Erbe und Verantwortung

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Paul Graf York v. Wartenburg

Erbe und Verantwortung

Ansprache von Paul Graf York v. Wartenburg am 20. Juli 1954 in der Universität Heidelberg

Eure Magnifizenz, Meine Damen und Herren! Es ist mir die große Auszeichnung zuteil geworden, vor Ihnen zu sprechen aus Anlass des zehnten Jahrestages des 20. Juli 1944.

Messe ich an dieser Aufgabe meine Fähigkeiten, so überkommt mich - ich gestehe es - ein Zagen. Denn man müsste ein Sänger der Vorzeit sein, um aus dem Wissen von den Mächten der Finsternis und des Lichtes den Erzfeind allen Menschentums und dawider den Helden beschwören zu können, so dass das Herz des Hörers erbebt, wenn vor seinem Ohr und Auge der ungleiche Kampf anhebt, der um seine Sache, der um sein Menschenantlitz geführt wird.

Das Gezänk und Gegeifere um die erhabene Tat des 20. Juli 1944, es würde vor dem mündigen Munde verstummen, der gültig auszusagen vermöchte, was eigentlich unter uns sich ereignete.

Meiner Rede ermangelte diese Gewalt und so mag sie leicht als das Wort eines Parteigängers gehört werden, mag sie kränken, wo sie die Dinge beim Namen nennt, mag sie Herzen verschließen, wo sie sie öffnen möchte.

Und dennoch! Es muss der Hintergrund sichtbar werden, der Hintergrund heute und hier, vor dem sich die Tat der Verschworenen abhebt, jene Tat, die uns selbst jeden Augenblick neu vor eine Entscheidung stellt.

Meine Damen und Herren! Was soll diese Feierstunde? Ist sie eine Totenehrung, ist sie ein kurzes Verweilen bei einer schon Geschichte gewordenen Vergangenheit? Oder sind wir gekommen, ein Bekenntnis abzulegen, uns laut und vernehmbar zu den Gehenkten zu bekennen, uns neben ihre entehrten geschändeten Leiber zu stellen? Sind wir gekommen, an dem lebendigen Geiste dieser Toten unsere schwelende Fackel neu zu entzünden, ihr Vermächtnis anzunehmen, um es weiter zu tragen?

Ist es dies, was uns zusammenführt - und das allein entspräche dem Sinn einer solchen Feierstunde -, so müssen wir wissen: An der Tat des Grafen Stauffenberg werden sich für lange Zeit die Geister in unserem Volke scheiden. Sie wird, sie muss - sie soll als ein Stein des Anstoßes dem selbstgerechten Moralisten und dem blinden Nationalisten im Wege liegen und sie soll dem Menschen, dem es um seine Seele, dem es um die Seele seines Volkes zu tun ist, sie soll ihm zeigen, welch furchtbare Gestalt das Opfer annehmen kann, zu dem er bereit sein muss.

Schuld und Erbärmlichkeit erheben sich unter uns und wollen unter Berufung auf Eid und Ehre anrüchig machen, was aus sich selber leuchtet.

Lauscht man diesen Stimmen, so gebührte dem Oberkommandierenden in Stalingrad der Preis echten Soldatentums, weil er seinen toten Gehorsam wider bessere Einsicht über die richtige militärische Entscheidung, über das Wohl einer Viertelmillion junger Menschen stellte, die ihm sein Volk, die ihm Mütter und Frauen anvertrauten.

Welch Knechtessinn brüstet sich hier unbelacht mit Eid und Ehre! Welch aberwitzige Absurdität stolziert hier im Gewande des Soldatentums! Als wenn es überhaupt eine Tugend geben könnte, die außerhalb einer allgemeinen gültigen Wertordnung ihren Platz hätte, eine Tugend, die nicht zugleich hingeordnet wäre auf einen metaphysischen Seinsverhalt.

Und da sind noch andere Stimmen, dümmere und weniger gefährliche; sie wagen es angesichts unserer zerbombten Städte, angesichts der Kapitulation in Stalingrad und Afrika, angesichts der Landung in der Normandie und Italien, der zehnfachen Übermacht unserer Feinde vom schmählich vereitelten Endsieg zu faseln. Ihr Geschrei ist nicht ernst zu nehmen - aber haben wir den Mut ihnen zu sagen, dass ihr Endsieg unter allen Umständen hätte vereitelt werden müssen? Denn was hülfe es dem Menschen, was hülfe es einem Volke, so es die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.

