Der 20. Juli und das Widerstandsrecht des Volkes

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Alfred Weber

Der 20. Juli und das Widerstandsrecht des Volkes

Ansprache von Prof. Dr. Alfred Weber am 20. Juli 1954 in der Universität Heidelberg

Ich verstehe die heutige Gedenkstunde so, dass wir nicht bloß den heroischen Opfern des 20. Juli selbst eine Stunde des Besinnens widmen wollen, sondern dass wir unsere Besinnung ausdehnen wollen auch auf diejenigen namenlos Gebliebenen, die vorher und zum nicht geringen Teil auch nachher sich für die Freiheit hingegeben haben in der grauenhaften Terrorwolke, die über uns lag. Die heroischen Kämpfer des 20. Juli selbst sind ja nur die gewissermaßen in die große Geschichte hineinragende Spitze des an sehr vielen Plätzen und in sehr vielen verschiedenen Arten vorhanden gewesenen, zwar im ganzen unwirksam gebliebenen, aber allgemein gesehen doch großartigen Widerstandsverhaltens von Einzelnen und kleinen Gruppen, die schweigend untergingen, wie vom Nichts verschlungen, aber doch verehrungswürdig.

Mein Vorredner hat mit großer Beredsamkeit und tiefem seelischen Eindringen das Wesenhafte des großen Opferhandelns des 20. Juli selbst dargelegt, auf das wir uns vor allen Dingen hier besinnen sollen. Ich möchte das von ihm Gesagte schlicht ergänzen, indem ich zu der allgemeinen Frage Stellung nehme: Auf welchem Rechtsboden haben sowohl die berühmt gewordenen als die anonym gebliebenen den Widerstand Tragenden gehandelt? Und was bedeutet von diesem rechtlichen Boden her betrachtet ihr Handeln für uns heute? Mit anderen Worten, wie steht es um das Widerstandsrecht und die Widerstandspflicht, die man aus dem 20. Juli, seinen Vorstufen und Parallelerscheinungen entnehmen kann?

Es gibt ein gemein germano-romanisches Widerstandsrecht gegen politische Gewaltherrschaft, das so alt ist wie die germano-romanische Geschichte selbst. Formuliert schon von dem Mönch Mangoldt von Lauterbach 1082, fand es seine Ausgestaltung vor allem im ständischen Widerstandsrecht des hohen Mittelalters. Die englische Magna Charta ist nur die geschichtlich folgenschwerste von zahlreichen Ständeordnungen, die es fixierten. Entscheidend ist, dass es als ein vorstaatliches auf die später formulierte vorstaatliche Volkssouveränität gestütztes Recht verstanden wurde und wird, das jedem Einzelnen ebenso zusteht wie den Gesamtheiten, die eine sachlich privilegierte Stellung dafür haben. Als derartiges vorstaatliches Recht ist es nach den Verfassungen der Vereinigten Staaten und Frankreich und über das Common Law in die Rechtsüberzeugung der gesamten abendländischen Welt übergegangen, als ein rechtlich fundiertes Widerstandshandeln gegen Verfassungsverletzung durch Gewaltherrschaft ebenso wie gegen schweres völkerrechtswidriges Verhalten einer solchen.

Nur in der deutschen Rechtsauffassung, die von den Juristen des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, ward es ein nicht ursprüngliches und vorstaatliches, sondern erst durch Verfassungsbestimmungen geschaffenes und aus diesen abgeleitetes. Tell’s Wort von den Rechten, „die droben hangen unveräußerlich“, hatte in der deutschen Rechtsauffassung des 19. Jahrhunderts keine Geltung. Nach hundertjähriger Pause begannen die deutschen Juristen, und auch nicht einmal alle, erst auf Grund der furchtbaren Hitlerkrise sich auf dieses Recht in seinem ursprünglichen Charakter zu besinnen und ward es auch in einigen deutschen Verfassungen so formuliert.

