Der 20. Juli 1944 und die DDR-Geschichtswissenschaft

Kurt Finker

Der 20. Juli 1944 und die DDR-Geschichtswissenschaft

Festvortrag von Prof. Dr. Kurt Finker am 19. Juli 1990 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Nach dem Scheitern der Aktion vom 20. Juli 1944 entfesselte die Gestapo eine Hetzjagd, nicht nur auf die beteiligten oder verdächtigten Menschen – sie machte auch Jagd auf Dokumente, auf Papiere. Es wird berichtet, dass viele aus der Umgebung Hitlers, ja sogar er wohl selbst, Betroffenheit zeigten, als sie erfuhren, dass die Bombe in der „Wolfsschanze“ nicht die Tat eines Einzelnen war, sondern dass hinter ihr eine weitreichende Verschwörung stand, in der die führenden Köpfe nicht nur wussten, wogegen sie waren, sondern auch dargelegt hatten, wofür sie waren. Unter den Dokumenten, die gefunden wurden, befand sich auch ein Aufruf, den das neue deutsche Staatsoberhaupt an das deutsche Volk richten sollte. Wer der Verfasser dieses Aufrufes war, wissen wir nicht genau, sicher gehören Dr. Carl Goerdeler und Oberst Claus Graf von Stauffenberg direkt oder indirekt dazu, jedenfalls von der Diktion her darf man es schließen.

In diesem Aufruf hieß es: „Unser Ziel ist die wahre, auf Achtung, Hilfsbereitschaft und soziale Gerechtigkeit gegründete Gemeinschaft des Volkes. Wir wollen Gottesfurcht anstelle von Selbstvergottung, Recht und Freiheit anstelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit anstelle von Lüge und Eigennutz. Wir wollen unsere Ehre und damit unser Ansehen in der Gemeinschaft der Völker wiederherstellen...“

Der Aufruf schloss mit den Worten: „Wir werden in harter Arbeit ringen müssen, um langsam wieder vorwärts und aufwärts zu kommen! Aber wir werden diesen Weg als freie Menschen in Anstand gehen und wieder die Ruhe des Gewissens finden.“

Der 20. Juli 1944 und alles, was wir aus der Zeit davor und danach damit verbinden, brachte viel Mut, Tapferkeit, Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit – erbrachte aber, wie schon aus dem kurzen Zitat ersichtlich, auch viele gute Gedanken für die Gestaltung der Zukunft des deutschen Volkes.

Wie sind wir mit diesem Erbe, mit diesem Vermächtnis umgegangen? Wie gehen wir heute damit um? Diese Frage steht wohl immer noch vor uns allen und wird noch lange stehen.

Ich bin aufgefordert worden und tue es gern, einige Gedanken und Tatsachen dazu vorzutragen, wie dieser Teil deutscher Geschichte in der DDR gesehen oder auch nicht gesehen wurde. Ich will die Auseinandersetzung mit bestimmten Tendenzen und Auffassungen führen und nicht vordergründig gegen einzelne Personen polemisieren. Dennoch wird sich die Nennung einzelner Namen nicht vermeiden lassen.

Ich muss auch ein Wort in eigener Sache voranstellen:

Der Blick der Geschichtswissenschaft auf den 20. Juli ist ein Thema, an dem ich persönlich nicht unbeteiligt bin. Ich habe die Entwicklung des Geschichtsbildes im Blick auf den 20. Juli in der DDR nicht nur aus nächster Nähe verfolgt, sondern zu meinem bescheidenen Teil durch Untersuchungen, Publikationen und Vorträge auch mitgestaltet – sowohl Positives, Vorwärtsweisendes als auch Negatives, Hemmendes. Wenn ich daher hier nur kontemplativ referiere, als Betrachter von außen, von hoher Warte, wird man sagen – und mit Recht –, dass ich mich nicht der persönlichen Verantwortung stelle, dass ich mich drücke! Wenn ich aber zu viel zu meiner Person sage, und ich hätte einiges zu sagen, würden sich sicher einige finden mit der Meinung, dass sich der Referent herausstreichen will. Es ist also eine Gratwanderung, die ich hier antrete. Ich hoffe, sie zu bewältigen – aber nicht – um gleich in medias res zu gehen – wie Generaloberst Fritz Fromm, dessen Wahlspruch lautete: „Wir liegen immer richtig“, der aber trotzdem, nachdem er Stauffenberg geopfert hatte, selbst noch wegen Feigheit erschossen wurde.

Einige knappe Bemerkungen zum historischen Umfeld, denn von den Ereignissen und Prozessen, um die es hier geht, trennen uns ja nun schon Jahrzehnte, die doch recht bewegt waren.

Ich muss zunächst einmal feststellen – wie es auch aus allen einschlägigen Quellen ersichtlich ist, dass der Aufbau einer neuen Ordnung nach der Befreiung vom Faschismus 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (im folgenden SBZ) eindeutig unter antifaschistischen Vorzeichen begann. Das entsprach nicht nur den Festlegungen der Siegermächte, das entsprach auch den Vorstellungen der deutschen Nazigegner – von den Kommunisten bis hin zu den Konservativen, die alle jetzt politische und damit staatliche Verantwortung übernehmen mussten für einen Zustand, den sie durch ihren Widerstandskampf gerade hatten verhindern wollen. Dies schlug sich nieder in den programmatischen Erklärungen der sich formierenden Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen. So hieß es in der Erklärung des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien vom 14. Juli 1945 über gemeinsame Hauptaufgaben:

„Zusammenarbeit im Kampf zur Säuberung Deutschlands von den Überresten des Hitlerismus und für den Aufbau des Landes auf antifaschistisch-demokratischer Grundlage. Kampf gegen das Gift der Naziideologie wie gegen alle imperialistisch-militärischen Gedankengänge.“

Diese Zielsetzungen bestimmten damals die Politik in allen Bereichen, zumal an der Spitze der Parteien und neuen Staatsorgane in der Mehrzahl Menschen standen, die ihre antifaschistische Haltung durch die Tat bewiesen hatten, von denen viele im illegalen Widerstand oder im Exil in Ost und West oder an den Fronten des Krieges gekämpft hatten. Das gilt für Jakob Kaiser wie für Theodor Steltzer, für Gustav Dahrendorf und für Walter Ulbricht, die alle, neben weiteren, den oben zitierten Aufruf der vier Parteien unterzeichnet hatten. Dass es einige Jahre später anders aussah, werde ich noch deutlich machen. Doch ich bin überzeugt, dass in der SBZ von Anfang an Klarheit über den Begriff „Widerstandskampf“ bestand und damit auch eine eindeutige Auslegung der daraus resultierenden Konsequenzen. So gab es – zumindest in der offiziellen Sicht – keinen Zweifel, dass alle, die gegen Hitlerdeutschland gekämpft hatten, im Gesamtinteresse des deutschen Volkes gehandelt, also patriotisch gehandelt hatten. Das galt nicht nur für die Illegalen in Deutschland und in den anderen Ländern, das galt auch für die Männer und Frauen des 20. Juli, für die Angehörigen des Nationalkomitees „Freies Deutschland“, auch für die Kundschafter, die Informationen aus Nazideutschland an die Alliierten übermittelten und selbstverständlich auch für jene, die in den Armeen oder Partisaneneinheiten der Anti-Hitler-Koalition gegen die Naziwehrmacht gekämpft haben – in der Ausstellung in der Stauffenbergstrasse sind stellvertretend dafür Stefan Heym und Konrad Wolf genannt und gezeigt.

