Das Mysterium der Schuld – Das Mysterium der Gnade

Gedenkstaette Deutscher Widerstand

Odilo Braun

Das Mysterium der Schuld - Das Mysterium der Gnade

Predigt von Pater Odilo Braun O.P. am 9. April 1970 in der Suehnekapelle "Jesus im Kerker" in Flossenbuerg

Meine Freunde,

eine Pflicht zu erfuellen, sind wir hierher gekommen. Die Pflicht, derer zu gedenken, die heute vor 25 Jahren hier an dieser Staette ihr Leben in die Hand ihres Schoepfers zurueckgegeben haben. Es wird an solchen Tagen viel von Ehrung gesprochen. Ich moechte dieses Wort gar nicht gebrauchen. Wenn Menschen andere Menschen mit Ehrungen ueberfallen, ist das oft sehr fragwuerdig. Die Maenner, derer wir heute gedenken, sind hoch erhaben ueber alles das, was Menschen an Ehrungen vollbringen koennen. Die Pflicht, wegen der wir heute hierher gekommen sind, besteht darin, dass wir heute und immer Vorsorge treffen wollen - dass ihr Leben, ihr Wirken, ihr Einstehen fuer Anstand und Menschenwuerde und fuer das, was wohlgefaellig ist in den Augen Gottes, wofuer sie mutig und klar und bis zum Letzten fest eingestanden sind - immer lebendig bleiben sollen. Vielleicht sind nur wenige Menschen der Weltgeschichte vor solche schweren, sittlichen Entscheidungen gestellt worden, wie diese Maenner. Sie waren aus Tradition, aus Erziehung gehalten, vieles anzuerkennen und zu bewahren, was dann, in der Zeit in der sie zum Kampfe antraten, missbraucht und luegnerisch weiter verkauft wurde. Sie sahen das, und sie wussten, wie Millionen von Menschen, von Kameraden darueber dachten, und sie wussten, dass man vielleicht einmal ihre Namen schmaehen wuerde, weil sie aufgestanden sind. Aber ihr Gewissen gebot ihnen, so zu handeln, wie sie es getan haben, und darum darf unmoeglich ihr Beispiel in unserem Volk und in der ganzen Welt vergessen werden.

Ich weiss, dass fuer viele Hinterbliebene und Angehoerige die Erinnerungen an diese Stunden sehr bitter sind. Wie viel Frauen und Kinder haben mitgelitten mit den Maennern, die hier und anderswo gefoltert und gepeinigt wurden. Aber wir koennen nicht umhin: wir koennen nicht die Wahrheit verfaelschen. Was schwer gewesen ist, muss auch schwer genannt werden. Was gemein war, bleibt Gemeinheit. Wenn wir noch so sehr darunter leiden, es bleibt bestehen. Und etwas anderes noch, was uns an solchen Gedenktagen zu schaffen macht: Wenn wir den Blick in die vergangenen Jahre wenden und dann sehen, wie viel Untat und Uebles und Entsetzliches veruebt wurde, dass es so war, als ob eine Schandtat die andere geboren hat und dass eine Schandtat der anderen folgte wie eine Woge auf stuermischem Meer der anderen, dass sie nicht abzusehen ist diese Flut von Untat - das macht uns immer irgendwie bestuerzt, ja geradezu hilflos. Was sollen wir mit dieser Flut von Unrecht anfangen, wie damit fertig werden, wie zu einem Verstaendnis kommen?

In diese Hilflosigkeit war ich einmal versetzt, als ich bald nach dem Kriege zum ersten Mal das Lager Bergen-Belsen besuchte. Es war ein diesiger, nasskalter November-Nachmittag. Die Daemmerung brach schon herein. Man sah nicht viel, man sah nur die Sandhuegel, an die je ein Brett angelehnt war, auf dem eine Zahl stand: 3000, 2500, 2800, 8000, 5000. Das war die Zahl der Toten, die unter diesen Huegeln ruhten. Mich hat es gefroren innen und aussen. Ich war entsetzt ueber das, was einem da so "in globo" dargestellt wurde. Ich konnte lange Zeit aus dieser Hilflosigkeit nicht herausfinden, weil ich mir sagte: wie kann ein guter Gott das zulassen, dass seine Geschoepfe sich so verhalten? Wie kann Er diesen permanenten Suendenfall dulden, in dem eine Suende sich auf die andere haeuft?