Und schließlich die Millionen derer, die nicht mehr wahrhaben wollen, was an himmelschreienden Verbrechen im Namen des deutschen Volkes, von deutschen Händen verübt wurde und die nun schlechten Gewissens und scheelen Auges die Erinnerung an die unbequemen Mahner tilgen möchten.

Stellen wir uns neben die Toten, denen diese Stunde gilt, so stehen wir gegen ein Heer von Menschen, für die fünf Millionen hingemordeter Juden, vierzig Millionen Kriegsopfer, für die ein grausiges Erlebnis von Terror, Ruchlosigkeit und Verbrechen nicht zählen, weil sie persönlich Recht behalten wollen; so stehen wir gegen die Menschen, welche die Schurken von Nürnberg und Landsberg, die Henker von Oradour und Struthof am liebsten zu Nationalhelden machten, nur, weil sie mit ihnen den deutschen Namen teilen. Stellen wir uns neben die Toten, denen diese Stunde gilt, so stehen wir gegen alle die Deutschen, welche die Vergehen der Sieger mit Genugtuung registrieren, um an ihnen Genossen ihrer Schmach zu haben. Stellen wir uns neben die Toten, denen diese Stunde gilt, so stehen wir gegen eine Welt, die nur eines anbetet: den sinnfälligen Erfolg; stehen wir gegen eine Welt, für die der Gescheitere peinlich ist und das Außerordentliche zweifelhaft; gegen eine Welt, deren Mitgefühl Halt macht vor der Schmach.

Freilich, Galgen und Strang sind keine Orden und Ehrenzeichen, die den patentierten Helden ausweisen, und das Bild des Gehenkten beflügelt nicht die Phantasie; es erregt Abscheu.

Angesichts des Galgens müssen wir uns schon darauf besinnen, dass Gott selbst die Wertordnung der Welt verkehrte, wenn er das Symbol der Schmach in das Zeichen des Heiles wandelte. Aber das Ärgernis des Kreuzes ist darum nicht aus der Welt und nur eine fromme Zeit hat es gewagt, es dem Beter im Realismus des Kultbildes vor Augen zu stellen - die Nachfahren haben es schon ins Dekorative oder Sentimentale verkehrt.

Darum, stellen wir uns neben die Gehenkten des deutschen Widerstandes -, so stehen wir selbst im Schatten des Galgens und werden der Nation zum Ärgernis.

Die mannhafte Erhebung des ostdeutschen Arbeiters gegen seinen Unterdrücker festlich zu begehen, den 17. Juni zu einem nationalen Feiertag zu erklären -, das tut man mit Fug, aber man kann es auch wagen, weil die Nation in dieser Tat sich selber wiederfindet. Der 20. Juli 1944 hingegen, unpopulär wie er ist, wird nicht durch die Beflaggung der Amtsgebäude als nationales Ereignis von Rang dem Volk in Erinnerung gebracht.

Wie lange hat es nicht gedauert, bis die bitterste Not der Witwen und Waisen dieser Männer gestillt wurde; wie lange, bis ein Gesetz ihre Ansprüche regelte! Es erschien vordringlicher, die Rechte der eliminierten nationalsozialistischen Beamtenschaft wahrzunehmen.

In welcher Schule hängt ein Bild des Grafen Stauffenberg der Jugend zur Mahnung?

Aber das ist nur ein Teil unserer nationalen Wirklichkeit; er ist beschämend genug. Doch wie vieles gibt es in der politischen Entwicklung seit 1945, das der Forderung nicht Stand hält, die das geistige Erbe der Männer des 20. Juli 1944 für uns bedeuten sollte. Von ihren Konzeptionen ist in unserer staatlichen und sozialen Neuordnung so gut wie nichts verwirklicht worden; aber weit schwerer wiegt, dass die große Besinnung ausgeblieben ist, deren Wegbereiter sie sein wollten. Abhold dem Nationalismus, abhold der Seelen mordenden Übermacht des Staates, abhold der Anonymität politischer und wirtschaftlicher Machtgruppen, abhold der Suprematie der Wirtschaft, abhold allen Klassenvorurteilen und Ansprüchen hatten sie den Gefahren unseres Zeitalters für den Menschen in einer Reform begegnen wollen, die dem vom Massenwahne bedrohten Einzelwesen wieder übersichtliche Lebensbezirke und Verantwortungsbereiche zuwies, der Selbstverwaltung Raum gab, die Integration des Arbeiters in den abendländischen Geschichtsraum, in die bürgerliche Gesellschaft und in den Betrieb vollziehen sollte.