Es gab bekanntlich in den Westzonen bez. in der DDR lange Diskussionen – vielleicht gibt es sie heute noch – über die Frage, ob die Kundschafter der Schulze-Boysen-Harnack-Organisation oder die Kämpfer des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ zum deutschen Widerstand gerechnet werden dürfen. Viele Hinterbliebene der Männer des 20. Juli mussten lange warten, ehe sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt und versorgt wurden, galten sie doch zunächst als Hinterbliebene von Landes- oder Hochverrätern. Ich kann mich noch erinnern an die Randale um die Künstlerin Marlene Dietrich hier in Westberlin, weil sie während des Krieges in der Uniform der amerikanischen Armee gegen die Nazis aufgetreten war, oder an die Kampagne gegen Willy Brandt, zu den Bundestagswahlen 1961, bei der ihm als Belastung vorgeworfen wurde, er hätte im Zweiten Weltkrieg in norwegischer Uniform gegen deutsche Soldaten gekämpft, was nie der Fall war. Ich persönlich habe große Hochachtung vor Herrn Brandt, hätte er das getan, was ihm damals vorgeworfen wurde, wäre meine Hochachtung nur noch größer!

Solche Probleme und Diskussionen gab es in der SBZ natürlich auch, aber unterschwellig, offiziell nicht zugelassen. Sie wurden ignoriert, um das reine Bild der antifaschistischen DDR nicht in Frage zu stellen. Diese Fragen aber waren da und sie kommen wieder, heute besonders im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus.

Es ist aber heute hier vom Veranstalter und von mir nicht vorgesehen, über Gemeinsames und Gegensätzliches zwischen Stalinismus und Faschismus zu sprechen. Gewiss gab es in den Methoden beider Diktaturen, weil es Diktaturen von Minderheiten waren, viele Ähnlichkeiten; ich wehre mich aber entschieden gegen eine Gleichsetzung. Für uns Deutsche sollte diese Frage aber kein Grund sein, unsere eigene Geschichte zu verdrängen, denn der Faschismus in seiner brutalsten, blutigsten und aggressivsten Gestalt war vor allem eine deutsche Angelegenheit. Ohne eine Zensur auferlegen zu wollen, halte ich es zuerst mit dem Wort von Bertolt Brecht: „Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen.“

Noch einmal zurück zum Jahr 1945. Zum ersten Jahrestag des Attentats, am 20. Juli 1945, veröffentlichte die „Deutsche Volkszeitung“, das Zentralorgan der KPD, einen würdigenden Artikel von Anton Ackermann, damals Mitglied des Zentralkomitees der Partei: „Der 20. Juli 1944 und seine Lehren“.

Ackermann nahm damit nicht zum ersten Mal zum 20. Juli Stellung. Er hatte bereits nach dem 20. Juli 1944 in der Sowjetunion als Mitglied des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ in Zeitungen, Rundfunkansprachen und Vorträgen die Tat als nationale Befreiungstat gewürdigt. Er hielt am 16. August 1944 im Nationalkomitee einen informativen Vortrag über die Vorgänge in Deutschland. Ackermann hatte mir seinerzeit, Ende der 60er Jahre, als ich ihn noch persönlich kennen lernte, seine handschriftlichen Vortragsnotizen zur Auswertung zur Verfügung gestellt – ich habe sie auszugsweise auch veröffentlicht –, in denen zu lesen ist:

„Schicksalsfrage – Leben und Tod: Sturz Hitlers und Frieden.

Leben der Nation – jedes Mittel recht.

Große vaterländische Tat.

Hut ab! Tapfere Männer.

Gehängte – Kämpfer für die Rettung von Volk und Vaterland.“

Jetzt sprach er wieder von einer „mutigen Tat“ und von einer „relativ bedeutenden illegalen Bewegung entschlossener Männer aus ganz verschiedenen Lagern und verschiedenen Schichten des Volkes“. Er analysierte sachlich-kritisch die Ursachen für das Scheitern – soweit die damals vorhandenen Informationen dies zuließen, vermied aber jede moralisierende Bewertung – wie es dann später vordergründig geschah. Er stellte abschließend fest: „Sollte der Kampf zum Sturz Hitlers mit Erfolg geführt werden, dann konnte man vor den offenen Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken, und der Appell zur Volkserhebung, zum offenen Kampf vor allem des schaffenden Volkes mußte die Achse jedweder Umsturzplanung sein. Die Volkserhebung durch eine Art Palastrevolution ersetzen zu wollen, das mußte scheitern.“ Seine Schlussfolgerungen fügten sich ein in den antifaschistischen Konsens, der damals alle Parteien ohne Gleichschaltung, Unterordnung oder Vermischung der Unterschiede verband: „Eine konsequentere Politik der antifaschistischen Einheit, basierend vor allem auf der Aktivität der gesunden Kräfte des schaffenden Volkes, hätte andere, erfolgversprechende Perspektiven des Kampfes gegen Hitler, für Frieden und Freiheit eröffnen können. Möge diese Hauptlehre des 20. Juli 1944 heute vor allem erkannt und von niemandem im antifaschistisch-demokratischen Lager vergessen werden.“

Leider wurde diese Hauptlehre in den Wind geschlagen, sowohl von restaurativen bürgerlichen Kräften und von sozialdemokratischen Politikern als auch von den stalinistischen Führern in der KPD, die nach Vorherrschaft um jeden Preis strebten. So zerbrach der 1945 noch vorhandene antifaschistisch-demokratische Konsens, auch in den westlichen Besatzungszonen.

