Der Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht

Gedenkstaette Deutscher Widerstand

Eberhard Bethge

Der Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht

Predigt von Pfarrer Dr. Eberhard Bethge am 9. April 1970 in der Suehnekapelle "Jesus im Kerker" in Flossenbuerg

In dem Kreuz auf der Gedenktafel, die wir heute enthuellten, steht ein Spruch aus dem 2. Timotheusbrief, Kapitel 1, Vers 7:

"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist

der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe

und der Zucht."

I.

Mit widerstreitenden Gefuehlen sind viele von uns heute an diesen Ort gekommen. Dies ist kein Friedhof, an dem in aller Traurigkeit doch noch ein Stueck endlicher Versoehnung zu spueren waere. Es bleibt ein Ort unfasslicher Aengste. Es bleibt ein Ort der Sklavenarbeit fuer hybride Bauten, dort in Nuernberg. Es bleibt der Ort, an dem Zehntausende von Namen in unserem Namen ausgeloescht worden sind.

Dennoch sind wir gekommen mit einem verpflichtenden Wunsch, naemlich dessen zu gedenken, das uns geblieben ist: das sind die Namen, die uns an dieser Stelle nahe sind: Theodor Struenck und Karl Sack, Friedrich von Rabenau und Hans Oster, Ludwig Gehre und Wilhelm Canaris und Dietrich Bonhoeffer. Erlauben Sie mir diesen Namen noch einen hinzuzufuegen, weil er zu dieser Gruppe gehoert; sein Traeger endete am gleichen Tag und unter dem gleichen Vernichtungsbefehl: Hans von Dohnanyi.

Diese sieben Namen bedeuteten fuer uns einmal Leben und Liebe, Freude und Sorge, Schutz und Stolz. Ihre Traeger verkoerperten fuer uns grosse Ueberlieferungen und glaubten mit uns an eine neue Zukunft. Diese Namen sollten nach dem Willen der Herren dieses Lagers nicht mehr auf irgendeinem Friedhof zu finden sein, sondern mit den Namen der Zehntausenden an diesem Ort organisierter Schaendung und Loeschung von Namen untergehen. Nun aber werden sie gerade hier genannt. Nun bezeugen wir hier in aller Oeffentlichkeit und halten es in jener Tafel fest, dass die Traeger dieser Namen eben keinen privaten und keinen beliebigen Tod gestorben sind.

Diese Maenner bildeten eine Gruppe, die relativ fruehzeitig erkannte, was Deutschland sich selbst antat. Sie sahen die Chance, welche ihr Amt in der militaerischen Abwehr ihnen bot. Damit gerieten sie in einen tiefen Loyalitaetskonflikt, naemlich vor die Entscheidung, die beschworene Loyalitaet durch die andere des Gewissens zu ersetzen. Die normale Schutzfunktion, die in der militaerischen Abwehrorganisation ihr Amt ausmachte, war zum Instrument der Vernichtung des Humanismus degradiert. Nun ging es darum, dieses Instrument der Schutzpflicht fuer das geschaendete Humanum dienstbar zu machen. So ersetzten sie in ihren Herzen eines Tages entschlossen den Befehlshaber ihrer bisherigen Schutzfunktion durch einen anderen Befehlshaber und faellten damit unter einem reichlich befleckten Deckmantel die in Wahrheit allein moralische Entscheidung. So haben sie das Theoretisieren ueber Loyalitaeten und gespaltene Pflichten aufgegeben, haben geplant und gehandelt und die Konsequenzen bis zum Letzten gekostet.

Ihr abseitiger, einsamer und geschaendeter Tod war damit im Augenblick, als er hier geschah, schon viel oeffentlicher, als diejenigen wahrhaben wollten, die mit ohnmaechtiger Macht diese Maenner und ihren Tod verheimlichen wollten. Nun ist dieser Tod immer oeffentlicher und oeffentlicher geworden, und zwar in beiden Richtungen: in der Anklage und dem Gericht ueber uns und unser Land; wie aber erst recht auch in der eroeffneten Gnade fuer uns und unser Land, aus der wir vor Gott und vor den Voelkern leben und uns in Pflicht nehmen lassen. Was bedeutet es, dass diese Sieben nicht irgendwo und irgendwie geendet sind, sondern eben hier in der Solidaritaet mit den Millionen Ungenannten aus unzaehligen Nationen!