Aus dem bedrückenden Erlebnis der Ideologie des totalen Staates, aus dem Erlebnis des Massenmenschen heraus waren sie neu und ganz ergriffen worden von der Vorstellung vom Wesen des Menschen, welche die Grundlage der abendländischen Kultur ausmacht. Die Einmaligkeit, die Verantwortlichkeit, die Jenseitsbezogenheit der Person war ihnen neu bewusst geworden und die Freiheit des Menschen, sie erschien ihnen ganz auf das personale Gewissen bezogen und nur als Kehrseite einer letzten Bindung. Diese Entdeckung ist zugleich das Geheimnis ihrer sittlichen Kraft, der Antrieb für ihre Tat.

Aus welchen Lagen sie auch immer sich zusammen fanden, die Beck, Goerdeler und Popitz; die Leuschner, Haubach, Mierendorff; die Delp, Bonhoeffer und Perels; die vielen Träger alter geschichtsträchtiger Namen, sie alle einte das Wissen um ihre Verantwortlichkeit für das grausige Geschehen um sie herum. Sie wussten um die Schicksals- und Schuldverflechtung der Menschen, wussten darum, dass der Einzelne sich nicht einen Fleck aussparen kann, auf dem er rein und unberührt von dem Weltgeschehen schuldlos bleibt. Sie wussten, dass ihr Kampf um die Freiheit, um die Würde des Menschen, um die sittlichen Grundlagen staatlichen Handelns in der eigenen Verantwortlichkeit allein seine Rechtfertigung fand.

Diese Männer wuschen nicht ihre Hände in Unschuld, sie traten nicht als Richter auf den Plan, sondern es war ihr Aufstand gegen die Obrigkeit zugleich ein Prozess der Selbstreinigung, der das Angebot des eigenen Opfers gleichberechtigt neben den Erfolg stellte. Ja, je mehr die Aussicht auf eine Verwirklichung des Umsturzes schwand, desto drängender erwuchs in ihnen das Bedürfnis mit dem eigenen Leben Sühne zu leisten.

Einer der edelsten unter den Verschworenen, der General von Tresckow, er wurde nicht müde zu wiederholen, dass die Tat gewagt werden müsse auch ohne Aussicht auf Erfolg, weil sie ein Gebot der Ehre sei.

Und dabei waren sich die Verschworenen der Komplexität des Problems stets bewusst. Alle diese Argumente, die ihnen über das Grab hinaus von den unentwegt Korrekten vorgehalten werden, sie hatten ihre Seelen hundertmal durchzogen; und mochten sie mit ihren Kritikern die personelle Bindung an das Staatsoberhaupt auch nicht teilen, so wussten sie um vieles tiefer, weil leidvoll durchlitten, um die Gültigkeit der Rechtsnorm wie um Gottes Gebot.

Darin bestand ja gerade der Konflikt, den jeder Einzelne in sich auszufechten hatte, dass allein der Mord, allein die verabscheute Gewalt den Verbrechen der Staatsführung, den Leiden von Millionen Einhalt gebieten konnte.

Im Namen des Rechtes, der Sittlichkeit, der Ehre, ja des Gehorsams vor Gott, fühlten sich diese Männer immer dringlicher zu einer Tat gemahnt, die in sich selbst den Normen von Recht, Sittlichkeit und Ehre, die dem Gebote zuwider war. Ihre Glaubwürdigkeit, die Lauterkeit ihrer Absicht stand damit in Zweifel und die Unverletzlichkeit des ordo, um den es ihnen ging.

Die führende Soldaten unter ihnen, die Herren von Witzleben, Höppner und andere, sie hatten sich darum im Bewusstsein der Ausweglosigkeit solchen Konfliktes durch Ehrenwort untereinander gebunden, nach gelungenem Staatsstreich ihren Abschied zu nehmen und kein Amt mehr zu bekleiden.

Ermessen wir die Tragik solch inneren Kampfes, aber auch die Größe des Sieges? Keine Ambition, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit des Gelingens forderte den Verschworenen die Entscheidung ab. Sie mussten verleugnen was sie waren, mit ihren Urteilen brechen, ihre Ehre außerhalb der Gesetze ihres Standes suchen, in eine letzte Einsamkeit vordringen, ehe sie durchgeglüht und von allen Affekten gereinigt zur Tat schritten.