In der SBZ/DDR war die Entwicklung bereits seit 1947, besonders aber seit 1949, gekennzeichnet durch den mehr oder weniger erzwungenen Aufbau stalinistischer Strukturen, durch stalinistische Denk- und Verhaltensweisen. Ein Bestandteil dieser gesellschaftlichen Strukturen war die Durchsetzung des Machtmonopols der 1946 entstandenen SED, gestützt auf das Dogma von der „Gesetzmäßigkeit“ der führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei. Dabei handelte es sich nicht einmal um die Macht der SED als Ganzes, sondern um die Macht einer kleinen Führungsgruppe, die sich nicht auf die breite Mitgliedschaft, sondern auf den Apparat stützte. Diese Entwicklung – und darum erwähne ich sie hier – hatte auch Auswirkungen auf das Geschichtsbild im Allgemeinen und auf die Stellung zum 20. Juli im Besonderen.

Ich möchte sagen, dass der Antifaschismus 1945/46 durchaus von der Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, angenommen wurde. Für mich und meine Generation, die wir noch an der Endphase des Krieges teilgenommen hatten, war angesichts des völligen Zusammenbruchs die Erkenntnis und das Wissen sehr wichtig, dass es damals auch Deutsche gab, die auf der richtigen Seite gestanden und gekämpft hatten. Das war von großer Bedeutung, um in den Wirren der Zeit politischen Halt zu finden.

In den folgenden Jahren allerdings vollzogen sich im Osten und im Westen Deutschlands widerspruchsvolle Änderungen, über die ich – was den Osten betrifft – etwas sagen muss, weil sie auch die Geschichtsschreibung betreffen und beeinflussen. Der Antifaschismus blieb ein Grundprinzip der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Aber er wurde mehr und mehr ausgehöhlt, wurde zur Fassade, diente schließlich zur historischen Legitimierung eines bürokratisch-zentralistischen Systems, das sich immer mehr vom Volk entfernte und sich darum auch der Idee des Antifaschismus entfremdete. An die Stelle der wirklichen, in das Bewusstsein dringenden Pflege des Erbes trat das verordnete Ritual. Riten, die sich aus einem positiven Inhalt herausgebildet haben, sind durchaus nichts Abwegiges, sind nicht unbedingt negativ zu besetzen. Hier aber meinte ich die Ritualisierung, womit ich sagen will, dass die Zeremonie, die äußere Erscheinung im Vordergrund steht und das Wesen nicht mehr verinnerlicht wird. Diese Gefahr einer Aushöhlung, einer bloßen Ritualisierung bedeutender Inhalte steht, so glaube ich, ständig vor uns allen, die wir uns mit Geschichte, Erbe und Tradition befassen.

Wenn ich hier kritisch und selbstkritisch von einer Aushöhlung, von einer Formalisierung des Antifaschismus spreche, darf ich aber zugleich nicht ungerecht sein. Es gab und gibt in der DDR viele Frauen und Männer des Widerstandes, die die Werte und Ideale, für die sie gestritten, für die sie Qualen erlitten hatten, bewahren, weitergaben und weitergeben. Wenn ich sage, dass der Antifaschismus in der DDR auch dazu dienen musste, eine stalinistische Diktatur zu legitimieren, dann trifft das aber nicht die vielen Lehrer, Journalisten, Referenten und andere, die bemüht waren, im gleichen Sinne zu wirken.

Insgesamt aber wurde versucht, durch Reglementierung, durch Verbote, durch Verschweigen unbequemer Tatsachen, durch die sogenannte „flächendeckende“ Überwachung den Eindruck hervorzurufen, dass die DDR eine reine, blütenweiße antifaschistische Republik sei, in der es weder Faschismus noch Neofaschismnus, weder Ausländerfeindlichkeit noch Rassenhass gebe. Ich darf für die meisten meiner Kollegen und für mich sagen, dass wir als Lehrer und Hochschullehrer uns durch Wort und Schrift bemüht haben, diesen formalen Eindruck nicht noch zu verstärken, sondern tatsächlich durch unsere Argumente daran mitzuarbeiten, dass diese genannten Erscheinungen nicht auftreten. Doch schon allein die Erwähnung solcher Begriffe wie Neonazismus, Ausländerfeindlichkeit in Bezug auf die DDR war schon diskriminierend, es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Die Führung vertraute lieber der „flächendeckenden“ Überwachung und unterdrückte die offene demokratische Auseinandersetzung. Jetzt, wo alles offen zutage liegt, zeigt sich, dass die von oben verordnete antifaschistische Fassade eine Lüge war, was, schon mit Nachdruck gesagt, das ehrliche antifaschistische Bemühen vieler Menschen nicht in Frage stellt. Hinzu kommt ein Phänomen, das sicher nicht von den Historikern allein erklärt werden kann, das Phänomen nämlich, dass viele von denen, die in der DDR herrschten, einst, vor Jahrzehnten, als ehrliche und selbstlose Widerstandskämpfer angetreten waren, dann aber, zu Macht gekommen, in die Rolle sozialabsolutistischer Diktatoren hineinwuchsen und sich dort etablierten. Ich habe bisher nur eine Erklärung dafür: absolute Macht verdirbt absolut!

Doch nun speziell zum 20. Juli und seiner Interpretation. Der 20. Juli 1944 ist eine in sich sehr heterogene historische Erscheinung. In dieser Bewegung wirken Kräfte aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern, die sich unterschieden hinsichtlich der Herkunft, der Motivation, der Art und Weise des Vorgehens gegen das Hitlerregime und besonders der politischen und sozialen Zukunftsvorstellungen. Daraus folgt – was nicht überraschen darf, dass diese komplizierte, widerspruchsvolle Erscheinung auch sehr unterschiedlich interpretiert und aktualisiert werden konnte. Einmal etwas sarkastisch und lax ausgedrückt: Die politische Palette reichte von den Kommunisten bis zu Prinz Louis Ferdinand von Preußen! Hier konnte sich also im Nachhinein jeder bedienen, und sowohl Historiker als auch Politiker taten das ausgiebig. Man kann wohl dem DDR-Historiker Dr. Kurt Goßweiler zustimmen, wenn er schreibt: „Es gibt nur wenige andere Gedenktage der deutschen Geschichte, an denen so auffällig abzulesen ist, wie sehr aktuelle Bedürfnisse dazu führen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt jeweils neue Fragen an die Geschichte zu stellen und jeweils andere Seiten desselben Ereignisses stärker als früher zu beleuchten.“

Ich denke, dass ein solches Herantreten an die Geschichte durchaus legitim ist und nichts mit einem willkürlichen „Umschreiben“ zu tun hat.

