wie es bei einem „verschärften Verhör“ zuging, was also auch auf ihn wartete.
Es vergingen keine 3 Monate, dann war es so weit. Einzelhaft kann schlimm sein. Aber sie muss es nicht sein. Wer sich geistig zu beschäftigen weiß, ist glücklich, dass er die Muße hat, seine Gedanken zu ordnen und niederzuschreiben. Wie viele solcher Aufzeichnungen sind später in unsere Hände gekommen.
Man hatte, trotz der Einzelhaft, das Glück, Helfer zu finden. Mithäftlinge, die sofort durch ihr Verhalten zeigten, dass sie zu uns gehörten. Es klingt wie ein Märchen, wenn man erlebt, dass auch der SS-Mann, ein nicht mehr junger Sudetendeutscher, der äußerlich den strengen Gefängniswärter spielte, rührend bemüht war, hie und da für eine Erleichterung zu sorgen. Er ging auch so weit, zu kommen und mitzuteilen, dass zwei der engsten Mitstreiter aus München am Vorabend in der Lehrter Straße gelandet waren.
Dazu gab er die Erklärung: „Ich dachte, dass Sie das vielleicht interessieren könnte“. Sein größter und wertvollster Liebesdienst war, dass er der strengen Einzelhaft ein Ende setzte. Als er hörte, dass die Nichtteilnahme an der sogenannten Freistunde nicht ein freiwilliger Verzicht, sondern eine Haftverschärfung war, da muss er wohl in der Zentrale etwas manipuliert haben, mit dem Erfolg, dass man schon bei der nächsten Freistunde mit dabei war.
Marion Gräfin Dönhoff hat schon 1945 in ihrem „In memoriam 20. Juli 1944“ geschrieben: „ ... denn das war es, was die unerbittliche Forderung jener Männer war: Die geistige Wandlung des Menschen, die Absage an den Materialismus und die Überwindung des Nihilismus als Lebensform. Der Mensch sollte wieder hineingestellt werden in eine Welt christlicher Ordnung, die im Metaphysischen ihre Wurzeln hat; er sollte wieder atmen können in der ganzen Weite des Raumes, die zwischen Himmel und Erde liegt, er sollte befreit werden von der Enge einer Welt, die sich selbst verabsolutiert, weil Blut und Rasse und das Kausalitätsgesetz ihre letzten Weisheiten waren.
Und eben damit waren diese Revolutionäre weit mehr als die Antipoden von Hitler und seinem unseligen System; ihr Kampf ist neben der aktuellen Bedeutung für das Zeitgeschehen unserer Tage auf einer höheren Ebene der Versuch gewesen, das 19. Jahrhundert geistig zu überwinden“.
Als hätte Marion Dönhoff die Männer, die SS-Gefangenen in der Lehrter Straße gesehen, so treffend und wirklichkeitsnah hat sie sie geschildert. So sah sie nun wirklich der, der nun ihr gleichberechtigter Mithäftling geworden war. Er sah nicht Jammer-Gestalten, die durch Hunger und Folter, dazu fast ständige Fesselung, zermürbt und verzweifelt waren – er sah mit Staunen und Bewunderung Männer, die hocherhobenen Hauptes ihre Kreise zogen, auf deren Gesichtern eine ungebrochene Sicherheit und Festigkeit lagen, als wenn sie stolz darauf waren, von Gott berufen zu sein, für ihn und Sein Gesetz und Seine Ordnung eintreten zu dürfen. Da war keine lange Vorstellung nötig – es durfte ja nicht gesprochen werden – um zu wissen, wen man vor sich hatte. So dauerte es auch nicht lange, bis man mit aller Vorsicht hier und da die heiligen Sakramente spenden konnte.
Unvergessen wird immer bleiben, dass zwei Kalfaktoren, die nicht zu unserem Kreis gehörten – es waren ein Jude und ein Bibelforscher –, sich bereit erklärten, Christopherus-Dienst zu leisten und unseren Männern die heilige Kommunion zu bringen. Sie hatten so selbstverständlich sich dazu bereit erklärt, weil sie mehr und mehr gelernt hatten, diese Männer zu bewundern, die alles Böse, das man ihnen antat, durch ihre gleichbleibende Ruhe und Zuversicht überwanden. Rührend war es zu erleben, wie sie, die beiden Christusträger, dann kamen, um sich zu bedanken, dafür, dass sie gewürdigt worden waren, den Männern die große Freude zu bereiten. Sie durften ja Zeugen sein, mit welch strahlender Seligkeit die Kommunikanten ihren Herrn und Erlöser in Brotgestalt entgegennahmen. So gingen sie mit dem Herrn weiter ihre Kreise, bis der entscheidende Umzug erfolgte, bis sie in Plötzensee in den Todeszellen ihre letzte Heimat auf dieser Erde fanden.