Sehr sorgfältig, sehr exakt in der Vorplanung gingen sie zu Werke. Aber sieht man von dem Elan des Grafen Stauffenberg ab, jenes mutigen Offiziers, der ein Auge, einen Arm und zwei Finger der anderen Hand im Afrikafeldzug eingebüßt hatte und sich dennoch zum Attentat erbot; sieht man ab von dem geglückten Putsch in Paris unter dem Kommando des Generals von Stülpnagel, - so mag man den Eindruck davontragen, dass die Verschworenen fast wie medial ihren Auftrag vollstreckten, dass der große Verzicht, der ihnen abgefordert war, ihrer Tat den Schwung nahm, dass vor ihren Seelen nur noch die Notwendigkeit des Opfers stand.

Von dem Erbe der Ahnen, dem inneren Auftrage, von der erstrittenen Gewissheit mag nicht alles Stand gehalten haben, als ihre zuckenden Leiber sich zu Füßen ihrer Folterknechte wanden, als sie durch tausendfache Qualen gebrochen vor ihrem Richter standen. Sie aber, die durch alle Torturen schritten ehe sie unter dem Galgen Halt machten - dort standen sie als Überwinder. Was sie zu geben hatten, hatten sie dargebracht: ihr Leben, das Glück der Ihren, ihre Ehre. Und nun konnten sie in der Freiheit derer, die nichts mehr ihr Eigen nennen, keinen Wunsch und keine Sehnsucht, auf die Jahre zurückblicken, da der Eidbruch und die Meintat vor ihren Seelen war, tausendmal verworfen und tausendmal sich darstellend als der einzige Weg zur Rettung von Millionen, zur Rettung des geschändeten Vaterlandes.

Der Verantwortung ledig und ledig einer Bürde, die sie als Erben solcher Hinterlassenschaft mehr und mehr in Konflikte hätte bringen müssen mit der Wertordnung, um die es ihnen ging, strebten sie mit allen Fibern nur noch DEM entgegen, dessen Gemeinschaft im Sakramente des Altares ihnen schnöde Niedertracht vorenthielt.

Alles war verwandelt; das von Schergen besudelte, zerstörte Ich in strahlender Reinheit wieder hergestellt, ehe sie den Gang zum Galgen antraten. Dahin waren Bitterkeit und Hass, Rachsucht und Menschenfurcht, - die Liebe hatte sie ergriffen und prägte ihre Abschiedsworte zu leuchtenden Zeichen verklärten Menschentums. Es ist die brennende, Schuld und Leiden verzehrende Liebe, die ihr letztes Vermächtnis ist. Kein Programm und keine billige Weisheit - aber hier wird der Bogen sichtbar, der zeitliche und ewige Bestimmung des Menschen zusammenfasst.

So kann von ihrem einsamen, verlassenen Sterben gesagt werden, was der Graf Matuschka auf seinem letzten Gange aussprach: "Es ist Gnade am Feste der Kreuzerhöhung, für die Ehre seines Vaterlandes gehängt zu werden." Ja Gnade!

Denn ihr Tod ist ein Fanal, leuchtend über alle Zeiten, ist ein letztgültiges Siegel unter menschliche Vollendung - und er ist noch sehr viel mehr.

Für den, der Augen hat zu sehen, wird hier etwas sichtbar von dem Geheimnis der Stellvertretung, von dem die Religionen in schwer zugänglichen Gleichnissen reden. Wenn wir als Nation den Zusammenbruch überstanden, wenn wir heute leben, anstatt in den Gaskammern zu verröcheln, die wir für unsere Opfer bauten;

wenn Deutschland in der Welt wieder Fuß fasst; wenn wir unser Haupt in Schmach nicht verhüllen müssen, - so doch nur, weil es Männer und Frauen gab, die mit ihrem Leben für die unvergängliche Ordnung zeugten, die sich unter das Joch eines blutrünstigen Tyrannen nicht beugten, die sich zum Opfer darbrachten;

so doch nur, weil - wir dürfen es hoffen - Gott dieses Opfer angenommen hat.

Um ihretwillen, allein um ihretwillen, mögen wir mit dem sterbenden Stauffenberg in der Stille unserer Herzen zuversichtlich ausrufen: "Es lebe das ewige Deutschland!"






Weitere Reden

20.07.1954
Prof. Dr. Alfred Weber