Es ist bekannt, dass in der Bundesrepublik lange Zeit der 20. Juli zum höchsten, für manche sogar zum einzigen Ausdruck des deutschen Widerstandes deklariert wurde. In der DDR dagegen wurde dieses Ereignis in den 50er Jahren an den Rand der Geschichte gedrängt, ihm wurde sogar der Charakter einer Widerstandsaktion abgesprochen, ja, es wurde als ein reaktionäres, im Grunde volksfeindliches Unternehmen disqualifiziert. Der Blick auf den 20. Juli war Ende der 40er Jahre und in den 50er Jahren im Wesentlichen durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

1. In den Vordergrund trat die Erforschung und Darstellung des Widerstandes der Arbeiterbewegung, vor allem der KPD. Das war zunächst von der historischen Bedeutung her keineswegs abwegig, denn aus den Reihen der KPD kamen die meisten Widerstandskämpfer, die Partei war dem schärfsten Terror ausgesetzt, sie musste die größten Opfer bringen. Sie verfügte auch über eine zentrale Auslandsleitung und zeitweilig über größere illegale Organisationen in Deutschland selbst. Dazu stehe ich nach wie vor. Unwissenschaftlich aber war die Hypertrophierung der Rolle der KPD, die Einseitigkeit der Darstellung. Und eben das war nicht aus der wissenschaftlichen Erkenntnis abgeleitet, sondern durch politische Zwecksetzung vorgegeben. So wie die SED im Lande die „führende Rolle“, d.h. das Machtmonopol, beanspruchte, so sollte auch in der Vergangenheit die KPD allein die führende Kraft des Widerstandes gewesen sein, im Alleinbesitz der „ewigen Wahrheiten“, der allein richtigen politischen Linie.

Dabei wurden unbequeme und peinliche Fragen und Angelegenheiten verschwiegen, bestimmte archivarische Quellen befanden sich unter Verschluss und waren den Historikern nicht zugänglich, die bekannten „weißen Flecken“ oder auch „schwarze Flecken“ wurden in den Darstellungen ausgespart. Es gab natürlich auch Fortschritte, besonders in den 60er Jahren, aber insgesamt wurde ein geschöntes, vor allem heroisierendes Bild der Parteigeschichte gezeichnet. Wir waren erst in den letzten zwei Jahren, als uns mehr Publikationen aus dem Westen zur Verfügung standen, in der Lage, hier Schritt für Schritt Barrieren einzureißen. So bin ich persönlich Herrn Prof. Dr. Hermann Weber aus Mannheim sehr dankbar, weil er mir durch die Überlassung mancher seiner Publikationen in dieser Hinsicht sehr geholfen hat.

2. Der nichtkommunistische Widerstand wurde in den Publikationen durchaus berücksichtigt, spielte lange Zeit aber eine untergeordnete Rolle. Das ist nicht nur quantitativ gemeint, also was die Zahl der Publikationen anbetrifft. Mehr noch ist es eine qualitative Frage, eine Frage der historischen Bewertung und Einordnung. Der nichtkommunistische Widerstand wurde zu dieser Zeit vorwiegend nur unter dem Aspekt der Bündnispolitik der KPD betrachtet. Das bedeutete: Kriterien für die Einschätzung der nichtkommunistischen Kräfte waren a) ihre Einstellung zur KPD und b) ihre Einstellung zur Sowjetunion, ihre Bereitschaft, mit der KPD und der SU zusammenzuarbeiten. Danach erfolgte zumeist ihre Bewertung als „fortschrittlich“ oder „reaktionär“.

3. Zur Geschichte des 20. Juli 1944 gab es in den 50er Jahren noch keine größeren wissenschaftlichen Darstellungen, auch nicht zu den einzelnen Personen. Es gab aber eine Reihe von Zeitschriftenaufsätzen, die im Wesentlichen keine Forschungsergebnisse brachten, sondern die Aufgabe hatten, die politische Orientierung, nach der die Bewertung der Ereignisse erfolgen sollte, vorzugeben, also gegenüber den zahlreichen westlichen Veröffentlichungen die entgegengesetzte Marschrichtung anzugeben.

Kennzeichnend war zu dieser Zeit in diesen Aufsätzen eine bipolare Betrachtungsweise, d.h. das Sichtbarmachen einer dominierenden „reaktionären“ Linie in der Bewegung, die ihren Charakter bestimmt hätte, und andererseits der Hinweis auf die „fortschrittliche“ Linie, die aber nicht bestimmend gewesen sei. Im Vordergrund stand das Anliegen, die Verschwörung vom 20. Juli als ein reaktionäres Unternehmen zu brandmarken, das in der Hauptsache die Aufgabe gehabt habe, angesichts der drohenden militärischen Niederlage Deutschlands Hitler zu beseitigen und die ökonomischen und politischen Machtpositionen des deutschen Finanzkapitals, des Großgrundbesitzes und der Militärkaste zu erhalten. Hitler musste beseitigt werden, weil er den Verhandlungen mit den Westmächten im Wege stand, dann sollte mit den Westmächten Frieden und Bündnis geschlossen und gemeinsam der Krieg gegen die SU weitergeführt werden, um wenigstens das Eroberte, das 1944 noch in deutschen Händen war, zu behalten.

Auf der anderen Seite habe die kleine Gruppe um Stauffenberg gestanden, die aus patriotischen Motiven gehandelt habe, um das Volk vor dem Untergang zu retten. Aber diese Gruppe habe den imperialistischen Charakter des ganzen Unternehmens nicht ändern können.

So war das Schema der Beurteilung, in allgemeiner Form ausgedrückt. Für die Bewertung gab es in der Regel politische Vorgaben, wie ich schon im Zusammenhang mit der KPD erwähnte. Die von mir verehrte Frau Dr. Marianne Meyer-Krahmer, geb. Goerdeler, hat dies kürzlich mir gegenüber in einem Satz sehr treffend ausgedrückt: Die Tatsache, dass Carl Goerdeler zeitweilig Mitglied des Vorstandes der Deutschnationalen Volkspartei war, genügte, um ihn ein für allemal in die rechte Ecke zu stellen! So war es in der Tat, und ich selbst war von einer solchen Betrachtungsweise nicht frei. Doch ich meine, dass ich mich dabei in guter Gesellschaft befand, auch zusammen mit westdeutschen Kollegen – nur, dass es sich bei ihnen nicht um die rechte, sondern um die linke Ecke gehandelt hat!

Mit einer solchen Geschichtsbetrachtung sollte nun Schluss sein.

Dies war, kurz gesagt, die damalige Betrachtungsweise. Man sollte dabei aber auch daran denken, dass es die Zeit des Kalten Krieges war, die sich auch in den Geschichtsdarstellungen widerspiegelte.

Ich möchte einige Zitate aus der DDR-Literatur jener Jahre anführen, auch wenn aus ihnen der Hauch des Kalten Krieges weht. So etwas muss nicht nur bedrückend sein, es kann auch optimistisch, befreiend stimmen, weil uns Heutigen daraus deutlich wird, dass wir doch jetzt in einer anderen Zeit leben.