Diese Tatsache hat, wie ohne Weiteres verständlich, und wie Sie auch den ausgezeichneten Ausführungen des Vorredners zum Mindesten indirekt entnehmen konnten, den Widerstandskampf gegen Hitler unendlich erschwert, für die inneren Entscheidungen ebenso wie für das äußere Handeln. Jeder Widerstandskämpfer musste sich erst in schwerem inneren Ringen zu etwas durchkämpfen, was im übrigen Abendland als ein natürliches Recht gegen Gewaltherrschaft angesehen wird. Man denke nur an den Eid, der gegenüber einem Verfassungsbrüchigen dort ohne Weiteres hinfällt, hier aber für seine Überwindung auch gegenüber brutaler und in Wahrheit gesetzloser Vergewaltigung eine nicht unbeträchtliche Anstrengung nötig macht. - Das sollte man sich, wenn man die große persönliche Leistung aller Widerständler würdigen will, für Deutschland immer wieder deutlich machen.

Das zweite, worauf ich aufmerksam machen möchte, ist, dass für die derart zum Widerstandsrecht Durchgebrochenen die Bedingungen und Möglichkeiten des Widerstandes in Deutschland völlig verschieden lagen, vor dem Ausbruch des Weltkrieges und nach seinem Ausbrechen.

Vor seinem Ausbruch lagen die Dinge, obgleich durch das raffinierte Terrorregime äußerlich unendlich erschwert, innerlich doch noch einfach, insofern der Widerstand, wenn überhaupt als notwendig erkannt, sich noch gewissermaßen auf normalen Bahnen bewegte, da er die internationale Position des Vaterlandes nicht zu berühren brauchte. Er konnte sogar vielleicht, wenn geglückt, seine Position verbessern, indem er dort gehegte Befürchtungen beseitigte, die Rangierung Deutschlands gleichsam wieder normalisierte.

Nach Ausbruch des Weltkrieges trat zu den innerpolitischen Konsequenzen die Schicksalsfrage hinzu; schädigte man durch den versuchten Umsturz die Lage Deutschlands im Krieg oder konnte man sie auch jetzt vielleicht durch ihn verbessern?

Das hat, nachdem sich durch internationale Fühlungnahme herausgestellt hatte, die Mächte würden auch bei einer Umwälzung Deutschlands keine besseren Bedingungen als ohne eine solche bewilligen, dazu geführt, dass bei den riesigen Anfangserfolgen Hitlers auch für diejenigen, die das schlimme Ende klar voraussahen, ein systematisch durchgreifendes Handeln erst dann möglich wurde, als für jeden Verständigen in der Bevölkerung klar ward, der Krieg sei verloren und durch Beseitigung Hitlers werde nur das schreckliche Ende abgekürzt. So ist es gekommen, dass erst nach der Niederlage und Kapitulation bei Stalingrad, also erst im Winter 42/43, als der weitere Ablauf klar erkennbar wurde, sich die verschiedenen über alle geistigen und praktisch entscheidenden Kreise verteilten Widerstandsgruppen zusammenfanden, um in Verbindung mit zentralen militärischen Stellen, den am 20. Juli 1944 versuchten großen Staatsstreich vorzubereiten und zu organisieren.

Es kann nicht oft genug wiederholt werden, was es schon rein äußerlich hieß, dass inmitten der deutschen Gestapo und des Blockwartsystems sich tatsächlich alle deutschen einzelnen Widerstandskreise, Vertreter des hochstehenden konservativen Adels und Beamtentums, Vertreter der Bekennenden Evangelischen Kirche und katholische Geistliche, Vertreter der von dem ehemaligen Minister Leuschner zu Widerstandsgruppen über das ganze Land hin organisierten gewerklichen Elite und im Konzentrationslager gewesene und unter strenger Bewachung stehende leitende junge Sozialdemokraten bis etwa Juli 1943 sich zu einer Staatsstreichorganisation zusammengefunden haben, die nicht nur eine künftige gemeinsame demokratische Verfassung, nicht nur eine Liste für die kommende Zentralregierung, sondern, unter Führung eben zentraler militärischer Kreise, die ja allein handeln konnten, einen Modus des Staatsstreichs und eine Zwischenregierung vorsah, die wirksames Handeln möglich machten. Man war wirklich vorbereitet zu handeln, sobald durch ein geglücktes Attentat seitens der zentralen militärischen Stelle die „Initialzündung“, wie man es nannte, zum Vollzug des Staatsstreichs gegeben wurde. Das war innerhalb des nazistischen Terrorsystems eine gewaltige Leistung.