Bald darauf wurde in Bergen eine Kirche gebaut, die dem Kostbaren Blut des Erloesers geweiht ist. Diese Kirche und das Lager Bergen-Belsen sind dann bald zu einer Wallfahrtsstaette im Lande Niedersachsen geworden. Bald machte auch ich eine Wallfahrt mit dem katholischen Frauenbund von Braunschweig und war denn ganz befreit und dankerfuellt, als ich diese Kirche sah. Sie ist gebaut in der Form eines Kelches, und die offene Schale des Kelches ist geoeffnet hin zum Lagergebiet. So lag es nahe, sich darueber Gedanken zu machen und auch die entsprechenden Worte zu finden. Thomas von Aquin fiel mir ein mit seinem Hymnus an die Eucharistie:

"Adoro te devote latens Deitas - in tiefster Ehrfurcht bete ich Dich, verborgene

Gottheit an"

und an die vorletzte Strophe dieses Hymnus musste ich denken:

"Pie pelicane, Jesu domine, me immundum munda tua sanguine, cuius una

stilla salvum facere totum mundum quit ab omni scelere - Guter Pelikan Jesu,

du mein Herr, mich Unreinen reinige du durch dein kostbares Blut, von dem ein

einziges Troepflein genuegt, die ganze Welt von aller Schuld heil zu machen."

Hier steht das Mysterium Gratiae dem Mysterium Iniquitatis gegenueber. Wenn wir alle das Geheimnis der Schuld nicht ergruenden koennen, der Herr kommt und setzt ihm das Geheimnis der Gnade gegenueber, die groesser ist und staerker als alle Schuld, wo das Schlimmste in der Gnade und Liebe des Herrn vergeben werden kann. Der Herr ist es, der die Gnade schenkt und die Liebe, in der er alle Schuld verzeiht.

Der Herr, der alle Schuld verzeiht, hat in seiner Bergpredigt ein Wort an uns alle gerichtet. Er sagt:

"Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die Euch hassen, betet fuer die,

die euch verfolgen und verleumden, damit ihr Kinder eures Vaters seid,

der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen laesst ueber Gute und Boese

und regnen laesst ueber Gerechte und Ungerechte".

Meine Freunde, ein schweres Wort! Der Herr, der das Geheimnis der Gnade dem Geheimnis der Schuld gegenueberstellt, er will, dass wir alle, wir, die wir Schuld und Gnade so ganz nahe erlebt haben, - er will, dass wir alle uns mit diesen Dimensionen auseinandersetzen und unsere Aufgabe, unsere Pflicht sehen, in die er uns in der Bergpredigt hineinberuft: den Feind lieben, fuer den beten, der dir Boeses getan! - Herr, was verlangst du da von uns!

Am 14. Dezember 1944 kam ich von einem langen Verhoer zurueck in die Zelle. Ich hatte mir waehrend der Haft zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend denen, die mir nahe standen und um die ich priesterlich besorgt war, den Abendsegen zu schicken. Auch an diesem Abend, trotz meines Zustandes, machte ich mich daran, aus meiner Zelle den Abendsegen in die Weite zu schicken. Und wie ich dabei bin, faellt mir ploetzlich ein: jetzt schick auch dem den Segen, der dich heute den ganzen Tag gepruegelt hat. Ich sah das zunaechst wie eine Anfechtung. Ich sah ihn vor mir, sein Grinsen, dieses Haemische und alles, was damit verbunden war. Ich hoerte seine Worte und spuerte seine Schlaege. - Nein, Herr, das kann man doch nicht! - Dann fiel mir ein: wer bist du, und was verkuendest du? Wie willst du einmal bestehen koennen, wenn dieses Wort, die Forderung des Herrn aus der Bergpredigt an dich herantritt, und wenn du dann feige bist und dem Herrn den Dienst und die Gefolgschaft versagst! Ich bin auf die Knie gegangen und habe mit dem Herrn gerungen; und als ich dann endlich "Ja" sagte, war die Gnade da, dass ich nicht nur die Hand heben konnte zum Segen, sondern auch, dass der Segenswille dahinter stand. Aber es war schwer, so schwer, wie das Mysterium der Schuld zu verstehen ist. Aber ebenso klar und so stark wie das Mysterium der Gnade, das die Welt von aller Schuld heilen kann.

Meine Freunde, wir sind hierher gekommen, eine Pflicht zu erfuellen, das Gedenken der Maenner des heutigen Tages zu bewahren, lebendig zu erhalten und weiterzugeben. Wir gehen fort von dieser Stelle, um eine Pflicht zu erfuellen, dass wir allem Hass und aller Rach- und Vergeltungssucht absprechen, dass wir in Sorge um diese Welt und die Menschheit, die heute von Unruhe und Hass und Neid erfuellt ist, dass wir in Sorge um diese Welt dem Herrn sagen: Ja, Herr, ich bin bereit, Ernst zu machen, auch mit dem Schwersten, auch mit dem Gebot der Feindesliebe. Denn wenn deine Bekenner versagen, dann muessen wieder Martyrer werden.

Amen.






Weitere Reden

09.04.1970
Prof. Dr. Eberhard Bethge
Prof. Dr. Eberhard Bethge