In der „Einheit“, der damaligen theoretischen Zeitschrift der SED, erschien 1954 ein Artikel von Otto Winzer, in den 50er Jahren Staatssekretär und Chef der Privatkanzlei des Präsidenten der DDR, ab 1965 Außenminister der DDR. Darin heißt es:

„Das politische Ziel der Verschwörung des 20. Juli bestand denn auch nicht in der Beendigung des Krieges durch den Sturz Hitlers und die Errichtung einer wirklichen Volksmacht, sondern in der Beendigung des Mehrfrontenkrieges und der Weiterführung des Krieges an einer Front, nämlich gegen die Sowjetunion...

Der politische Sinn dieser Verschwörung war also der, Hitler so aus der Welt zu schaffen, daß es in Deutschland keine ernsthafte Volksbewegung gibt, daß das reaktionäre deutsche Monopolkapital im Bündnis mit der reaktionären Generalität vielmehr die Möglichkeit erhält, gemeinsam mit den reaktionären Kräften des englischen und amerikanischen Imperialismus den Krieg gegen die Sowjetunion, die erste Arbeiter- und Bauernmacht, weiterzuführen.“

In dieser Zeit proklamierte und forcierte die SED-Führung den Kampf gegen den sogenannten „Sozialdemokratismus“, was faktisch bedeutete die Liquidierung der sozialdemokratischen Komponente und Tradition in der Einheitspartei. Ausgehend von dieser politischen Vorgabe hielt Winzer sogar Dr. Julius Leber, der im Juni 1944 in Berlin mit den Vertretern der illegalen KPD verhandelt hatte, für einen Agenten des USA-Imperialismus:

„Es steht also außer Zweifel, daß Julius Leber zu den Sozialistenführern gehörte, mit denen der amerikanische Spionagechef Dulles durch Trott zu Solz in Verbindung stand. Diese Sozialistenführer fürchteten den wachsenden Einfluss der Kommunisten und der Befreiungspolitik der Sowjetunion und suchten eben deshalb Zuflucht bei den amerikanischen Imperialisten, von denen nun mal keine andere Politik als die einer nationalen Unterwerfung des deutschen Volkes bei Aufrechterhaltung der Herrschaft des Monopolkapitals in Deutschland zu erwarten war ... In dieser Zielsetzung waren sich die amerikanischen Hintermänner und die reaktionären Spitzen der Verschwörung vom 20. Juli denn auch völlig einig.“

Ein weiteres Beispiel aus dem Aufsatz eines DDR-Historikers „Die Wahrheit über den 20. Juli 1944 und die Lügen der Bonner Militaristen“:

„Der reaktionäre Kern der Verschwörung opponierte zwar gegen Hitler, aber er dachte nie daran, mit der aggressiven imperialistischen Politik überhaupt zu brechen und entschieden Kurs auf die Befreiung des Volkes von Faschismus, Militarismus und Krieg zu nehmen. Infolgedessen waren die ‚Oppositionellen’ nicht imstande, eine Politik zu entwickeln, die sich in ihrer Zielsetzung und mit ihrer ganzen Konsequenz gegen die militaristischen Verderber der Nation richtete ... Weil die leitenden Kräfte der Verschwörung das Volk am meisten fürchteten, kämpften sie nicht aktiv für die Beendigung des imperialistischen Krieges, lehnten sie das Bündnis mit den antifaschistischen Widerstandskämpfern und besonders mit der KPD ab, versuchten sie, die Mobilisierung der Volkskräfte zu verhindern. Dabei wurden sie auch von einigen sozialdemokratischen Führern um Wilhelm Leuschner und Carlo Mierendorff unterstützt, die sich auf die Verschwörung vom 20. Juli 1944 orientierten und sich gegen die antifaschistische Einheitsfront der Arbeiterklasse aussprachen. Dem lag das Bemühen zugrunde, den deutschen Imperialismus und Militarismus, ähnlich wie 1918, vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren ... Jedoch weder der Mut einiger patriotischer Offiziere noch die beginnende Orientierung solcher Sozialdemokraten wie Leber und Reichwein auf den von der KPD geführten antifaschistisch-demokratischen Widerstandskampf bestimmten den Charakter und die Zielsetzung der Verschwörung, sondern die reaktionäre Konzeption der Goerdeler-Gruppe und anderer Kreise der Verschwörung.“

Und schließlich noch ein drittes Zitat aus einer Studie von 1959:

„Jede nähere Untersuchung zeigt, dass im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 20. Juli 1944 von antifaschistischem Kampf nicht die Rede sein kann. Die Verschwörung war das Werk einer Gruppe reaktionärer Politiker und Militärs, die von gewissen Kreisen des Finanzkapitals um Schacht, Krupp, Bosch, Flick, Siemens u.a. inspiriert und gelenkt wurde, und die deren Interessen vertrat.“

Ein solches Urteil hatte natürlich mit Wissenschaftlichkeit nichts mehr zu tun, es war ausschließlich politischen Zwecken verpflichtet. Es sollte dazu dienen, die DDR als die Erbin der „progressiven Linie“ und die BRD als Fortsetzung der „reaktionären Linie“ der deutschen Geschichte zu kennzeichnen.

Einige persönlichen Bemerkungen dazu:

Diese Wertungen standen auch – wie schon gesagt – im Zeichen des Kalten Krieges der 50er Jahre. Der Hinweis, dass es Goerdeler und anderen Verschwörern auch um die Erhaltung des kapitalistischen Systems ging, ist natürlich berechtigt; etwas anderes ist aber auch von bürgerlichen Politikern kaum zu erwarten. Ebenfalls richtig und wohl auch verständlich ist der Hinweis, dass die bürgerlichen Politiker vordergründig auf die Westmächte und nicht auf die Sowjetunion orientiert waren. Auch das ist nahe liegend – wurde aber von den ideologiesetzenden Personen früherer Zeit als ein entscheidender Makel vermerkt.

Unsinnig ist die immer wiederkehrende Behauptung, dass die Verschwörer im Bündnis mit den Westmächten den Krieg gegen die Sowjetunion fortsetzen wollten. Sicher hat es bei dem einen oder anderen solche Wunschträume gegeben; sie waren aber in der Realität des Jahres 1944 Phantastereien, hatten sich doch Roosevelt und Churchill zu gemeinsamen Handlungen mit der SU bis zur Kapitulation Hitlerdeutschlands verpflichtet. Von Goerdeler wissen wir heute, dass er zwar kein Freund der SU war, dass er aber für die friedliche Lösung aller Konflikte im Rahmen des kapitalistischen Systems eintrat und auch einen Krieg gegen die SU verabscheute.