Liebe Freunde, seit meiner Kindheit habe ich immer beim Gehen und Beten des Kreuzweges unseres Herrn bei der 10. Station meine Schwierigkeiten gehabt.
„Jesus wird seiner Kleider beraubt!“ Nicht, dass das Runterreißen der Kleider ihm unsagbare Pein bereiten musste – Nein, was mein Blut zum Wallen brachte, waren die lüsternen, hämischen und triumphierenden Blicke der Pharisäer und ihrer Handlanger, die sie auf seinen entblößten Leib warfen. Seit es den 20. Juli 1944 gibt und alles, was ihm folgte, liebe ich diese 10. Station des Kreuzweges: Jesus wird seiner Kleider beraubt!
Als unsere Freunde und alle unsere Mitstreiter den letzten Gang von den Todeszellen hierher zurückgelegt hatten, da hat man auch sie ihrer Kleider beraubt. Auch da wird mancher der Henkersknechte hohnvoll auf sie geblickt haben. Aber sie waren nicht verlassen. Einer war dabei. Er stand mitten unter ihnen. Und er hat auf jeden von ihnen geblickt, mit einem Blick voller Liebe; auf jeden von ihnen, die ihm auf seinem Kreuzweg bis hierher gefolgt waren.
Ja, Er, der Mensch gewordene Gottessohn muss dabei sein, wenn wirklich Großes werden soll, wenn Menschen in diesem Leben schon zur ganzen Größe des Ebenbildes Gottes heranwachsen sollen.
Das darf niemals vergessen werden. Vielleicht ist diese Größe für manchen, der unter uns lebt, ein Ärgernis. Er möchte auch zu den ganz Großen in seiner Umwelt gehören. Aber er schaffte es nicht. Darum muss das Große, das überwältigend Große, herabgezerrt werden, es muss ausgelöscht werden, damit Eitelkeit und Geltungsbedürfnis zu ihrer armseligen, nur zu schnell vergangenen und vergessenen Miniaturgröße herunterschrumpfen können. Wenn wir das große Lob- und Dankopfer in Erinnerung an unsere großen Toten dem heiligen, starken Gott darbringen, dann wollen wir im ehrlichen Bittgebet auch ihrer gedenken. Ein guter und barmherziger Gott möchte sich ihrer erbarmen, ihnen ein guter und starker Helfer sein, damit sie erkennen, dass Eitelkeit und Geltungsbedürfnis immer ein Hindernis sein werden auf dem Wege zur wahren Größe.
Liebe Freunde, bald nach dem 20. Juli 1954 schrieb mir eine Dame, die Mutter eines Offiziers, der an dieser Stelle seinen Opfertod gefunden hatte. Er war der einzige Sohn, geboren, als sein Vater im Ersten Weltkrieg schon sein Leben gelassen hatte. Ihr Anliegen war, ich möchte ihr behilflich sein, einmal diese Stätte besuchen zu können. Es ließ sich machen. An einem Morgen kam sie zu mir ins Kloster, wir feierten zusammen die heilige Messe, frühstückten und fuhren dann hierher. Wir weilten lange hier. Den Rest des Tages verlebten wir zusammen. Am Abend, als wir Abschied nahmen, ergriff sie meine Hand und sagte: „Pater, ich muss ihnen jetzt etwas offenbaren. In der letzten Nacht habe ich kein Auge zugemacht. Ich war voller Angst und Unruhe in Gedanken an Plötzensee. Jetzt aber bin ich ganz ruhig, ja, dankbar und glücklich. Ich durfte an der Stelle weilen und beten, an der mein Sohn die große Begegnung hatte mit dem Ewigen, Allmächtigen, Heiligen und guten Gott. Hier hat er ihn zum ersten Mal geschaut von Angesicht zu Angesicht!“
Geist, der das Leben weckt,
du bist der Schwachen Kraft,
gibst Ihnen Zuversicht
mitten in Todesnot;
hell wird uns offenbar,
was uns der Glaube sagt:
Christus hat unseren Tod besiegt.
Alles verwelkt im Tod,
Staub wird des Menschen Leib.
Doch wer in Christus stirbt,
wird in ihm auferstehn;
Wer sich zu ihm bekennt,
fürchtet die Marter nicht,
wird im Tode mit Christus eins.
Ihm, der als Weizenkorn
für uns zerrieben ward,
folgen die Jünger nach,
bringen sich dar mit ihm,
werden wie er zum Brot,
welches das Leben nährt,
Pilger stärkt auf dem Weg zu Gott.
Dich Herr, verehren wir,
König der Märtyrer.
Dein ist die Herrlichkeit,
von der ihr Glaube zeugt.
Führ uns durch deinen Geist
heim in des Vaters Reich,
wo in Ewigkeit Friede herrscht.
Amen.