Dietrich Bonhoeffer sagte:

"Wir selbst werden es sein, die unseren Tod zu dem machen, was er sein kann: zum Tod in freiwilliger Einwilligung."

Mit der freiwilligen Einwilligung in die Tat und in die Folgen rueckten sie dicht an die, welche ohne jede "freiwillige Einwilligung" hier an diesem Ort ihren namenlosen Tod sterben mussten. Wer aber duerfte ohne solche Voraussetzung ueberhaupt wieder an heilvolles Leben glauben?

II.

In diesem Zusammenhang ist nun von der Realitaet des Christusgeistes jenes Spruches auf der Tafel zu reden. Wie die Sieben subjektiv auch immer zu dem Glauben, der uns ueberliefert ist, gestanden haben moegen - vielleicht unterschiedlich, vielleicht distanziert, vielleicht aber auch viel dichter dran, als wir zu meinen geneigt sind -, objektiv ist ihr Tod, wie wir ihn uns eben vergegenwaertigt haben, ein nicht mehr zu loeschendes Zeugnis fuer jenen Christusgeist, den das Kreuz an der Wand dort draussen meint. Dieser Christusgeist ist nicht "ein Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht."

Vor diesem Vers wird den Adressaten des Timotheusbriefes gesagt, dass sie "nicht einen knechtischen Geist empfangen" haben, sondern den Geist freier Soehne, die in eigener Entscheidung einwilligen in das, was auf sie zukommt. Sie gehoeren nicht zu denen, die wie es heisst, "sich abermals fuerchten muessten". Sie vollziehen nicht wie Sklaven, was sie alle zu vollziehen haben. Dies ist der Ausgangspunkt des Spruches: die Loesung aus jeder Fremdbestimmung durch die Befreiung aus dem Geist Christi.

Das Ziel, auf das der Spruch zugeht, wird dann in der Richtung beschrieben, in der wir jetzt hier ebenfalls zu denken anfingen, naemlich: "Trage nun mit an den Leiden des Evangeliums." Das "Evangelium" ist Gottes Menschenliebe, seine humanitas. Tragt deshalb mit in freier Einwilligung an den Leiden, die Gottes Menschenliebe unter uns erdulden muss!

Dieser zum Mitleiden befreite Christusgeist - das ist also ein "Geist der Kraft und der Liebe und der Zucht."

1.) Er ist ein Geist der Zucht

Manche uebersetzen: ein Geist der Verstaendigkeit und der Nuechternheit. Wir hoeren: das ist ein Geist, der sich nicht taeuschen und von der Macht betaeuben laesst, der die Ohnmacht der Macht durchschaut. Das ist deshalb ein Geist des Masses, der die eigene und anderer Begrenzung sieht. Das bedeutete damals: ein Geist, der nuechtern erkannte, wohin man getrieben wurde. Helmut von Moltke sagte 1941:

"Wie kann jemand so etwas wissen und dennoch frei herumlaufen? Mit welchem Recht? Der Sturm steht vor uns. Wenn ich nur das entsetzliche Gefuehl loswerden koennte, dass ich mich selbst habe korrumpieren lassen, dass ich nicht mehr scharf genug auf solche Sachen reagiere, wie sie geschehen, dass sie mich quaelen, ohne dass spontane Reaktionen entstehen."

Das war Geist der Zucht, der zunaechst sich selbst in den Griff bekam unter Schmerzen und Risiken; der sich informieren liess und dann informierte zur Schaerfung der Gewissen und zur Bereitschaft des Handelns, sei es frueher sei es spaeter.