Ich muss aber auch noch bemerken, dass solche überzogenen Aussagen zuweilen auch provoziert wurden durch Aussagen westlicher Politiker und Historiker. Was damals vom Westen herüber tönte, war zuweilen sehr geeignet, dogmatische Erstarrung und Feindbilddenken im Osten zu fördern und unsachliche Reaktionen als glaubwürdig erscheinen zu lassen. Auch ich habe das nicht selten so empfunden.

Anfang der 60er Jahre nahm die Beschäftigung mit dem 20. Juli in der DDR stark zu, es entstand auch ein genaueres und sachlicheres Bild, ohne dass schon alle schematischen Betrachtungsweisen überwunden werden konnten. Bemerkenswert und weiteres Interesse hervorrufend war ein Fernsehdokumentarfilm von Karl Gass unter dem Titel „Revolution am Telefon“ anlässlich des 20. Jahrestages des 20. Juli 1964, an dem ich auch persönlich beteiligt war und wodurch ich überhaupt erst mit diesem Thema näher in Berührung kam. Aber der Titel – er soll sich auf eine Formulierung von Goebbels stützen – „Revolution am Telefon“ zeigt schon, dass es sich um eine stark negative Bewertung handelt.

Allgemein wurde jedoch eine größere Breite in der Sicht auf die Geschichte angestrebt und auch den bürgerlichen, christlichen und sozialdemokratischen Bewegungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Dies wurde in besonderem Maße auch durch die Impulse begünstigt, die von der Sowjetunion nach dem Tode Stalins und nach dem XX. Parteitag der KPdSU ausgingen. Mit der Kritik am Personenkult und der stalinistischen Terrorherrschaft wurde eine Phase der Entstalinisierung eingeleitet, die zwar nicht an die Wurzeln drang und auch nicht von Dauer war, die aber doch auch für die Geschichtswissenschaft größere Bewegungsfreiheit und neue Sichten auf bisher vernachlässigte Probleme brachte. Das galt zunächst vor allem für die SU, nur in eingeschränktem Maße für die DDR.

Bis dahin hatte es in der DDR weder eine Monographie noch Biographien zum 20. Juli und seinen bedeutenden Persönlichkeiten gegeben. Der Durchbruch wurde eingeleitet durch das Erscheinen des Buches „20. Juli 1944. Legende und Wirklichkeit“ des sowjetischen Historikers Prof. Daniil Melnikow in deutscher Sprache 1964. Im Gegensatz zu früheren sektiererischen Auffassungen in der DDR wertete Melnikow den 20. Juli – bei aller gebotenen Differenzierung zwischen den Gruppen und Personen – eindeutig als bedeutenden Teil des antifaschistischen Widerstandes in Deutschland.

Auf dieser Ausgangsbasis erschien 1967 die erste Stauffenberg-Biographie in der DDR: „Stauffenberg und der 20. Juli 1944“, im Union-Verlag, dem Verlag der damaligen GDU in der DDR. Wenn auch noch der bipolaren Darstellungsweise verhaftet, wurde hier das Handeln Stauffenbergs und seiner Gefährten als Widerstandskampf, als Kampf für die Beendigung des Krieges, für die Rettung des Volkes umfassend gewürdigt und es wurde auch erstmalig nachgewiesen, dass der Kreis der Verschwörer erheblich größer war, als aus den bisherigen Darstellungen ersichtlich.

Das Buch löste lebhafte Diskussionen aus und stieß in der DDR auf erheblichen Widerstand seitens ideologiesetzender Kreise. „Höheren Orts“ wurde festgelegt, das Buch mit Schweigen zu übergehen, so dass fast keine Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen. Das „Neue Deutschland“ brachte eine Besprechung unter der Überschrift „Ein umstrittener Held“, womit Stauffenberg gemeint war. In der BRD dagegen schrieb sogar Prof. Hans Rothfels persönlich in der „Historischen Zeitschrift“ die Rezension. Wenn diese auch vorwiegend kritisch-negativ ausfiel, so gereichte das persönliche Engagement des international bekannten Rothfels dem damals noch weitgehend unbekannten Autor zu einer großen Genugtuung.

Kompliziert für den Autor wurde es, als das Buch im Westen auch kritisch-positive Reaktionen fand. So hieß es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 5. September 1968 über das Buch und seinen Autor: „Man mußte – von der strikten marxistischen Weltanschauung her – manche Bosheiten oder gar Invektiven fürchten. Aber Anwürfe und Schmähungen halten sich nicht nur in engen Grenzen. Oft sind sie wohl bewußt ausgeblieben. Dieses Buch stellt eine Sensation dar. Sein Ziel heißt Sachlichkeit.“ Weiter hieß es, dass es beim Autor auch „Fehler und Gebrechen“ gibt. „Sie veranschaulichen die Grenzen, die offenbar kein DDR-Historiker überspringen kann. Wir haben kaum Anlaß, auf Finkers weltanschauliche Pflichtübungen mit Hochmut herabzusehen. Vieles liegt auch in unserer Historiopraphie des deutschen Widerstandes im argen. Kaum, daß sie dabei ist, ihre größten Fehler und Unterlassungen zu korrigieren. Hier wäre vor allem an die Furcht westdeutscher Historiker vor dem kommunistischen Widerstand zu erinnern. Bei Finker begegnet man dafür der nicht haltbaren These, daß die kommunistische Résistance die Vorhut des Widerstandes gewesen sei. Wiederum muß Goerdeler – oft gegen die zitierten Zeugnisse – als Prototyp des Reaktionärs herhalten.“ Abschließend schrieb der Rezensent: „Lassen wir alle hochgemuten Apotheosen beiseite: Zu ihnen haben – bei Lichte besehen – Ost und West wenig Grund. Nutzen wir lieber Finkers anständig und sauber geschriebenes Buch, um uns über das schlüssig zu werden, was Stauffenberg wirklich gewollt hat. Damit würde ihm, dem noch immer verkannten Attentäter, die größte Ehre zuteil.“

Solche Urteile erregten den Argwohn bestimmter, ideologiesetzender Kreise in der DDR, zumal die zitierten Ausführungen in der FAZ, dem Blatt des aggressiven imperialistischen Finanzkapitals Westdeutschlands erschienen waren. Es galt für uns damals der Satz, den wir im Prinzip auch akzeptierten: „Wenn dich deine Feinde loben, hast du einen Fehler gemacht; wenn sie dich beschimpfen, bist du auf dem richtigen Weg!“

Dieser Satz – er soll von August Bebel stammen – enthüllt ja viel Wahres, nur muss der Ausgangspunkt klar sein: Wer sind die Feinde? – Als sich Autor und Rezensent später persönlich näher kamen, stellten sie fest, dass sie nicht die Absicht hatten, einander umzubringen oder sich gegenseitig zu vereinnahmen.