Aber man darf nicht vergessen, diese, man kann sagen von der besten Elite, die Deutschland in letzter Zeit jemals hervorgebracht hat, von lauter geistig durchgebildeten, im Horizont überlegenen, charakterlich hochstehenden, absolut selbstlosen und zum eventuellen Opfertod entschlossenen Männern geführte Staatsstreichbewegung, die von den Arbeitern bis zu an zentraler Stelle stehenden Generälen führte, konnte erst spät handeln. Erst als die Niederlage wie gesagt offenkundig wurde. Und sie glaubte, nach vorangegangenen misslungenen Versuchen durch Zeitbomben und dergleichen Hitler zu beseitigen, ihren eigentlichen Schlag erst nach der Landung der Westmächte in Frankreich führen zu können. Wobei sie dann zudem, nebenbei bemerkt, in Zeitnot geriet, weil ihr Plan offenbar schon bei Himmler ruchbar geworden war.

Sie konnte also erst handeln, wenn durch ihr Handeln, gelang es, weiteres sinnloses Morden und weitere Zerstörungen wenigstens abgekürzt wurden, wenn es misslang, zum Mindesten die deutsche Ehre vor der Welt dadurch gerettet ward, dass man es durch seinen Lebenseinsatz von der Besudlung einigermaßen reinzuwaschen suchte. Am Ablauf des deutschen Schicksals aber vermochte dies Handeln nichts mehr zu ändern.

Das setzt die Bedeutung des Attentats nicht herab, weil es die absolut notwendige große Reinigung dargestellt hat, ohne die wir heute das Gesicht vor der Welt verhüllen müssten.

Aber man darf doch gleichzeitig fragen, hat es einen geschichtlich wirksam werdenden Widerstand in der Zeit vor dem Krieg, als das deutsche Schicksal durch ihn noch etwas ändern konnte, nicht gegeben?

Darauf ist zum Glück zu antworten: Doch! Ich will dabei nicht reden von dem Widerstand der Vielen, vor allem Jugendlichen, die durch Eidesverweigerung, durch Sabotage und in anderer Weise sich geopfert haben. Nicht von dem Handeln der Geschwister Scholl und ihrer Genossen. Auch nicht von dem so tapferen geistigen Widerstandsverhalten etwa der Pfarrer der Bekennenden Kirche oder katholischer Geistlicher. All das konnte, so mutig und ehrenwert es war und so charakterrettend es gewirkt hat, das Gesamtgeschick nicht wenden.

Aber diese Wendung ist tatsächlich vor dem Krieg von der Stelle her versucht worden, die machtmäßig allein dazu noch in der Lage war, von der Zentrale der Armee.

Als klar ward, dass Hitler den Streit mit der Tschechoslowakei über die sudetendeutsche Frage trotz aller Konzessionen, die ihm gemacht wurden, benutzen wollte, um widerrechtlich in die Tschechei einzumarschieren, und als der Generalität weiter bekannt ward, dass das nur der Beginn der dann folgenden weiteren Aggressionen sein sollte, als also die bewusste Entfesselung des Weltkrieges durch Hitler der Generalität unmittelbar sich darstellte, hat der damalige Chef des deutschen Generalstabs, Generaloberst Beck, in unaufhörlichen Memoranden an Hitler den Beschluss zum Einmarsch zu verhindern gesucht. Er ist, als er damit bei Hitler nicht durchdrang, gegen dessen Willen zurückgetreten. Aber nicht, um zu resignieren, sondern um alsbald den Versuch zu machen, über seinen Nachfolger Halder die Generalität zur Gehorsamsverweigerung zu bewegen. Und er hat, als er damit nicht durchdrang, in aller Eile bis zum September 1938 zusammen mit seinem Nachfolger Halder und einer Anzahl anderer entscheidender Militärs einen Plan für einen militärischen Staatsstreich nicht bloß entworfen, sondern durch praktische Schritte vorbereitet. Einen Plan, vermöge dessen Hitler entmachtet, festgesetzt und abgesetzt werden sollte. - Dieser Plan ist gescheitert, weil in dem Augenblick, als zwischen dem Kommandierenden General der um Berlin stationierten Truppen von Witzleben und Halder die letzten Besprechungen für seine Durchführung stattfanden, die Nachricht eintraf, dass Chamberlain bei Hitler in Godesberg gelandet sei.