2.) Der Christusgeist ist ein Geist der Kraft

Das ist die Kraft der freien Kinder Gottes, die sich nicht mehr als Knechte dirigieren lassen, sondern gerade wo die Sklavenhalter erfolgreich zu herrschen scheinen, ihre eigene Freiheit zurueckgewinnen und durchhalten. Christusgeist der Kraft laesst sich die wichtigen Entschluesse nicht mehr diktieren, sondern schreibt sie selber und haelt sie im extremen Fall der Einsamkeit auch durch. Christusgeist ist Entschluss- und Durchhaltekraft zugleich. Dietrich Bonhoeffer schrieb 1942:

"Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug bleiben und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein? Wer haelt stand? Allein der, der im Glauben und alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Gottes Ruf."

3.) Der Christusgeist ist ein Geist der Liebe

Er ist ein Geist, der die Gemeinschaft mit den Ausgestossenen endlich verwirklicht. Er ist der Geist, der das letzte Opfer bringt. Das hiess fuer die Unseren, dass sie nicht nur das Opfer des Lebens zu bringen hatten, sondern sich bereit fanden, auch die alte, bisher im Grunde fuer heil gehaltene Welt zu opfern. Den Offizieren und auch dem Pfarrer in dieser Gruppe fiel dieses Opfer am schwersten. Sie fanden sich aber bereit, auch das Opfer ueblicher guter Reputation ihrer Berufe als Offizier und als Pfarrer zu bringen; die scheinbare Kompromittierung in einem Masse auf sich zu ziehen, dass noch heute uneinsichtige Zeitgenossen ihre Verurteilung nicht revidieren. Letztere sehen nicht, wie die laengst zuvor geschehene, schreckliche Kompromittierung dieser Berufe gerade dieses einsamste Opfer noetig gemacht hatte. Bei Simone Weil heisst es:

" Es gibt Gelegenheiten, wo eine unendlich kleine Kraft entscheidend ist. Eine Gemeinschaft ist sehr viel staerker als ein einzelner Mensch. Aber jede Gemeinschaft hat, um zu existieren, Operationen noetig, die sich nur in dem einsamen Geist und im Zustand letzter Einsamkeit vollziehen."

Der Geist der Liebe aber nimmt auch solche Einsamkeit um der Gemeinschaft willen auf sich.

III.

Dieser Geist unabhaengiger Disziplin, tatbereiten Durchstehens und letzten Opferns, dieser "Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht" hat fuer uns an diesem Ort eine unentrinnbare Besiegelung erfahren. Der Tod hat ihm jede Zweideutigkeit genommen.

Nun sind wir gefragt, ob wir den besonderen Charakter dieses Todes in jenem Geist selber annehmen. Wir sind gefordert zu sehen, was auch diesen Maennern nur schwer aufging zu sehen: dass Abschied zu nehmen war von einem Deutschland, das nicht mehr einfach an die vorigen Zeiten anknuepfen konnte, das vielmehr tief veraendert und erneuert werden musste. Wir sollen sehen, dass mit den Maechten, die dieses Lager bauten und damit operierten, nicht nur eine Episode unserer Geschichte vor Gott und den Menschen zu Ende ging, sondern eine Epoche. Und die Schnittpunkte einer Epoche setzen Endgueltigkeiten, die man anerkennen muss, um neuen Generationen das Weiterleben zu oeffnen. Vergangene Formen gemeinsamen Lebens waren verspielt, vergangene politische Einheiten unumkehrbar zerschlagen. Der Tod dieser Maenner und der Geist, aus dem sie ihn gestorben sind, verpflichtet uns zu sehen, was ist und warum es so ist. Er bedeutet uns die Befreiung, ein Neues zu schaffen. Damit faengt unsere Antwort an auf die Frage, die diese Sieben uns stellen.

Hans Iwand, einer unserer grossen Theologen der Dreissiger, fragte Anfang der Fuenfziger und fragt auch heute:

"Dies, ihr Tod war doch das vornehmlichste Zeugnis des Gewissens fuer die Nation, fuer Europa, fuer den Frieden. Warum ist unser Gewissen, unser oeffentliches Gewissen noch so stumpf, dass jener Widerstand gegen die Usurpatoren, dass der dort gezeugte Opfertod so wenig Widerhall findet fuer die Neuorientierung unseres Landes und unseres nationalen Bewusstseins?"

Amen






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