Dieses Denken in vorgefassten Feindbildern ist sicher aus einer bestimmten historischen Situation heraus erklärbar, sollte jedoch heute der Vergangenheit angehören. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass es immer Meinungsverschiedenheiten, ja auch gegensätzliche Standpunkte in der Beurteilung historischer Erscheinungen geben wird, vielleicht sogar auch Invektiven, die man aber gelassen nehmen sollte.

Obwohl die genannte Stauffenberg-Biographie von 1967 nach wenigen Tagen vergriffen war – in einer Auflage von 12 000 Exemplaren –, wurde keine Neuauflage vorgesehen. Ein Mitarbeiter des damaligen Ministeriums für Volksbildung erklärte dem Autor: Ein Stauffenberg genügt uns!

Doch das allgemeine Interesse, das Prof. Melnikow in Moskau für dieses Thema äußerte, brachte eine Änderung in der Haltung der zuständigen leitenden Funktionäre. Für die zweite Auflage, die dann 1971 vorlag, musste aber ein längeres Abschlusskapitel zur „Aktualisierung“ des Themas geschrieben werden, um die Druckgenehmigung des Ministeriums für Kultur zu erhalten. Dieses Abschlusskapitel haben dann der Autor und der Cheflektor des Verlages gemeinsam verfasst. So kam es zu einer Neuauflage. Bis 1989 erschienen inzwischen insgesamt sieben Auflagen – sicher ein Zeichen dafür, dass nach wie vor großes Interesse für das Thema besteht, abgesehen von den Lizenzausgaben bez. Übersetzungen in der BRD, der CSR, in Polen und in der Sowjetunion (1976).

In den 70er und 80er Jahren erschienen in größerem Maße Arbeiten, die sich mit bisher ausgesparten und weniger berücksichtigten Themen der deutschen Geschichte befassten, auch mit einer erweiterten Sicht auf den 20. Juli 1944.

Ein heute merkwürdig anmutender Umstand förderte offiziell die Beschäftigung mit dem 20. Juli und mit anderen bürgerlichen und konservativen Erscheinungen der deutschen Geschichte. Es war die These von der angeblichen Herausbildung einer sozialdemokratischen deutschen Nation in der DDR im Gegensatz zum Weiterbestehen der bürgerlichen deutschen Nation in der BRD. So absurd diese These war – objektiv förderte sie die Geschichtswissenschaft, indem die Historiker aufgefordert wurden, die deutsche Geschichte in ihrer ganzen Breite und Tiefe, nicht nur begrenzt auf revolutionäre und proletarische Bewegungen, zu erforschen und darzustellen. Wir haben es also hier mit einer wahrhaft mephistophelischen Erscheinung zu tun, die Böses wollte, aber in diesem Falle auch zugleich Gutes förderte.

Bisheriger Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem 20. Juli war das Kolloquium aus Anlass der Würdigung des 40. Jahrestages des Umsturzversuches, das am 13. Juli 1984 in Ost-Berlin durchgeführt wurde.

Der Gedenktag wurde zum Anlass genommen nicht nur für eine allgemeine Würdigung, sondern zugleich auch für grundlegende theoretisch-methodische Erörterungen über die Stellung des 20. Juli in der deutschen Geschichte, insbesondere in der Geschichte des antifaschistischen Widerstandskampfes. Wesentliche Akzente wurden neu gesetzt, dogmatische Einengungen überwunden, fruchtbare Impulse für die weitere Erforschung und Behandlung dieser Vorgänge gingen von der Beratung aus. Auf diesem Kolloquium wurde als Standpunkt der dort vertretenen DDR-Historiker festgestellt:

„Wir haben versucht zu zeigen, daß die Bewegung des 20. Juli ein sehr differenziertes Bild bot. Angehörige der herrschenden Klasse zumeist waren es, die sich aus alten traditionellen Vorstellungen lösen mußten, um gegen Verbrechen und Unmenschlichkeit in den eigenen Reihen aufzustehen. Für viele war dieser Lernprozeß sehr schwierig und schmerzhaft, vielfach blieb er auch durch Antikommunismus und elitäres Denken eingeschränkt oder wurde gehemmt. Die Tragik der Männer um Stauffenberg besteht darin, daß sie ohne wirksame Verbindung zu den Volksmassen und zum antifaschistischen Widerstandskampf des Vortrupps der Arbeiterklasse handelten, daß sie nicht oder erst spät vermochten, sich über jene Schranken und Denkweisen hinwegzusetzen, die sie hinderten, sich mit dem Volk und seinen fortschrittlichsten politischen Kräften zu verbinden. Da sie aber trotz aller Schwierigkeiten mutig handelten und ihr Leben opferten, um das Volk vor weiterem Unheil zu bewahren, gebührt ihnen allen unsere Hochachtung.“

Man kann über diese Einschätzung weiter diskutieren, insbesondere vielleicht über die Beziehungen der Verschwörung zu den Volksmassen, zu dem hier apostrophierten „Vortrupp der Arbeiterklasse“, womit natürlich die KPD gemeint war. Ich habe es zitiert, weil ich damals 1984 das Hauptreferat auf dem Kolloquium gehalten habe und auch meinen Erkenntnisstand zum Ausdruck brachte, zu dem ich nach wie vor stehe.

Bedrückend für die DDR-Historiker war etwas anderes. Im gleichen Jahr 1984 fand in West-Berlin eine repräsentative wissenschaftliche Konferenz mit internationaler Beteiligung zum Thema „Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler“ statt, zu der auch DDR-Historiker eingeladen waren. Doch es wurde wieder einmal auf „höherer Ebene“ entschieden, diese Einladung nicht anzunehmen. Mir persönlich wurde nur gesagt, dass politische Gründe eine Teilnahme nicht zuließen; welcher Art diese Gründe waren, ist mir bis heute nicht bekannt.

Inzwischen gab es weitere Untersuchungen und auch publizistische Arbeiten, auch zu Einzelpersönlichkeiten des 20. Juli, wie General Friedrich Olbricht, Werner Graf von der Schulenburg, General Henning von Tresckow – nach dem in Potsdam die ehemalige Priesterstraße benannt wurde, an der die Kaserne des Infanterieregiments 9 lag –, Prof. Dr. Adolf Reichwein, General Fritz Lindemann (über den eine größere Arbeit vorbereitet wird), Gutsbesitzer Carl Wentzel-Teutschenthal (mit dem sich Prof. Olaf Gröhler in kühner und gekonnter Weise befasst hat), Hans Graf von Hardenberg (über den das DDR-Fernsehen einen Dokumentarfilm ausstrahlt).