Das Münchner Abkommen, das Hitler dann den Weg für sein späteres militärisches Handeln freilegte, wurde getroffen obgleich die deutsche Generalität die Engländer über ihre Antikriegshaltung ins Bild gesetzt hatte und vor dem Nachgeben ihm gegenüber gewarnt hatte. Mit dem Riesenerfolg, den dies Abkommen für Hitler darstellte, war natürlich der sonst zur Ausführung gekommene Staatsstreichplan der Generalität erledigt.

Weshalb erinnere ich an diese denkwürdige und erschütternde Tatsache, die Tatsache, dass durch den Widerstand des deutschen Generalstabs und seiner Umgebung das Fürchterliche des Weltkrieges um ein Haar abgewendet worden wäre, wenn die Alliierten der Generalität Vertrauen geschenkt hätten und sich dadurch stark genug gefühlt hätten, Hitlers Postulate abzulehnen?

Ich erinnere daran um darauf hinzuweisen, welche ungeheure ja weltentscheidende Bedeutung ein im rechten Augenblick einsetzender Widerstand haben konnte, der nicht durch die Schuld der Widerstandsbereiten, sondern durch Umstände nicht zum Vollzug kam, die außer ihrer Macht lagen.

Bedenkt man das, dann wird man die außerordentliche praktische Bedeutung eines richtig und ganz eindeutig verstandenen Widerstandsrechts und seiner rechtzeitigen Anwendung begreifen. Dieses Widerstandsrecht hat, wie man sieht, in Deutschland nicht nur die Bedeutung gehabt, dass es durch heroisch vollzogenes Opferhandeln seine Ehre vor der Welt wiederherstellte, als dies für sein sachliches Schicksal schon zu spät war. Wobei man (als diese Ehre Rettende) auch alle vor dem 20. Juli und nachher wegen ihres Widerstandes Hingeschlachteten vor sich sehen muss.

Es hätte uns auch vor dem Hinabstürzen in den Abgrund bewahrt und die Welt vor allem damit verbundenen Grauenhaften, wenn der Wille und das überlegte Handeln dieser Besten die Situation allein bestimmt hätten.

Mir scheint: Wie es angemessen ist, dass wir vor den in die Tausende gehenden Widerstandsopfern, die unsere Ehre gerettet haben, uns in Ehrfurcht beugen, so ist es ebenso angemessen, dass wir vor den Widerstandskämpfern, die durch rechtzeitiges Handeln uns und die Welt vor dem Schlimmsten bewahren wollten und beinahe auch bewahrt haben, lernen.

Wir können von ihnen lernen, was Widerstand eigentlich heißt: Nämlich rechtzeitig, sei es nun, dass es sich um Verfassungsbruch, sei es, dass es sich um bewusste Zerstörung des Völkerrechts handelt, nicht nur innerlich sich zu entscheiden, sondern auch zu handeln; auf je verantwortungsvollerer und entscheidenderer Stelle um so klarer, um so systematischer und gründlicher und ohne Rücksicht auf die eigene Person.

Wenn wir dies von den Männern um den 20. Juli und ihren Vorbereitern lernen, so ist das der sicherste Zukunftsschutz für unser Menschentum und unsere Freiheit.

Beiden also, denen, die sich ohne Hoffnung hingeopfert haben und denen, die das Schicksal rechtzeitig zu wenden suchten, - sie sind im übrigen auch sämtlich hingeschlachtet worden - Ehre!

Das im Folgenden in Erinnerung Gebrachte darf nicht dazu verwendet werden, um im gegenwärtigen Meinungsstreit der einen oder anderen Partei irgend ein Argument an die Hand zu geben oder gar die Generäle, die unverantwortliche Kriegsverlängerer waren oder Scheußlichkeiten in den von ihnen besetzten Gebieten oder im Kampfe zu verantworten haben, zu entschuldigen. Es ist die objektive Konstatierung eines Handelns, das denen zum Ruhm gereicht, die damals an entscheidender Stelle standen. Und es wäre unfair, diese Konstatierung wegen der Gefahr propagandistischer Missdeutung zu unterlassen oder abzuschwächen.






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20.07.1954
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