Wie schon angedeutet, befinden sich unter diesen Arbeiten mehrere Fernsehfilme, darunter auch der Film über die Frauen des Kreisauer Kreises (unter Mitwirkung der verehrten Frau Rosemarie Reichwein). Diese Filme fanden auch in der Bundesrepublik starke Beachtung, wie andererseits Filme von Irmgard und Bengt von zur Mühlen aus West-Berlin vom DDR-Fernsehen übernommen wurden.

Ich selbst habe Doktoranden bei der Anfertigung ihrer Dissertationen über Adolf Reichwein und Julius Leber betreut. Eine weitere Untersuchung, die sich aus speziellen Fragen aus dem Wirken Dr. Carl Goerdelers befasst, hat begonnen.

Nachdem schon seit Jahren der Pfarrer Kunzendorf in der Kirche in Potsdam-Bornstedt jährlich zum 20. Juli Gedenkveranstaltungen durchführt – zumeist in Anwesenheit von Teilnehmern und Hinterbliebenen, haben wir nun auch begonnen, leider sehr spät, das Thema „Potsdam und der 20. Juli 1944“ genauer zu erforschen und der Öffentlichkeit nahe zu bringen. Zusammen mit einer Doktorandin, die bereits nahezu alle Objekte in Potsdam, die mit dem 20. Juli 1944 im Zusammenhang stehen – Wohnhäuser, Kasernen und andere Bauten – fotografiert hat, haben wir einen Dia-Vortrag erarbeitet, den wir schon mehrmals der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Vorgesehen ist eine entsprechende Veröffentlichung, wofür uns allerdings noch die entsprechenden materiellen Voraussetzungen fehlen.

In der Geschichtswissenschaft in Ost und West ist nach wie vor die Frage offen, ob es eine Verbindung zwischen der Bewegung des 20. Juli und dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ in der Sowjetunion gegeben hat. Ich habe meine Meinung dazu in meinen Veröffentlichungen dargelegt. Man hat mir persönlich vorgeworfen, dass ich das Bestehen einer solchen Verbindung behauptet hätte. Das habe ich nie getan, ich habe nur behauptet, dass bei einflussreichen Persönlichkeiten wie York, Trott zu Solz, Lindemann, Mertz von Quirnheim, Tresckow und anderen die Absicht bestand, eine solche Verbindung zum NKFD aufzunehmen. Inzwischen gibt es neue Veröffentlichungen, insbesondere das Buch von Frau Ingeborg Fleischhauer „Die Chance des Sonderfriedens“, Berlin 1936. Dazu schrieb ich im Juli 1983 in einem Zeitungsartikel: „Aus jetzt zugänglichen Dokumenten des USA-Geheimdienstes geht hervor, Stauffenberg habe ‚in letzter Minute’ eine ‚Linkswendung’ vollzogen. Er habe erklärt, ‚in Verbindung mit dem Seydlitz-Komitee zu stehen und über Madame Kollontaj von dem Seydlitz-Komitee die Versicherung erhalten zu haben, Deutschland würde nicht völlig entwaffnet werden.’ Stauffenberg und seine engsten Mitarbeiter seien entschlossen gewesen, die (Ost-) Front unmittelbar den Russen zu öffnen, ohne sogar noch den Versuch zu wagen, mit ihnen zu verhandeln.“ Der Leiter des USA-Geheimdienstes William Donovan hielt diese Mitteilung seines Europa-Beauftragten für so wesentlich, dass er sie in einen Bericht für Präsident Roosevelt aufnahm.

Als ich das las, erinnerte ich mich meines Briefwechsels mit Herrn Hans Bernd Gisevius, der bis zu seinem Tode in der Schweiz lebte, im Zusammenhang mit meinen damaligen Forschungen Ende der 60er Jahre. Am 7. März 1969 hatte mir Gisevius in einem persönlichen Brief seine Aussagen über Stauffenbergs Wende nach Osten bestätigt und betont, dass Stauffenberg zwar erst gegen das „Seydlitz-Komitee“ gewesen sei, dass er aber „in den allerletzten Monaten, wenn nicht Wochen, umschaltete“. Das alles ist natürlich noch kein endgültiger Beweis und ich stehe nach wie vor zu dem, was ich 1988 in dem erwähnten Zeitungsartikel, auch gegen voreilige Bemerkungen von DDR-Historikern gerichtet, schrieb: „Den endgültigen Beweis für die Richtigkeit dieser Aussagen sowie Informationen über Inhalt und Formen der weiteren Verbindungen zwischen den Verschwörern vom 20. Juli und der Bewegung ‚Freies Deutschland’ können wohl erst entsprechende Veröffentlichungen aus sowjetischen Archiven bringen. Sicher ist aber, dass beiderseits der Front die feste Entschlossenheit zum gemeinsamen Kampf bestand.“

Insgesamt darf ich wohl sagen, dass wir in den letzten Jahren viel getan haben, um das wissenschaftliche Defizit zu diesem Thema zu beseitigen.

Ich will aber auch meine Sorgen nicht verhehlen. Angesichts der wachsenden Rechtsentwicklung und der Ketzerriecherei in der DDR, die schon wieder makaber an die Honecker-Zeit erinnert, sehe ich auch im Geschichtsdenken eine Tendenz, die es in der Bundesrepublik auch gab, die dort aber, so meine ich, überwunden ist: die Tendenz, die Kommunisten und andere linke Kräfte aus der Geschichte des deutschen Widerstandes auszugrenzen und dafür den 20. Juli zum alleinigen Ausdruck des antifaschistischen Widerstandes hochzustilisieren. Ich werde mich dieser Tendenz ebenso widersetzen, wie ich mich früher der Abwertung und Differenzierung des 20. Juli im Geschichtsbild der DDR widersetzt habe – solange ich die Möglichkeit dazu besitze!

Der 20. Juli 1944 war nicht der einzige Ausdruck des Widerstandes, aber er war eine Tat von nationalem und historischem Rang. Die zur Tat drängenden Männer des 20. Juli befanden sich im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit, im Einklang mit den Lebensinteressen des deutschen Volkes. Wir würdigen nicht nur den persönlichen Mut der Kämpfer des 20. Juli, wir würdigen auch ihren Einsatz für die Menschen. Ein Gelingen des Aufstandes hätte dem deutschen Volk und anderen Völkern gewaltige Opfer und Leiden erspart.

Lassen Sie mich schließen mit einem Wort von Heinrich Mann im Jahr 1963:

„Manifeste, die mit dem Tode besiegelt sind, haben Aussicht, unvergessen zu bleiben. Das nächste Mal wären sie im voraus bekannt, ein künftiger Widerstand gegen Gewalt fände Belehrte vor. Ein ganzes Volk, sobald es will, erinnert sich seiner achtungswertesten Kämpfer. Dann muss nicht mehr gestorben werden, die Vorigen hätten lieber lebend gesiegt.“